Kinderschutz bei hochstrittiger Elternschaft
Kinder und Jugendliche stärken und schützen
Ausgangssituation
Jedes Jahr sind etwa 170.000 Kinder und Jugendliche von der Scheidung ihrer Eltern betroffen, hinzu kommen Tausende von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern sich in einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft trennen. Etwa 30.000 Kinder und Jugendliche erleben eine sog. "hoch strittige Elternschaft" im Kontext der Trennung/Scheidung. In diesen Fällen scheitern Versuche der gerichtlichen wie außergerichtlichen Regulierung von Sorgerecht und Umgang regelmäßig. Das anhaltend hohe Konfliktniveau zwischen den Eltern gilt für die betroffenen Kinder und Jugendlichen - wie einschlägige Forschungsstudien belegen – als riskante Entwicklungsbedingung, die häufig in eine tatsächliche Gefährdung und Schädigung des Kindeswohls mündet
Noch liegt über diese Elterngruppe, die ihren Kindern einen langjährigen psychischen Ausnahmezustand zumutet, in Deutschland kaum gesichertes Wissen vor. Definitionen lehnen sich an US-amerikanische Referenzen an. Eine Kurzdefinition von Kelly (2003) mag genügen: „… bleibt das Konfliktniveau … über Jahre konstant hoch und zeigen zudem gerichtliche wie außergerichtliche Interventionen kaum Effekte, kann von Hochstrittigkeit der Eltern gesprochen werden“.
Dysfunktionales Elternverhalten belastet das emotionale Klima nach allerdings methodisch wenig gesicherten Schätzungen in etwa jeder 15. deutschen Trennungs-/Scheidungsfamilie. Diese Extremgruppe bindet regelmäßig, Professionelle aus dem System der Jugendhilfe und Familiengerichtsbarkeit in großer Zahl und mit intensivem Aufwand (Alberstötter, 2004 und 2006). Fallverlaufsanalysen zur Anzahl der im Verlauf einbezogenen Fachkräfte und zum Ausmaß gebundener Ressourcen genauer liegen bislang nicht vor. Entsprechend können auch die nicht unerheblichen Kosten im Rahmen familiengerichtlicher Verfahren - oftmals zu Lasten der Justizkasse - nicht genauer abgeschätzt werden (beispielsweise für Verfahrenspfleger, familienpsychologische Gutachten). Da flankierend auch Leistungen der Jugendhilfe abgerufen werden (beispielsweise Begleiteter Umgang nach § 18 SGB VIII, Umgangspflegschaft nach §1909 BGB, Angebote nach § 35a SGB VIII), fallen hier ebenfalls nicht genauer abschätzbare Kosten an. Zudem lassen Praxisberichte vermuten, dass Interventionen häufig ohne dauerhaft konfliktklärende oder zumindest konfliktmindernde Wirkung bleiben. Genauere Aussagen zu Wirkungen üblicher Vorgehensweisen in Fällen hochkonflikthafter Trennungs- und Scheidungsprozesse sind gegenwärtig nicht möglich. Während die durchschnittlichen Folgen von Trennungsverläufen für die kindliche Entwicklung innerhalb der Scheidungsfolgenforschung relativ erforscht sind, ist die empirische Basis im Hinblick auf Hochkonfliktfamilien eher schmal.
Aktuelle Befunde, beispielsweise aus der Studie „Familienentwicklung nach der Trennung“ (Walper, 2005), weisen auf durchgängig negative lineare (Haupt-)Effekte von elterlichen Konflikten hin, etwa im Hinblick auf Peerablehnung, Depressivität, Selbstwertprobleme, körperliche Beschwerden, misslingende Peer-Integration. Dies bedeutet, dass in den vorliegenden Studien mit zunehmendem elterlichen Konfliktniveau auch stärkere Belastungen bei betroffenen Kindern beobachtet wurden. Es liegen erste, nicht systematische Studien dazu vor, auf welche Weise Belastungswirkungen elterlicher Konflikte zustande kommen (z.B. über Beeinträchtigungen der Erziehungskompetenzen, Belastungen der emotionalen Sicherheit betroffener Kinder). Diese Befunde lassen, ebenso wie einzelne klinisch orientierte Studien, vermuten, dass Kinder aus Hochkonfliktfamilien deutlichen Entwicklungsrisiken ausgesetzt sind. In welchem Ausmaß sie tatsächlich schwere und langfristige Entwicklungsprobleme zeigen, ist gegenwärtig nicht bekannt.
Für einige betroffene Minderjährige muss sogar vom Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung i. S. des § 1666 BGB ausgegangen werden. Es ist zwar nicht bekannt, wie viele Kinder und Jugendliche aus Hochkonfliktfamilien von Kindeswohlgefährung betroffen sind und in welcher Weise sich Gefährdungen bei ihnen äußern. Angesichts von derzeit (2004) jährlich 168.000 durch die Scheidung ihrer Eltern betroffenen Minderjährigen, zu denen eine gleiche Trennungsrate unterstellt noch etwa 10.000 Minderjährige aus nichtehelichen Lebensgemeinschaften (vgl. Teubner, 2004) hinzurechnen sind, kann geschätzt werden, dass jährlich 10-15.000 Kinder und Jugendliche neu von anhaltender Hochstrittigkeit ihrer Eltern betroffen. Da die Hochstrittigkeit der Eltern in der Regel über mehrere Jahre anhält, sind in kumulierter Perspektive derzeit schätzungsweise etwa 50.000 Kinder und Jugendliche aktuell betroffen. Auch für sie muss der Schutzauftrag aus § 8a SGB VIII sinngemäß Anwendung finden.
Die Dynamik dieser besonderen Konfliktkonstellationen und emotionalen Spannungen stellt das Gesamtsystem der Jugendhilfe vor erhebliche Herausforderungen. Bis zur Kindschaftsrechtsreform gründete die fachliche Arbeit der Erziehungs- und Familienberatungsstellen in der großen Mehrzahl der Fälle auf der freiwilligen Inanspruchnahme durch die Ratsuchenden. Nach der Kindschaftsrechtsreform blieben nur solche Verfahren gerichtsanhängig, in denen (von einem oder beiden Elternteilen) ein Antrag auf Entscheidung über das Sorge- bzw. Umgangsrecht gestellt wird. Die Erfahrung zeigt, dass in diesen Konstellationen gerichtliche Entscheidungen keineswegs immer befriedend wirken. Deshalb werden Erziehungs- und Familienberatungsstellen auch bei hoch strittigen Eltern zunehmend häufiger durch die Familiengerichte einbezogen.
Singuläre Interventionen wie Umgangsbegleitungen, traditionelle Beratungsangebote, Einzeltherapien und Mediationen allein zeigten kaum den gewünschten Erfolg, ebenso wenig wie aus dem Stand heraus entwickelte integrative Konzepte, die diese Maßnahmen miteinander verknüpften. In lokalen Initiativen fehlen bislang gesicherte Informationen über Möglichkeiten adäquater Diagnostik, verlässlicher Prognosen und erprobter Indikationsstellungen. Jedoch wurden teilweise erfolgreiche fachübergreifende, funktionale Kooperationsbeziehungen zwischen der interventionsführenden Stelle, der Familiengerichtsbarkeit und weiteren beteiligten Diensten entwickelt. Wenn der Praxis der Jugendhilfe solche Interventionsansätze für hoch strittige Familien, die sich bewährt haben, zur Implementation empfohlen werden sollen, ist ein systematisierender und bewertender Überblick unumgänglich.
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