Kinderschutzkarrieren
Rekonstruktion von organisationalen Entwicklungen, Gefährdungserfahrungen, diagnostischen Vorgehensweisen, Interventionen und biografischen Verläufen in einer westdeutschen Großstadt 1985-2014
Der organisational prozessierte Kinderschutz ist seit einigen Jahren in den Mittelpunkt der fachpolitischen und öffentlichen Diskussionen zur Kinder- und Jugendhilfe gerückt. Im Gegensatz zum internationalen Forschungsstand (Afifi u.a. 2018; Alaggia u.a. 2015) fehlt es in Deutschland bisher an empirisch fundierten Analysen zur Entwicklung des organisationalen Feldes des Kinderschutzes und zu Verläufen sogenannter Kinderschutzkarrieren, welche die langfristige Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Kinderschutzinterventionerfahrung umfasst. Diese längsschnittlich ausgerichtete Perspektive ist allerdings von Bedeutung um die Auswirkungen der im Kinderschutz zunächst kurzfristigen Wirkintention (Abwendung von Kindeswohlgefährdung) auf die mitunter biografisch folgenreichen Interventionsformen (z.B. Sorgerechtsentzug oder Fremdunterbringung) zu untersuchen. Insgesamt liegen bisher wenig differenzierte Erkenntnisse über die langfristigen (Aus-)Wirkungen staatlichen Schutzhandelns auf die spätere Lebenssituationen und -perspektiven junger Menschen in Deutschland vor.
Das Projekt Kinderschutzkarrieren, gefördert durch die Deutsche Forschungsgesellschaft, zielt darauf ab, das organisationale Prozessieren und die dadurch beeinflussten Lebensverläufe am Beispiel des öffentlichen Kinderschutzes einer westdeutschen Großstadt zu rekonstruieren und kontextualisierende Entwicklungspfade herauszuarbeiten.
Im Detail werden die folgenden drei Teilziele für die untersuchte Großstadt in Westdeutschland bearbeitet:
Historische Entwicklung des organisationalen Feldes des Kinderschutzes unter Berücksichtigung der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen (Gilbert u.a. 2009);
Fallbezogene Rekonstruktion der Arbeitsabläufe, Verfahren und Instrumente des Kinderschutzes im biographischen Prozess;
Lebens-, Bildungs- und Beziehungssituation, Gesundheit und biographische Verarbeitung nach Kinderschutzintervention.
Die Analyse biografischer Verläufe und Hilfekarrieren ermöglicht es, die Wahrnehmung von Schutzmaßnahmen retrospektiv aus Sicht der Betroffenen herauszuarbeiten. In Kombination mit der Erhebung der aktuellen Lebenssituation kann damit erstmals beschrieben werden, wie sich Kinder und Jugendliche nach Kinderschutzinterventionen in Deutschland entwickeln (Link zur Befragung finden Sie hier).
Die zu erwartenden Befunde liefern wichtige Erkenntnisse zur organisationalen Herstellung des Kinderschutzes hinsichtlich:
der (Weiter-)Entwicklung von Konzepten,
handlungsleitenden Orientierungen und Interventionsformen,
Arbeitsabläufen und Verfahren,
Problemkonstruktionen und Diagnosen sowie
interorganisationaler Kooperation und multiprofessioneller Zusammenarbeit im Kinderschutz.
Das Projekt wird in Kooperation der Fachgruppe F3 - Familienhilfe und Kinderschutz (Abt. Familie und Familienpolitik) mit der Universität Koblenz-Landau (Herr Prof. Schrapper) durchgeführt.
Afifi, Tracie O./McTavish, Jill/Turner, Sarah/MacMillan, Harriet L./Wathen, C. Nadine (2018): The relationship between child protection contact and mental health outcomes among Canadian adults with a child abuse history. In: Child Abuse & Neglect, 79. Jg., S. 22–30
Alaggia, Ramona/Gadalla, Tahany M./Shlonsky, Aron/Jenney, Angelique/Daciuk, Joanne (2015): Does differential response make a difference. Examining domestic violence cases in child protection services. In: Child & Family Social Work, 20. Jg., H. 1, S. 83–95
Gilbert, Ruth/Kemp, Alison/Thoburn, June/Sidebotham, Peter/Radford, Lorraine/Glaser, Danya/MacMillan, Harriet L./(Keine Angabe) (2009): Recognising and responding to child maltreatment. In: The Lancet, 373. Jg., H. 9658, S. 167–180