Familien in gemeinschaftlichen Wohnformen (FageWo)
Das Forschungsprojekt ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem DJI und der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft (HsKA).
Ziel des sozialwissenschaftlichen Teilprojekts am DJI ist es, systematisches Grundlagenwissen über Familien und Senior/innen in gemeinschaftlichen Wohnformen und deren soziale und wohnräumliche Bedarfe – insbesondere bezogen auf familienbiographische und familienstrukturelle Veränderungen – zu generieren sowie handlungsrelevante Schlussfolgerungen für Akteure der Wohnbauwirtschaft, Kommunen und Länder zu ziehen.
Gemeinschaftliche Wohnformen sind als Ausdruck der Bewältigung vielfältiger gesellschaftlicher Herausforderungen, wie dem demographischen und dem raumstrukturellen Wandel, der ökologischen Krise sowie nicht zuletzt der aktuell sich verschärfenden Wohnungskrise, zu deuten. Ebenso können sie als Ausdruck der praktischen Suche nach innovativen und experimentierfreudigen Lösungen verstanden werden. Sie gewinnen an Bedeutung und umfassen mittlerweile ein weites Spektrum unterschiedlicher Ausprägungen. Gemeinsam sind diesen Wohnformen, abgeschlossene Wohnräume durch Gemeinschaftsbereiche zu ergänzen, wie auch eine weitreichende Selbstbeteiligung und Selbstorganisation des sozialen Miteinanders in meist nicht-hierarchischen Strukturen. Außerdem werden soziale Netzwerke über die Zusammensetzung der Gruppe bewusst gestaltet und vielfältige gegenseitige Unterstützungsleistungen erbracht. Neuere gemeinschaftliche Wohnprojekte öffnen sich zum Quartier bzw. zum lokalen Nahraum. Sie oszillieren zwischen lernendem Pragmatismus und vielfältigen gesellschaftspolitischen Visionen. Gerade aufgrund der wohnortnahen Unterstützung ist diese Wohnform insbesondere für Familien und Senioren/innen attraktiv.
Die vermehrte Nachfrage nach neuen gemeinschaftlichen Wohnformen lässt sich auch als eine Reaktion auf verschiedene gesellschaftliche Veränderungsprozesse, wie den demographischen Wandel, prekäre Fürsorgebeziehungen im Sinne einer tiefgreifenden Care-Krise und einen wachsenden Druck auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Jurczyk 2015), deuten. Gemeinschaftliche Wohnformen können ebenso als Strategie gegen die in Teilen krisenhafte Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt gewählt werden (Mangel an bezahlbarem Wohnraum, starke Preissteigerung für Wohnen bis hin zur Verdrängung von Mietern aus Wohnungen und Wohnquartieren). Gemeinschaftliches Wohnen differenziert sich mittlerweile in ein weites Spektrum an unterschiedlichen Wohn-, Bau- und Rechtsformen aus. Vor diesem Hintergrund gewinnen vor allem Mehrgenerationenprojekte sowie genossenschaftlich organisierte Wohnformen an Bedeutung (BBSR 2012b, 2012a).
Gerade Familien mit jüngeren Kindern sowie ältere Menschen verorten sich aufgrund ihrer Lebenssituation in ihrem Bedarf nach Fürsorgeleistungen, im Aufbau und in der Pflege ihrer sozialen Beziehungen sowie in ihrem Mobilitätsverhalten auf besondere Weise in ihrem direkten Wohnumfeld (Zibell/Kietzke 2016). Gemeinschaftsprojekte bieten gute Voraussetzungen, dass wahlverwandtschaftliche, generationenübergreifende Netzwerke entstehen, die für diese Gruppen eine wertvolle Ressource der praktischen und emotionalen Unterstützung im Alltag werden können (Philippsen 2014). Die in gemeinschaftlichen Wohnprojekten erbrachte soziale Unterstützung geht hinsichtlich des Leistungsspektrums sowie des Unterstützungsausmaßes deutlich über das hinaus, was konventionelle Nachbarschaftshilfe leistet (Kehl/Then 2013, S. 47 ff.). Diese Projekte schaffen außerdem resiliente soziale Strukturen und sind Impulsgeber für eine Entwicklung lebendiger Wohnquartiere (Wüstenrot Stiftung 2017).
Bisher fokussierte sich das Forschungsinteresse für gemeinschaftliche Wohnformen eher auf strukturelle Fragen und den urbanen Raum. Angesichts der zunehmenden Ausdifferenzierung der Familienformen sowie sozioökonomischer Unterschiede gibt es kein systematisches empirisch gesichertes Wissen darüber, welche Familien sich für gemeinschaftliche Wohnformen in der Stadt oder in ländlichen Räumen entscheiden; ebenso wenig ist darüber bekannt, wie der dynamische Wechsel zwischen unterschiedlichen Familienformen und familienbiographischen Phasen in diesen Wohnformen sozial und wohnräumlich adaptiert werden kann. Hier setzt das Projekt an, um Forschungslücken zu schließen, handlungsrelevantes Wissen zu generieren und weiterführende Forschungsfragen zu erschließen.
Die folgenden Untersuchungsfragen werden verfolgt:
- Welche unterschiedlichen (familialen) Lebensformen finden sich im Rahmen gemeinschaftlicher Wohnprojekte und welche Veränderungen (Trennung, Wiederverpartnerung etc.) finden statt?
- Welche sozialen und wohnräumlichen Bedarfe bestehen bei den unterschiedlichen Familienformen? Welche Veränderungen dieser Bedarfe resultieren aus familienbiographischen Veränderungen? Und wie werden diese Bedarfe in gemeinschaftlichen Wohnformen beantwortet?
- Wie wird das Gemeinschaftsleben hinsichtlich sozialer Kontakte und gegenseitiger Unterstützung im Alltag (Jung/Alt und untereinander) innerhalb gemeinschaftlicher Wohnprojekte sowie in Verbindung mit der Nachbarschaft bzw. dem Wohnviertel organisiert und gelebt?
Dabei werden Haushalte mit (und ohne) Kinder(n) systematisch nach (a) familialen Lebensformen sowie nach Veränderungen der Lebensform und daraus resultierenden veränderten Wohnraumbedarfen befragt; (b) nach Unterstützungsleistungen im Alltag, die innerhalb und zwischen den Generationen im Rahmen gemeinschaftlicher Wohnprojekte ausgetauscht werden. Ebenso werden (c) spezifische Anforderungen und Belastungen, die das Leben in gemeinschaftlichen Wohnformen bedeuten kann, thematisiert.
Bezogen auf ältere Menschen wird der Fokus auf folgende Fragenstellungen gerichtet:
- Wird selbstbestimmtes Wohnen in gemeinschaftlichen Wohnformen gestärkt? Können Senioren/innen möglichst lang in ihrem gewohnten Wohnumfeld bleiben? Wird Isolation und Vereinsamung entgegengewirkt?
- Inwieweit spielt gegenseitige Unterstützung im Alltag gerade auch bei Hilfsbedürftigkeit eine Rolle? Bis zu welchem Grad unterstützen Mitbewohner/innen? Wo werden ambulante Hilfs- und Pflegedienste hinzugezogen?
Das Forschungsprojekt ist mit seinem multimethodischen Ansatz in vier Arbeitsschritte gegliedert:
Im ersten Arbeitsschritt erfolgt die Felderschließung, bei der mithilfe von Expert/inneninterviews die wesentlichen Fragen der nachfolgenden Befragungen präzisiert und Indikatoren identifiziert werden.
Im zweiten Arbeitsschritt werden Mehrgenerationen-Projekte aus dem deutschsprachigen Raum sozial- und raumwissenschaftlich im Rahmen von Fallstudien untersucht. Mit dem sozialwissenschaftlichen Teil sollen entsprechend der familien- und seniorenbezogenen Fragestellungen Fallprofile entwickelt werden. Der raumwissenschaftliche Teil untersucht Grundrisstypologien hinsichtlich ihrer Relation und Qualität zu Individual- und Gemeinschaftsraum und schließt gebäude- und quartiersbezogene Betrachtungen ein.
Im dritten Schritt erfolgt die quantitative Erhebung. Mittels einer Onlinebefragung sollen ca. 70 Projekte auf zwei Ebenen systematisch befragt werden: (1) Auf der Projektebene werden bauliche, strukturelle sowie infrastrukturelle Gegebenheiten erfragt. (2) Auf Haushaltsebene stehen Fragen aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive, wie familiale Lebensformen, sozioökonomische Daten, Unterstützungsbedarfe und -leistungen sowie der Umgang mit Umbrüchen und Veränderungen, im Mittelpunkt. Die Ergebnisse der Erhebungen sollen analysiert und mit den raumbezogenen Befunden verknüpft werden.
Im letzten Arbeitsschritt sollen in Form einer Matrix die sozialwissenschaftlichen und raumwissenschaftlichen Befunde zusammengeführt und Handlungsempfehlungen in Form eines Praxisleitfadens abgeleitet werden.
BBSR (2012a): Mehrgenerationen-Wohnprojekte in der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft. Projektbeschreibung. http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/FP/ReFo/Wohnungswesen/2011/MehrgenerationenWohnen/01_Start.html (25.07.2017)
BBSR (2012b): Neues Wohnen in Genossenschaften. In: BBSR_KOMPAKT_4-2012.indd
Jurczyk, Karin (2015): Zeit für Care: Fürsorgliche Praxis in »atmenden Lebensverläufen«. In: Hoffmann, Reiner/Bogedan, Claudia (Hrsg.): Arbeit der Zukunft. Möglichkeiten nutzen - Grenzen setzen. Frankfurt/New York, S. 260–288
Kehl, Konstantin/Then, Volker (2013): Community and Civil Society Returns of Multi-generation Cohousing in Germany. In: Journal of Civil Society, 9. Jg., H. 1, S. 41–57
Philippsen, Christine (2014): Soziale Netzwerke in gemeinschaftlichen Wohnprojekten. Eine Empirische Analyse von Freundschaften und sozialer Unterstützung. Berlin, Toronto
Wüstenrot Stiftung (Hrsg.) (2017): Wohnvielfalt. Gemeinschaftlich wohnen - im Quartier vernetzt und sozial orientiert. 2. Aufl. Ludwigsburg
Zibell, Barbara/Kietzke, Lisa (2016): Gemeinschaftliches Wohnen gegen die Angst, allein zu sein? In: Nachrichten Magazin der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, 46. Jg., S. 13–17
Projektpartner*innen an der Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft (HsKA)
Prof. Susanne Dürr (susanne.duerr@hs-karlsruhe.de, 0721/ 925-2782)
Dr. Gerd Kuhn (gerd.kuhn@hs-karlsruhe.de, 0721/ 925-2830)
Nanni Abraham M.A. (nanni.abraham@hs-karlsruhe.de, 0721/ 925-2830)
Projekt-Homepage der HsKA finden Sie unter: https://www.hs-karlsruhe.de/iaf/fagewo
Projektflyer FageWo zum Download