Die transnationale Geschichte der Bindungstheorie im Nachkriegseuropa
Eine interdisziplinäre Untersuchung von Akteuren, Diskursen und Praktiken
Die Bindungstheorie, deren Grundlagen von John Bowlby und Mary Ainsworth in den 1950er- und 1960er-Jahren gelegt wurden, gehört wohl zu den wirkmächtigsten und am weitesten verbreiteten psychologischen Theorien des 20. Jahrhunderts.
So kann man in fast jedem derzeit veröffentlichten Elternratgeber die Bemerkung finden, dass Babys und Kleinkinder eine sichere Bindung zu einigen wenigen erwachsenen Bezugspersonen benötigen. Doch mit einer historischen Perspektive erkennt man, dass sich dieses Wissen erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa verbreitet hat. Das Projekt analysiert , wie schnell dies in welchen europäischen Ländern diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs geschah und welche Folgen dieses damals neue Wissen hatte.
Das interdisziplinäre Netzwerk zur transnationalen Geschichte der Bindungstheorie im Europa der Nachkriegszeit will zwei miteinander verbundene Themen bearbeiten.
Analysiert werden sollen erstens die Verbreitung der Bindungstheorie in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und zweitens ihre Einflüsse auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche – zum Beispiel auf die Gestaltung der Heimerziehung oder auf Normalitätsvorstellungen in der Kinderbetreuung.
Damit wird eine Theorie, die in den letzten Jahrzehnten erheblichen Einfluss auf Psychologie, Psychiatrie, Soziale Arbeit, Pädagogik und Psychotherapie hatte, in ihrer historischen Entwicklung umfassend betrachtet. Dies soll das Verständnis der Anwendung der Bindungstheorie in verschiedenen Disziplinen und Ländern verbessern und zu einem umfassenden Verständnis von Innovationen in den psychologischen und psychiatrischen Wissenschaften und von sich wandelnden Kindheitsvorstellungen beitragen. Auch wird das sich verändernde Aufwachsen insbesondere von Kindern in den ersten Lebensjahren auf diese Weise historisiert und kontextualisiert.
Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Wissenschaftliches Netzwerk für drei Jahre gefördert.
Organisiert wird das Netzwerk von Felix Berth (Projektleitung, DJI), Claudia Moisel (Co-Projektleitung, Ludwig-Maximilians-Universität München), Frank van der Horst (Erasmus-Universität Rotterdam) und Maren Zeller (Ostschweizer Fachhochschule, Sankt Gallen). Weitere 16 Wissenschaftler:innen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Polen, Schweden, Spanien, Tschechien und Ungarn werden sich an den geplanten fünf Netzwerktreffen beteiligen.
Die insgesamt 20 Teilnehmenden des Netzwerks sind disziplinär unterschiedlich verortet. Unter ihnen sind Geschichtswissenschaftler:innen und historisch orientierte Soziolog:innen, Vertreter:innen der Sozialen Arbeit, der Psychologie und der Erziehungswissenschaften.
Alle Teilnehmer:innen werden ihre disziplinär-historischen Sichtweisen mit eigenen Vorträgen einbringen, um bereits vorhandenes Wissen zur Entwicklung der Bindungstheorie in Europa zu bündeln sowie neue Fragen herauszuarbeiten und möglichst bereits zu beantworten. Zu erwarten sind methodische Zugänge, die sich auf Akten- und Archivrecherchen ebenso wie diskursanalytische und inhaltsanalytische Herangehensweisen.
Erstes Netzwerktreffen am DJI in München, 27. - 29. Oktober 2024: Dokumentation auf der DJI-Webseite
Berth, Felix (2021). This house is not a home: Residential care for babies and toddlers in the two Germanys during the Cold War. In: The History of the Family 26 (3), S. 506-531. https://doi.org/10.1080/1081602X.2021.1943488
Moisel, Claudia (2017). Geschichte und Psychoanalyse. Zur Genese der Bindungstheorie von John Bowlby. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 65 (1), S. 51–74. https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2017_1_3_moisel.pdf
Van der Horst, Frank (2024). The American contribution to attachment theory: John Bowlby’s WHO trip to the USA in 1950 and the development of his ideas on separation and attachment. In: Attachment & Human Development. https://doi.org/10.1080/14616734.2024.2342665