Bislang kommen Jugendliche mit Behinderungen in „allgemeinen“ quantitativen Jugendstudien kaum vor. Bestehende Forschung zu diesen Jugendlichen verläuft hauptsächlich im Kontext von schulischer Bildung einerseits und Rehabilitation/Förderung andererseits. Demgegenüber fehlt vertiefendes Wissen über den außerschulischen Alltag von Jugendlichen mit Behinderungen, beispielsweise zu Freundschaften, Freizeitaktivitäten, Verselbständigung und Wohlergehen (Markowetz 2016). Auch die Politik sieht in dem bestehenden Mangel an Daten zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderung einen Handlungsbedarf: Das 2006 beschlossene und 2009 in Deutschland in Kraft getretene „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ der Vereinten Nationen verpflichtet Vertragsstaaten „zur Sammlung geeigneter Informationen, einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten, die [...] ermöglichen, politische Konzepte zur Durchführung dieses Übereinkommens auszuarbeiten und umzusetzen“ (§31) (BMAS 2011).

Mit dem derzeit laufenden Bundesteilhabesurvey ist ein wichtiger Schritt getan, die Situation von Menschen mit Behinderungen empirisch genauer beschreibbar zu machen. Allerdings adressiert dieser Survey hauptsächlich Erwachsene, weshalb Jugendliche mit ihren altersspezifischen Bedarfen unberücksichtigt bleiben (Steinwede u.a. 2018). Genau diese Forschungslücke greift die bundesweite quantitativ angelegte Jugendstudie „Aufwachsen und Alltagserfahrungen von Jugendlichen mit Behinderung“ auf. Das Forschungsvorhaben wird die zu erwartenden Befunde nutzen, um Herausforderungen und Entwicklungsbedarfe in der Fachpraxis zu identifizieren. Aus den Erfahrungen der Jugendlichen können Hinweise für Struktur- und Organisationsentwicklungsprozesse im Sinne von Handlungsbedarfen für die Ausgestaltung von Praxisangeboten erkennbar werden. Angesprochen sind hier vor allem die Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Behindertenhilfe. Mögliche Diskussionszusammenhänge wären etwa eine verstärkte inklusive Ausrichtung von (Freizeit-)Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, die Weiterentwicklung von inklusiven Schul-/Unterrichtsformen oder Entwicklungsbedarfe in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe im Sinne einer Öffnung in den Sozialraum.

Darüber hinaus dienen die Erhebung und Verbreitung von Informationen zur Lebenssituation von Jugendlichen mit Behinderung dazu, die gesellschaftliche Sichtbarkeit einer Gruppe von Jugendlichen zu erhöhen, die oftmals Gefahr läuft, aus dem öffentlichen Blick zu geraten. So können diese Jugendlichen stärker als bisher als selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft wahrgenommen werden.

Konzeption und Methodik

Die Studie „Aufwachsen von Jugendlichen mit Behinderung“ folgt der Grundhaltung, Jugendliche mit Behinderung in erster Linie als Jugendliche und nicht primär als behinderte junge Menschen zu betrachten. Sie richtet daher den Blick auf die alterstypischen Belange und persönlichen Erfahrungen von Jugendlichen mit Behinderung in ihren Alltagswelten.

Die inhaltlichen Fragestellungen richten sich auf die vier Themenfelder Freizeit, Freundschaften, Autonomie sowie Zufriedenheit und subjektives Erleben. Unter anderem werden folgende Fragestellungen untersucht:

  • Wie erleben und gestalten Jugendliche mit Behinderung ihre außerschulische Lebenssituation?
  • Welche institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen werden von ihnen als Unterstützung empfunden, welche als Einschränkung?
  • Welche Ansatzpunkte lassen sich für Politik und Praxis identifizieren, um die Teilhabemöglichkeiten von Jugendlichen mit Behinderung zu befördern?

Zielgruppe der Studie bilden Jugendliche im Alter von 13 bis 18 Jahren mit einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf (SPF) in einem bzw. in einer Kombination der Bereiche Sehen, Hören, Sprache, Lernen, körperliche und motorische Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung, und geistige Entwicklung.

Das Stichprobenkonzept ist darauf ausgerichtet, zu jeder Form von Behinderung eine für die anschließende Analyse ausreichende Anzahl von Jugendlichen in die Stichprobe einzubeziehen. Zu diesem Zweck werden ca. 2.000 Teilnehmer_innen über 60 Förder- und 30 inklusive Regelschulen rekrutiert, die so gezogen werden, dass eine relativ gleichmäßige Verteilung der SPFs in der schlussendlichen Stichprobe gewährleistet wird. An teilnehmenden Schulen, die sich in 15 regionalen Klumpen in den drei Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen befinden, wird eine Vollerhebung sämtlicher Jugendlicher erfolgen, die zur Zielgruppe gehören und sich zur Teilnahme an der Studie bereit erklären. Auf diese Weise wird es anhand der erhobenen Daten möglich sein, Binnenvergleiche und Differenzierungen nach festgestelltem SPF und wichtigen sozialstrukturellen Merkmalen herauszuarbeiten.

Die Jugendstudie „Aufwachsen mit Behinderung“ baut im Hinblick auf die Befragungsmethoden auf die Erfahrungen der von 2016 bis 2018 am DJI durchgeführten und von der DFG geförderten „Methodenstudie zur Entwicklung inklusiver quantitativer Forschungsstrategien in der Jugendforschung am Beispiel von Freundschaften und Peerbeziehungen von Jugendlichen mit Behinderungen“ auf (www.dji.de/InklusiveMethoden). Als methodologisches Leitprinzip gilt dabei, dass die Erhebungsmethoden und –instrumente an die Möglichkeiten der teilnehmenden Jugendlichen angepasst werden sollen (Brodersen u.a. 2019). In Erweiterung eines standardisierten unimodalen Fragebogen-Designs gehen die Forscher_innen in dieser Studie mittels eines flexiblen Einsatzes unterschiedlicher Befragungsmodi und angepasster Instrumente so auf die Teilnehmer_innen ein, dass sich möglichst viele Jugendliche mit unterschiedlichen Formen und Graden von Behinderung an der Erhebung beteiligen können.

 

Ergebnisbericht "Aufwachsen und Alltagserfahrungen von Jugendlichen mit Behinderung":
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Folien von der Abschlusstagung vom 04.05.2022 im Literaturhaus München zum Download

Brodersen, Folke/Ebner, Sandra/Schütz, Sandra (2019): „How to …?“ – Methodische Anregungen für quantitative Erhebungen mit Jugendlichen mit Behinderung. Erkenntnisse aus dem Projekt „Inklusive Methoden“. München (PDF)

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2011): Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bonn

Markowetz, Reinhard (2016): Freizeit. In: Hedderich, Ingeborg/Hollenweger, Judith/Biewer, Gottfried/Markowetz, Reinhard (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn, S. 459-465

Steinwede, Jacob/Kersting, Anne/Harand, Julia/Schröder, Helmut/Schäfers, Markus/Schachler, Viviane (2018): Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung. 2. Zwischenbericht. Bonn

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