Wege in die Elternschaft
Konsens- und Dissensmanagement aus paardynamischer Perspektive
Projektleitung: Dr. habil. Waltraud Cornelißen http://w-cornelissen.de/ Email: w.cornelissen@online.de
Projektmitarbeiterinnen:
Dr. Birgit Heimerl
Diane Nimmo
Dr. Anna Buschmeyer (assoziiert) buschmeyer@dji.de
Wir waren skeptisch gegenüber der verbreiteten Annahme, Paare entschieden sich in aller Regel – die gemeinsame Zukunft im Blick – nach Abwägungen der Vor- und Nachteile von Kindern für eine Familiengründung oder -erweiterung. Wir wollten wissen: Was erzählen uns Väter und Mütter, die gerade ein Kind bekommen haben, wie sie zu ihrem Kind kamen. Wie stellte sich jeder in den Jahren zuvor seine Zukunft vor? Wie und über was verständigte sich das Paar? Wie wirkte sich ihre Alltagspraxis als sexuell aktives Paar auf ihren Weg in die Elternschaft aus? Es wurden Einzelinterviews mit insgesamt 42 Personen geführt. Darunter waren die Partner und Partnerinnen aus 18 Paaren und weitere 6 Einzelpersonen, die gerade ein Kind bekommen hatten. Mit einem Drittel der Paare wurden zusätzlich Paarinterviews geführt.
Junge Frauen und Männer werden heute von ihrem sozialen Umfeld weniger selbstverständlich als etwa noch vor zwei Generationen auf eine Familiengründung festgelegt. Von jungen Frauen und Männern wird vielmehr erwartet, dass sie ihr Leben nach eigenen Vorstellungen selbst steuern und Verantwortung für ihren Lebensverlauf übernehmen. Dies gilt auch in Bezug auf die Kinderfrage. Vor diesem Hintergrund wurde untersucht, welche Wege heute in die Elternschaft führen.
In der Fertilitätsforschung wird sehr oft explizit oder implizit unterstellt, dass Kinderwünsche und das Abwägen des Zeitpunktes für eine Familiengründung wichtige Etappen auf dem Weg in die Elternschaft sind (ein Überblick bei Balbo et al. 2013 oder Huinink 2016). Aus unserer Sicht ist diese Sicht zu eng. Es scheint wichtig, neben den „Fertilitätsintentionen“ der Partner deren Alltagspraxis in den Blick zu nehmen. Der Anspruch des Projektes „Wege in die Elternschaft“ war es, empirisch basiert zu beschreiben, welche Paardynamik und welche Paarpraxen tatsächlich entstehen, wenn sich sexuell aktive Paare aus unterschiedlichsten Anlässen mit Verhütung, der Akzeptanz oder dem aktiven Anstreben von Elternschaft befassen.
Zu Beginn des Projektes lag der Fokus auf der Frage, wie sich Paare über die Kinderfrage und die damit verbundenen Praktiken, insbesondere ihre sexuellen Praktiken und ihre Verhütungspraxen verständigen. Das Interesse richtete sich also auf die Paardiskurse. Es bestand auf unserer Seite Unsicherheit darüber, ob und wie weit es darüber hinaus möglich sein würde, aus Erzählungen von Eltern auch die körperlichen Praktiken des Verhütens, Zeugens und Empfangens zu rekonstruieren. Nach ersten Probeinterviews wurde deutlich, dass der Bereich der körperlichen Praxen sehr wohl erschlossen werden konnte.
Es wurden narrative Einzelinterviews mit insgesamt 42 Personen geführt. Darunter waren die Partner und Partnerinnen aus 18 Paaren und zusätzlich 6 Einzelpersonen, die gerade ein Kind bekommen hatten. Ergänzend wurden mit einem Drittel der Paare auch Paarinterviews geführt.
Wir suchten nach Paaren, die gerade ein Kind bekommen hatten. Sie sollten in unterschiedlichen Regionen Deutschlands wohnen, unterschiedliche Bildungsniveaus abbilden und sie sollten im Hinblick auf ihre Fertilitätsabsichten vor Eintritt der Schwangerschaft ein möglichst breites Spektrum an vorgängigen Kinderwunschkonstellationen repräsentieren. Die ersten neun Paare rekrutierten wir über das Paar- und Familienpanel (pairfam). Anschließend suchten wir auf anderem Wege nach Paaren, die uns im Sample noch fehlten, um eine theoretische Sättigung zu erreichen. Dabei kamen eine Rekrutierung nach dem Schneeballprinzip sowie eine über gynäkologische Arztpraxen, Kinderwunschzentren und Kinderbetreuungseinrichtungen zum Einsatz. Unser Sample setzte sich schließlich aus 42 Personen zusammen:
• davon 18 Paare und 6 einzelne Mütter oder Väter;
• 23 Frauen und 19 Männer;
• 27 mit vorwiegend westdeutscher, 13 mit ostdeutscher Sozialisation und zwei mit Migrationshintergrund;
• 22 mit akademischem Abschluss, 20 mit mittlerem oder einfachem Bildungsabschluss.
Die Eltern wurden zumeist im ersten Lebensjahr ihres Kindes interviewt. Die sechs Paarinterviews wurden ca. ein halbes Jahr nach den Einzelinterviews durchgeführt. Um das Fallverständnis zu vertiefen, wurde in einigen Fällen noch ein weiteres Einzelinterview geführt.
Nach einer Pretestphase bewährte sich für die Einzelinterviews eine Eingangsfrage, die eine Erzählung der Reproduktionsbiografie „von Anfang an“, d.h. beginnend mit frühen Vorstellungen vom späteren Leben mit oder ohne Kinder anstieß. Die selbstläufigen Erzählungen waren insbesondere im Hinblick auf die Praktiken des Verhütens und Zeugens oft erst einmal wenig detailliert. Unser Interesse an den intimen Praktiken der Paare erforderte Nachfragen und oft ein eher dialogisches Vorgehen. Anschließend an den sehr offenen Teil des Interviews, dessen Ziel ein möglichst vollständiges Erfassen und Verstehen des jeweiligen Falls und seiner Spezifika war, wurde während des Interviews anhand eines Leitfadens kontrolliert, ob alle aus der Sicht der Forscherinnen zentralen Themen angesprochen wurden. Ggf. wurden dann noch einige Fragen gestellt.
Personen, die mehrere Kinder hatten, erzählten oft von mehreren Wegen in die Elternschaft. Im Fokus der Rekonstruktion stand zumeist die zuletzt eingetretene Schwangerschaft.
Die wörtlich transkribierten und anonymisierten Interviews wurden einer ersten gemeinsamen Interpretation unterzogen. Das so gemeinsam erschlossene Fallwissen wurde zum Ausgangspunkt für weitere Analysen zu konkreten (Teil-)Fragestellungen, die einzeln oder zu zweit weiter verfolgt wurden. Die eingesetzten Auswertungsstrategien wurden auf die jeweilige Fragestellung zugeschnitten und orientierten sich an der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2013; Nohl 2009), an der Grounded Theory (Strübing 2004; Glaser & Strauss 1967) oder an einem ethnographisch inspirierten Forschungsprogramm (Amann & Hirschauer 1997).
Im Folgenden werden erste Ergebnisse zusammengetragen. Vertiefende Darstellungen finden sich in ersten Publikationen oder werden in absehbarer Zeit publiziert (vgl. Publikationen).
Um einen Überblick über die erzählten Wege in die Elternschaft zu bewahren und um zu einer ersten strukturierenden Heuristik zu gelangen, wurden die Erzählungen unserer InterviewpartnerInnen genutzt, um die Verläufe des Elternwerdens in Fallgruppen zu bündeln. Die hier im Folgenden wiedergegebene Liste der Verlaufstypen schreitet voran von den Wegen in die Elternschaft, in denen die Paare von einer nicht intendierten Schwangerschaft überrascht werden, zu Wegen, in deren Verlauf die Intentionen der PartnerInnen eine zunehmend wichtigere Rolle spielen:
1. Schwangerschaft nicht intendiert, gleichzeitig inkonsequent verhütet;
2. Schwangerschaft kurzfristig gewünscht, den Wunsch später bzw. zu spät überdacht;
3. Schwangerschaft kurz entschlossen realisiert;
4. Schwangerschaft nach schwierigen Abstimmungsprozessen entstanden;
5. Schwangerschaften bei grundsätzlicher Bereitschaft zum Kind:
5.a) Schwangerschaft bedingungslos zugelassen,
5.b) Schwangerschaft am institutionalisierten Lebenslauf orientiert vorgesehen und mehr oder weniger erfolgreich ,getimt‘,
5.c) Schwangerschaft trotz Fertilitätsstörungen erreicht.
Auf dem Weg in die Elternschaft wirken viele Faktoren zusammen. Das Zusammenspiel begrenzt sich nicht auf das der bewussten Absichten der Partner. Diverse Handlungsantriebe auch die weiterer Akteure, zum Beispiel die der potenziellen Großeltern und die der zu Rate gezogenen Ärzte, wirken zusammen. Gemeinsam mit den involvierten Körpern und Dingen erzeugen sie (Zwischen-)Ergebnisse, „serendipities“ (Morgan/Bachrach 2011), die die PartnerInnen oft nicht voraussehen und auch im Nachhinein nicht immer erklären können. Es ergeben sich deshalb auch immer wieder unerwartete Handlungskonstellationen, „conjunctures“ (Johnson-Hanks 2007), in denen sich beim einen oder anderen Partner unerwartete emotionale Impulse oder eine Offenheit für vorher nicht verfügbare oder nicht wahrgenommene Handlungsalternativen ergeben. Die Folge ist ein Handeln in kleinen Schritten, ein „Sich-Durchwursteln“, wie es Schimank (2010: 110) bezeichnet. Dabei spielen Emotionen eine große Rolle.
Birgit Heimerl und Peter Hofmann (im Erscheinen) nutzen u.a. die narrativen Daten der Studie „Wege in die Elternschaft“, um der Frage nach der Konzeption des Elternwerdens genauer nachzugehen. Anhand von Ausschnitten aus narrativen Interviews stellen sie eine an praxeologischen Prämissen orientierte Analyse vor, die zum einen die spezifische Kommunikation des Kinderkriegens in den Blick nimmt, also Formen der Thematisierung bzw. Dethematisierung innerhalb der Paarbeziehung. Zum anderen berücksichtigen sie die körperlich-materielle Dimension des Weges in die Elternschaft. Sie zeigen, wie sich der intime Paardiskurs mit der körperlich-sexuellen Ebene der Paarbeziehung verschränkt, während sich die Partner wechselseitig zunehmend als Eltern eines gemeinsamen Kindes antizipieren.
Waltraud Cornelißen nutzt das narrative Material der DJI-Studie, um dem Timing von Kindern in spätmodernen Beziehungswelten nachzugehen. Mit „Timing“ -– einem Begriff aus der Lebenslaufforschung, der demografischen und der Familienforschung (vgl. Heft 3 der Zeitschrift für Familienforschung 2014) – ist erst einmal nur die „Platzierung” eines Ereignisses im Strom der Lebenszeit ausgewählter Personen(-gruppen) gemeint. Wer oder was auf welche Weise diese Platzierung erwirkt, interessiert oft wenig. Wenn aber doch AkteurInnen bzw. AgentInnen thematisiert werden, dann werden in erster Linie die potenziellen Eltern in den Blick genommen und diese werden zumeist als planende, rational abwägende Subjekte konzipiert (vgl. zum Beispiel Huinink & Kohli 2014). Es wird unterstellt, sie suchten und fänden den „richtigen“ Zeitpunkt für ihre Kinder (Brehm/Buchholz 2014; Dommermuth et al. 2011).
Die im Projekt geführten Interviews legen dagegen die These nahe, dass das oft unterstellte, an langfristigen Kosten und Nutzen orientierte Optimieren des Timings von Kindern durch ihre Eltern nur ein möglicher Modus des Timings ist – ein Modus, der seinen sozialen Ort am ehesten in modernen Beziehungen mit ihren (vermeintlich) absehbaren Verläufen hat. In spätmodernen Beziehungen mit ihrer ungeklärten Verbindlichkeit (Bauman 2007; Schmidt et al. 2006) gibt es zumeist keinen „richtigen“ Zeitpunkt für ein Kind. Hier wird der Zeitpunkt von Schwangerschaften viel stärker durch momentane Stimmungen sowie körperliche und materielle Gegebenheiten bestimmt (vgl. Cornelißen 2016).
Betrachtet man speziell die Paargeschichten, in denen von einem Dissens in der Kinderfrage erzählt wird, so zeigt sich, dass viele Paare ihre Beziehung von einem Dissens in der Kinderfrage wenig beeinträchtigt sehen, solange sie sich darüber einig sind, dass ihnen noch Zeit bleibt, sich einig zu werden. Wenn aber einer der Partner, zumeist die Frau, die Zeit für eine Entscheidung gekommen sieht, kann ein Dissens in der Kinderfrage für eine Beziehung sehr belastend werden.
Jahrelang unerfüllte Kinderwünsche, die Angst vor den Veränderungen, die die Geburt eines Kindes mit sich bringt, ebenso aber auch die Angst, irgendwann keine eigenen Kinder mehr bekommen zu können, oder die Angst, ein Kind nach der Trennung der Paarbeziehung verlieren zu können, können nur sehr bedingt rational begründet verhandelt werden. Anhand der Erzählungen der PartnerInnen von längeren Phasen des Dissens konnten bisher acht verschiedene, mehr oder weniger kooperative Strategien rekonstruiert werden, mit denen der Dissens bearbeitet wird. Das Verhandeln rationaler Individuen scheint nach diesen Befunden bei Dissens in der Kinderfrage eher Mythos als Wirklichkeit. Unter sechs Paaren mit Dissens gelingt nur einem Paar das herstellen eines Konsenses vor Eintritt der Schwangerschaft (Cornelißen/Buschmeyer in Vorbereitung; Cornelißen in Vorbereitung)
Heterosexuelle Paarkonstellationen legen es nahe, Differenzen zwischen dem Wünschen und Wollen der Partner und ihren Strategien in der Beziehung nicht einfach als Differenz zwischen Individuen, sondern auch als eine zwischen Männern und Frauen zu interpretieren (Hirschauer 2013). Entsprechend werden von Partnern in der Auseinandersetzung um die Kinderfrage des Öfteren Geschlechterstereotype reproduziert. So sehen sich die Frauen auch in unserem Sample fast immer in der Rolle der „pusher“ (Cuyvers & Kalle 2002), werden so auch von ihren Partnern erlebt und erleben ihrerseits ihre Partner als ,Bremser‘ auf dem Weg zum Kind. Die vorherrschende Aufgabenteilung zwischen drängelnden Frauen und bremsenden Männern scheint auf den ersten Blick Ausfluss eines biologisch bedingten stärkeren Zeitdrucks und drängenderer Kinderwünsche von Frauen. Dies ist für uns allerdings eine naturalisierende und psychologisierende Deutung des Dissens, die die soziale Dimension der Konstellation verkennt: Die Artikulation von Kinderwünschen scheint zumindest auch von kollektiv verankerten Erwartungen geprägt, die bei Frauen und Männern in Partnerschaften ein unterschiedliches Maß an Affekt gesteuertem Drängen auf ein Kind zulassen, ja erwarten. Frauen wird ein solches Drängen zugestanden, Männern wird dagegen die Rolle des ‚Kosten kalkulierenden Bremsers‘ zugedacht. Auch die Praxis des Verhütens ist von kulturell verankerten ‚weiblichen‘ und ‚männlichen‘ Zuständigkeiten geprägt (Buschmeyer 2016; Cornelißen & Buschmeyer in Vorbereitung).
Diane Nimmo (2016) kommt im Zuge der Aufarbeitung des Forschungsstandes zu dem Schluss, dass die Fertilitätsforschung stark von vorempirischen Setzungen (Intentionalitätserwartung, Erwartung von Entscheidungsverhalten, Erwartung der Normkonformität des Verhütungsverhaltens sowie unterschwellige Rationalitätserwartung) geprägt ist und in den meisten Forschungskontexten die Einbettung einer Zeugung in sexuelle Aktivität ausgeblendet ist. In der Sexualitätsforschung wird das Thema „Zeugung“ überwiegend als biologisches, und nur in wenigen Forschungskontexten als soziales Ereignis betrachtet. Die Untersuchung der Verbindung von Sexualität und Zeugung, die von den genannten vorempirischen Setzungen absieht, stellt eine Forschungslücke dar, die im Rahmen des Promotionsvorhabens bearbeitet wurde. Ziel der Arbeit war daher die mikrosoziologische Untersuchung des Verhältnisses von Sexualität und Zeugung mit Hilfe eines praxeologischen Ansatzes, der nicht einen intentional und rational handelnden Akteur voraussetzt, sondern den Fokus auf Aktivitäten richtet. Aus dieser Perspektive gerät Sexualität als situierte Körperpraxis in den Blick, in der Artefakte (z.B. Verhütungsmittel), räumlich-materielle Settings ebenso wie Mitspieler in Form von Personen und Körpern eine Wirkung entfalten. Basierend auf den 46 narrativ-biografischen Einzel- und Paarinterviews aus der DJI-Studie wird in Anlehnung an die Methode der ‚Grounded Theory‘ der Umgang mit der Zeugungspotenzialität sexueller Aktivität in seinen Feinmechanismen rekonstruiert und so die Komplexität dieser Handlungspraktiken, die unter anderem auch in scheinbaren Irrationalitäten, Inkonsistenzen, Ambivalenzen und Paradoxien sichtbar werden, zum Gegenstand der Forschung gemacht, entfaltet und aus der Handlungspraxis heraus erklärt. Die vorliegenden Fälle werden als Heuristiken verstanden, aus denen Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Sexualität und Zeugung gewonnen werden können