Der Krieg in der Ukraine hat umfangreiche Flüchtlingsbewegungen ausgelöst, auch nach Deutschland. Dies stellt nicht nur die Betroffenen, v.a. Kinder, Jugendliche und Frauen, vor große Herausforderungen, sondern auch die mit ihnen befassten Institutionen und Fachkräfte. Um informierte politische Entscheidungen treffen zu können, braucht es aktuelle Diagnosen zur Situation der Menschen und ihrer Bedarfe.
Das abteilungsübergreifende Projekt „Ukraine-Forschung am DJI (U-Fo)“ setzt hier an. Das Projekt ist in drei Teilprojekten organisiert, in die alle fünf Fachabteilungen des DJI eingebunden sind. Im Zeitraum 01.09.2022-28.02.2023 (Teilprojekt 2 bis 30.06.2023) werden zielgruppenspezifische Bedarfsanalysen durchgeführt und der Umgang von Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe, kommunalen Verwaltungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren mit den Herausforderungen der Fluchtbewegungen erhoben. Ebenfalls Gegenstand der Befragungen sind bereits greifende Unterstützungsangebote und weitere Handlungsbedarfe. Die Ergebnisse und hieraus abgeleitete politische Handlungsempfehlungen werden in einem Projektbericht zusammengefasst.
Der Krieg in der Ukraine stellt nicht nur eine Zäsur für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik dar, sondern schafft aufgrund der dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen auch Herausforderungen für die Sozial-, Familien- und Bildungspolitik. Deutschland kann dabei nur bedingt auf Erfahrungen aus früheren Fluchtwellen zurückgreifen, u.a. wegen der Abweichungen bei demografischer Komposition und aufenthaltsrechtlichem Status der Geflüchteten. Zwischen Ende Februar und dem 10. Oktober 2022 wurden 1.004.026 Geflüchtete aus der Ukraine im Ausländerzentralregister registriert, wobei die tatsächliche Zahl der Geflüchteten höher liegen dürfte. Auch genaue Zahlen zu den inzwischen in andere EU-Länder weitergereisten oder in die Ukraine zurückgekehrten Menschen sind nicht bekannt. Rund 65% der erwachsenen Kriegsflüchtlinge sind Frauen, rund 31% der Geflüchteten sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.[1] Das Bildungsniveau der erwachsenen Flüchtlinge ist hoch und damit auch das Integrationspotenzial, allerdings sind die Bleibeabsichten ungeklärt (Brücker et al. 2022).[2] Viele Menschen leiden an den psychischen Folgen von Krieg und Flucht.
Das DJI widmet sich diesen Fragen im abteilungsübergreifenden, alle fünf Fachabteilungen umfassenden Projekt UA-Fo (Ukraine-Forschung am DJI) im Zeitraum 01.09.2022-28.02.2023 (Teilprojekt 2 bis 30.06.2023).
Das Projekt ist in drei Teilprojekten (TP) mit unterschiedlichen Zielgruppen, Forschungsfragen, Methoden und Zeitplänen organisiert.
- Teilprojekt 1 „Kommunale Bildungsbüros und Jugendämter“ (Leitung: Max Reinhardt, FSP ÜJ)
- Teilprojekt 2 „Kitas und ukrainische Mütter mit Kindern im Alter von unter sieben Jahren“ (Leitung: Alexandra Langmeyer, Laura Castiglioni, Christina Boll, F & K1)
- Teilprojekt 3 „Ukrainische Jugendliche in Deutschland“ (Leitung: Sophia Chabursky; K1)
Das Fluchtgeschehen und seine Auswirkungen auf die deutsche Gesellschaft werfen zahlreiche Forschungsfragen auf. Neben einer zielgruppenspezifischen Bedarfsanalyse ist dabei nach institutionellen Bewältigungsprozessen und Ressourcen zu fragen, etwa inwieweit passende Unterstützungsangebote in der Kinder- und Jugendhilfe schon greifen oder noch entwickelt werden müssen.
Der Abschlussbericht „Ukrainische Geflüchtete in Deutschland. Erhebungen zur Zielgruppe und zu kommunalen Betreuungs- und Unterstützungsstrukturen“ ist erschienen.
Wie der Abschlussbericht zeigt, bringen ukrainische Kinder und Jugendliche und ihre Mütter aufgrund ihrer Flucht belastende Erfahrungen mit. Für sie steht eine Normalisierung des Alltags im Vordergrund. Hierzu zählen eine längerfristige Unterkunft, eine schnelle Integration in die Bildungssysteme wie Kita und Schule, der Aufbau von Freundschaften in Deutschland sowie die Pflege der Freundschaften in der Ukraine, die Aufnahme von Freizeitaktivitäten, aber auch der der Spracherwerb. Die Kommunen, ihre Verwaltungseinheiten (Bildungskoordination, Migrations-, Jugend- und Gesundheitsämter), die Zivilgesellschaft und Einrichtungen wie Kitas und Schule leisten durch zahlreiche Bildungs-, Freizeit- und Informationsangebote wertvolle Integrations- und Vernetzungsarbeit, handeln jedoch vor dem Hintergrund knapper Ressourcen. Dies zeigt sich auch bei Kindertageseinrichtungen, die von nicht gedeckten Bedarfen pädagogischen Personals berichten. Auch die sprachlichen Hürden bei der Arbeit mit den Kindern und deren Eltern stellen große Herausforderungen für die Einrichtungen dar. Ukrainische Mütter mit Kindern im Vorschulalter konnten bereits mehrheitlich Kontakt zu Einheimischen und anderen Ukrainerinnen und Ukrainern an ihrem Wohnort finden. Jedoch spiegeln sich hohe Belastungen in ihren Werten des psychischen Wohlbefindens wider. Unterstützungsangebote können sie teilweise deshalb nicht in Anspruch nehmen, weil Faktoren wie eine fehlende Kinderbetreuung oder Unkenntnis es verhindern. Auch schaffen es die meisten von ihnen (noch) nicht, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, obwohl der Wunsch danach vorhanden ist.
Überblick über die Inhalte des Abschlussberichts:
(1) Der Bericht präsentiert Befunde zu kommunalen Unterstützungsstrukturen auf der Basis von qualitativen Interviews mit 25 Leitungen und Mitarbeitenden aus der kommunalen Verwaltung in 10 Kommunen und mit elf zivilgesellschaftlichen Akteuren. Themen sind Herausforderungen und Gelingensbedingungen bei der Bildungsintegration geflüchteter Kinder und Jugendlicher in die Kita und die Schule bis hin zu Freizeit- und Sprachangeboten. In der quantitativen Befragung Jugendhilfe und sozialer Wandel (JHSW) wurden bundesweit Leitungen der Jugendämter zu Herausforderungen durch die Zuwanderung aus der Ukraine befragt.
(2) Des Weiteren werden die Ergebnisse von zwei quantitativen Befragungen dargestellt, einer Befragung von 777 Müttern mit Kindern im Alter zwischen 0 und 6 Jahren und einer Befragung von 621 Kitaleitungen. Themen der Mütterbefragung sind die Lebenssituation und das Wohlbefinden der Mütter und ihrer Kinder sowie deren Kenntnis und Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten. Mit Blick auf die Kitaleitungsbefragung werden Ergebnisse zu Herausforderungen und (nicht gedeckten) Bedarfen von Kindertageseinrichtungen herausgearbeitet, die durch die Aufnahme aus der Ukraine geflüchteter Kinder entstehen.
(3) Die Themen einer Befragung von Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren waren Fluchtmotivation, Fluchtablauf und Ankunftserfahrungen, die Erfahrungen mit dem deutschen Bildungssystem, die sozialen Beziehungen der Jugendlichen, ihre Freizeitgestaltung, ihre Bleibeabsichten, ihre psychische Gesundheit sowie ihr Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Insgesamt wurden 25 qualitative, leitfadengestützte Interviews geführt.
Ukrainische Geflüchtete in Deutschland. Erhebungen zur Zielgruppe und zu kommunalen Betreuungs- und Unterstützungsstrukturen.
Die Studie verfolgt zwei Ziele. Zum einen will sie Lebenssituation, Wohlergehen, Belastungen und deren Bewältigung sowie Unterstützungsbedarfe von Kindern, Jugendlichen und Familien, die aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind, erfassen. Dies geschieht durch einen multiperspektivischen Blick, indem sowohl die Zielgruppe als auch die mit ihnen arbeitenden Fachkräfte und ehrenamtlich Tätige befragt werden.
Zum anderen will die Studie die Handlungsmöglichkeiten verschiedener Institutionen eruieren. Sie erfragt den Umgang der Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und zivilgesellschaftlicher Akteure auf kommunaler Ebene mit den Herausforderungen des Fluchtgeschehens. Aufgegriffen werden hierbei auch institutionelle Lernprozesse im Zusammenhang mit früheren Fluchtbewegungen. In diesem Zusammenhang sollen bereits greifende Unterstützungsleistungen und deren Passung zu den Bedarfen der Kinder, Jugendlichen und Familien erfasst werden. Auch sollen kommunale Good Practice-Beispiele sowie weitere Handlungsbedarfe, u.a. bei Angeboten und im Bereich kommunale Kooperation und Vernetzung der Akteure, aufgezeigt werden.
Auf Basis dieser Ergebnisse wird ein Projektbericht erstellt, der neben der aktuellen Bestandsaufnahme zur Situation der Zielgruppe auch sozial-, familien- und bildungspolitische Handlungsempfehlungen ableitet.
Nachgehende wissenschaftliche Verwertungen (z.B. in Fachzeitschriften) sind geplant.
[1] https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/ukrainische-fluechtlinge.html
[2] Brücker, Herbert/Ette, Andreas/Grabka, Markus M./Kosyakova, Yuliya/Niehues, Wenke/Rother, Nina/Spieß, C. Katharina/Zinn, Sabine/Bujard, Martin/Cardozo, Adriana/Décieux, Jean Philippe/Maddox, Amrei/Milewski, Nadja/Naderi, Robert/Sauer, Lenore/Schmitz, Sophia/Schwanhäuser, Silvia/Siegert, Manuel/Tanis, Kerstin/Steinhauer, Hans Walter (2023): Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland: Ergebnisse der ersten Welle der IAB-BiB/FReDA-BAMF-SOEP Befragung. In: IAB-Forschungsbericht, No. 2/2023