Unrechtserfahrungen von Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Unterbringungen durch das Jugendamt der Landeshauptstadt München
(1945 bis 1990)
Das Projekt soll Unrechtserfahrungen aufarbeiten, die Kinder und Jugendliche zwischen 1945 und 1990 durch Institutionen der Stadt München erleiden mussten. Dabei liegt der Fokus auf dem kommunalen Jugendamt, das Kinder und Jugendliche in Heimen sowie in Pflege- und Adoptivfamilien unterbrachte. Ein Ziel des Projekts ist, den von Missbrauch und Gewalt betroffenen Menschen eine öffentlich wahrgenommene Stimme zu geben. Dies soll dazu beitragen, in Kindheit und Jugend individuell erlittenes Unrecht, das jahrzehntelang verschwiegen und tabuisiert wurde, gesellschaftlich anzuerkennen (Unabhängige Kommission 2022). Ein zweites Ziel besteht darin, ein systematisches Verständnis davon zu erlangen, in welchem Ausmaß und mit welchen Ursachen die Rechte und der Schutz von Kindern und Jugendlichen in Fremdunterbringung missachtet wurden. Dabei soll möglichst genau aufgeklärt werden, welche administrativen Strukturen, organisationalen Kulturen und personellen Verantwortlichkeiten innerhalb der Münchner Stadtverwaltung die Taten begünstigt und ermöglicht haben (Schrapper und Schröer 2021). Darauf basierend werden Handlungsempfehlungen entwickelt, die den Schutz von Kindern und Jugendlichen in familienersetzender Betreuung in Zukunft verbessern sollen.
Die Analysen gehen drei Fragekomplexen nach:
- Was haben die Betroffenen erlebt? Welchen Formen von Gewalt waren sie ausgesetzt, und von wem ging die Gewalt aus? Welche Erlebnisse von Einschüchterung, Ausgrenzung oder Abwertung machten die Kinder und Jugendlichen in ihren Betreuungskonstellationen? Wurden sie primär als Objekte der Verwahrung und Besserung betrachtet oder hatten sie Chancen auf emotionalen Rückhalt und individuelle Förderung und Bildung? Gibt es Berichte von Betroffenen, dass Fachkräfte von Gewalt und Missbrauch wussten, aber nicht interveniert haben? Nehmen Betroffene im Rückblick an, dass es ein "Missbrauchsnetzwerk" von Tätern gab, die miteinander kooperiert haben?
- Wie traten die Mitarbeiter:innen der verschiedenen Organisationseinheiten des Münchner Jugendamts den Betroffenen gegenüber? Erlebten die Kinder und Jugendlichen, dass die familienersetzenden Einrichtungen (Heime, Pflege- und Adoptivfamilien) durch das Jugendamt kontrolliert wurden? Lässt sich feststellen, dass Mitarbeiter:innen städtischer Heime untereinander auch im Fall von Gewalttaten loyal waren? Hatten die Betroffenen die Vermutung, dass gewalttätiges Personal versetzt wurde, wenn Taten zu offenkundig wurden?
- Welche langfristigen Folgen beschreiben die Betroffenen? Welche Reaktionen gab es gegebenenfalls bei späteren Kontakten mit dem Münchner Jugendamt? Wurde beispielweise Unterstützung bei lebensgeschichtlicher Aufklärung angeboten oder wurden Nachfragen abgeblockt und Auskünfte verweigert?
Um individuelle Erfahrungen in den jeweiligen Betreuungskonstellationen und mit verschiedenen Organisationseinheiten des Münchner Jugendamts zu erfassen, werden problemzentrierte Interviews mit Betroffenen geführt. Einbezogen werden Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend vom kommunalen Jugendamt sowohl in städtischen Einrichtungen (Rädlinger 2014) als auch in Heimen anderer Träger sowie in Pflege- oder Adoptivfamilien untergebracht wurden.
Parallel zu den Interviews werden umfangreiche Aktenbestände ausgewertet. Dazu zählen Geschäftsakten des Jugendamts und Personalakten sowie eine Zufallsstichprobe von Heim- und Vormundschaftsakten, welche im Münchner Jugendamt geführt wurden. Diese Akten sollen nicht verwendet werden, um die Interviewaussagen der Betroffenen zu überprüfen. Vielmehr wird untersucht, ob sich in den Akten, die im Regelfall eine obrigkeitliche Sicht abbilden, Hinweise auf Vertuschung oder Verschleierung von Gewalt und weiteres den Betroffenen widerfahrenes Unrecht finden.
Zwei Co-Forschende, die eigenen Erfahrungen mit familienersetzenden Unterbringungen haben, werden mit ihrem Wissen und ihren Sichtweisen den Forschungsprozess unterstützen.
Die Interviews werden von erfahrenen und langjährigen Mitarbeiterinnen geführt. Ein sensibler Umgang mit den persönlichen Geschichten und ein vertrauensvoller Rahmen sind uns wichtig. Auf Wunsch kann auch ein männlicher Interviewer angefragt werden. Sollten Sie Fragen haben, nehmen Sie gerne Kontakt mit uns auf.
Dr. Regine Derr ist wissenschaftliche Referentin in der Fachgruppe “Familienhilfe und Kinderschutz”. Als Soziologin hat sie in verschiedenen Projekten zum Thema Kinderschutz geforscht mit einem Schwerpunkt auf sexuelle Gewalt. In ihrer Doktorarbeit hat sie Einflussfaktoren der Organisation auf Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung untersucht.
Vor ihrer Tätigkeit am DJI hat sie für Verbände von Hilfeeinrichtungen für gewaltbetroffene Frauen und Mädchen gearbeitet.
Dr. Rebecca Gulowski ist wissenschaftliche Referentin in der Fachgruppe “Familienhilfe und Kinderschutz”. Als Sozialwissenschaftlerin hat sie zusätzlich eine Ausbildung als Traumafachberaterin (DeGPT) und systemische (Trauma-)Therapeutin (DGTB). Neben der Promotion hat sie mehrere Jahre als psychosoziale Beraterin mit Frauen und als Anti-Gewalt- und Kompetenztrainerin gearbeitet. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Soziologie von Konflikten und Gewalt, sexualisierte Gewalt, Gewalt in der Partnerschaft, (weibliche) Täterschaft, Opferschaft und Bystander.
Rädlinger, Christine (2014): „Weihnachten war immer sehr schön.“ Die Kinderheime der Landeshauptstadt München von 1950 bis 1975. München: Franz Schiermeier
Schrapper, Christian/Schröer, Wolfgang (2021): Heimerziehung und das Recht der Betroffenen auf Aufarbeitung. In Forum Erziehungshilfen 27 (2), S. 94–96. Zur Bezugsquelle des Artikels
Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2022): Das Schweigen beenden. Beiträge zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Berlin: Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
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