Pflegekinder gelten als besonders vulnerable Gruppe von Kindern, da sie zum einen die Trennung von ihrer Herkunftsfamilie bewältigen müssen, zum anderen mehrheitlich durch Erfahrungen von Vernachlässigung oder Misshandlung belastet sind. Diese Erfahrungen können sich negativ auf die Fähigkeiten der Kinder auswirken, vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Pflegeeltern zu entwickeln, und die Entwicklung selbstregulativer Kompetenzen der Kinder beeinträchtigen. Im weiteren Verlauf haben diese Kinder ein hohes Risiko für die Entwicklung von Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten sowie Schulproblemen. Nicht selten fühlen sich die Pflegeeltern im Umgang mit den besonderen Anforderungen ihrer Pflegekinder überfordert, sodass es zu Krisen, Gefühlen von Belastung und Überforderung und auch zu Abbrüchen von Pflegeverhältnisses kommen kann.

Ein Grundstock an finanzieller und fachlicher Unterstützung von Pflegefamilien wird von der öffentlichen, kommunal verfassten Jugendhilfe bereitgestellt. Es fehlen jedoch bislang spezifische Angebote, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen wurde. In der angloamerikanischen Forschung haben sich Beratungsansätze als besonders erfolgreich erwiesen, die auf die Förderung einer positiven Bindungsentwicklung bei Pflegekindern abzielen. Das Beratungskonzept „Attachment and Biobehavioral Catch-up“ (ABC) gilt weltweit als der erfolgreichste bindungsorientierte Ansatz für Pflegefamilien (Dozier/Bernard 2019). In einem Pilotprojekt des DJI (2017 bis 2020) wurde das ABC-Programm für Kinder im Alter von 6 bis 24 Monaten an drei Standorten in Deutschland erprobt. Es wurde sowohl von den teilnehmenden Pflegefamilien als auch den Berater:innen sehr gut angenommen, und es zeigten sich positive Effekte auf das Elternverhalten und die Bindungsentwicklung der Kinder (Zimmermann/Németh/Kindler 2021). Eine Implementatierung des ABC-Programms in Deutschland scheint folglich prinzipiell erfolgversprechend.

Im Rahmen eines Rollout-Projekts, finanziert durch die Karl-Kübel-Stiftung, werden beim Odenwald-Institut als Fortbildungsträger in einem mehrstufigen Prozess ABC-Berater:innen, Supervisor:innen und Trainer:innen ausgebildet und damit die Grundlagen für eine zukünftige bundesweite Implementierung des ABC-Beratungsansatzes gelegt. Um Fragen zum zusätzlichen Nutzen des Programms (im Vergleich zu bislang deutlich weniger intensiven Unterstützungsleistungen in Deutschland) sowie Fragen zur Implementierbarkeit beantworten zu können, wird das Rollout-Projekt vom DJI wissenschaftlich begleitet. Dabei wird zusätzlich zu dem im Pilotprojekt erprobten Beratungsansatz für jüngere Pflegekinder („ABC Infant“) erstmals auch die Version für Kinder von 24 bis 48 Monaten („ABC Early Childhood“) erprobt und evaluiert.

Das Projekt gliedert sich auf in zwei Teilprojekte:

Im ersten Teilprojekt erfolgt eine Wirksamkeitsüberprüfung durch eine Verlaufskontrolle von 100 Beratungsfällen an ca. zehn Modellstandorten. Grundlage ist ein quasi-experimentelles Kontrollgruppendesign mit prä-post Messung, bei dem die Befunde der Interventionsgruppen (n=50 ABC-Infant, n=50 ABC-Early Childhood) mit zwei Kontrollgruppen ohne ABC-Intervention (n=30, 6-24 Monate, n=30 24-48 Monate) verglichen werden. Die Effekte der Beratung auf Feinfühligkeit, Stressbelastung und Selbstwirksamkeitserleben der Pflegeeltern sowie auf Bindungsaufbau und Entwicklung der Pflegekinder werden mittels eines multimethodalen Ansatzes (Fragebögen und Interaktionsbeobachtung) untersucht. Um Einflussfaktoren auf die Wirksamkeit des Programms zu identifizieren, werden Charakteristika der Pflegeeltern und des Pflegeverhältnisses sowie Informationen über die Vorgeschichte der Pflegekinder erfragt.

Im zweiten Teilprojekt soll mit Hilfe von Interviews mit den ABC-Berater:innen und den Leitungskräften der teilnehmenden Pflegekinderdienste und Beratungsstellen die Implementier­barkeit des Programms in die Praxis untersucht werden.

Den Projektabschluss bildet ein bundesweiter Fachtag, in dessen Rahmen die Projektergebnisse des Projekts mit Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe, Politik und Forschung sowie mit Interessensvertretungen diskutiert und Perspektiven für die Weiterentwicklung einer evidenzbasierten Praxis des Pflegekinderwesens entwickelt werden.

Das ABC-Programm ist ein bindungstheoretisch fundierter Beratungsansatz für Pflegefamilien mit Pflegekindern im Alter von 6 bis 24 Monaten (ABC Infant) bzw. 24 bis 48 Monaten (ABC Early Childhood). Das Programm hat das Ziel, feinfühliges und fürsorgliches Verhalten von Pflegeeltern und dadurch die Entwicklung von sicheren Bindungsbeziehungen der Kinder zu fördern. Das Beratungsprogramm ist als aufsuchende Kurzzeitberatung angelegt, die insgesamt 10 Stunden in Form von einstündigen Hausbesuchen bei der Familie umfasst.

Der Beratungsansatz verfolgt hauptsächlich drei Ziele:

  1. Pflegeeltern lernen, in emotionale belastenden Situationen fürsorglich auf das Kind einzugehen; auch dann wenn das Kind den Anschein macht, diese Fürsorge nicht zu brauchen bzw. zu wollen.
  2. Pflegeeltern lernen aktiv auf Handlungen und Interessen des Pflegekindes einzugehen, um eine vorhersagbare und auf die Bedürfnisse des Kindes ausgerichtete Umgebung zu schaffen und das Kind bei Aufbau selbstregulierender Fähigkeiten zu unterstützen.
  3. Pflegeeltern lernen, beängstigende und kontrollierende Verhaltensweisen im Umgang mit ihrem Pflegekind zu vermeiden.

Dozier, Mary/Bernard, Kristin (2019): Coaching parents of vulnerable infants. The attachment and biobehavioral catch-up approach. New York

Fisher, Philip A. (2015): Review. Adoption, fostering, and the needs of looked-after and adopted children. In: Child and Adolescent Mental Health, 20. Jg., H. 1, S. 5–12

Zimmermann, Janin/Németh, Saskia/Kindler, Heinz (2021): Förderung sicherer Bindungsbeziehungen in Pflegefamilien mit dem Attachment and Biobehavioral Catch-Up (ABC)-Programm. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 70. Jg., H. 3, S. 239–254

Kontakt

+49 89 62306-454
Deutsches Jugendinstitut
Nockherstr. 2
81541 München

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