„Entscheidend ist, was wirklich in den Kitas passiert“

 

Wie sich Qualität in der Kindertagesbetreuung kontrollieren lässt, was gute Erzieherinnen und Erzieher auszeichnet und warum es die Entwicklungspsychologin Margarita Stolarova für notwendig hält, frühpädagogische Fachkräfte deutlich besser zu bezahlen.

DJI Impulse: Frau Stolarova, woran können Sie eine gute Kita erkennen?
Dr. Margarita Stolarova: Als Mutter kann ich das schnell und eindeutig beantworten: Dort, wo sich meine Kinder wohlfühlen, wo sie gesehen werden und wo sie gerne hingehen, dort, wo sie sich entfalten und entwickeln können, ist eine gute Kita. Als Wissenschaftlerin fällt mir eine eindeutige Antwort hingegen schwerer. Denn in der Forschung wird heftig darüber gestritten, welche Kriterien eine gute Kita erfüllen muss und wie man diese erfassen, kontrollieren und optimieren kann. Wichtig ist: Wie wird das Kind begrüßt? Wie spricht die Erzieherin oder der Erzieher mit den Eltern? Ist die Atmosphäre im Gruppenraum angenehm und gelassen? Was passiert in den unausweichlichen Stresssituationen? Gibt es Rückzugsmöglichkeiten? Werden die Kinder mit ihren Interessen und Bedürfnissen wahr- und ernstgenommen – oder müssen sie funktionieren? Die Qualifikation des Personals ist deshalb aus meiner Sicht wesentlich. Gute Erzieherinnen und Erzieher behandeln Kinder respektvoll, unterstützen sie, sind ihnen zugewandt und lassen ihnen ihre Freiheiten.

Wie gut sind die Krippen und Kindergärten in Deutschland?
Die Qualitätsunterschiede sind sehr groß. Es gibt hervorragende Einrichtungen, aber auch Kitas, die der Entwicklung des Kindes schaden können. Auch innerhalb einer Einrichtung kann es erhebliche Qualitätsunterschiede geben, denn die Arbeit in einzelnen Gruppen oder Teams kann sehr unterschiedlich sein. Ihr Team ist immer wieder für Forschungszwecke in Krippen und Kindergärten.

Margarita Stolarova zu Besuch in einer Kita (Foto: Katrin Binner)

Es gibt in Deutschland hervorragende Einrichtungen, aber auch Kitas, die der Entwicklung des Kindes schaden können.

Ihr Team ist immer wieder für Forschungszwecke in Krippen und Kindergärten.Sind Sie selbst schon einmal auf Missstände gestoßen?
In der Tat treffen wir bisweilen auch auf Missstände. Manchmal entspricht bei der Interaktion zwischen Erzieherin und Kind einiges nicht den Bedürfnissen der Kinder. Es ist erstaunlich, wie autoritär Interaktionen in der Kita ablaufen können und wie wenig individualisiert pädagogischer Alltag sein kann. Wir beobachten teilweise, dass sich einzelne Kinder oder sogar Kindergruppen über längere Zeiträume unwohl fühlen, ausgeschlossen oder beschämt werden. Unter solchen Umständen kann Entwicklungsförderung nicht funktionieren.

Warum ist eine individualisierte Pädagogik so wichtig?
Wir wissen aus der Forschung, dass es dem Kind gerade dann besonders gut geht, wenn es sich sicher fühlt. Dafür spielt die Interaktion zwischen Kind und Fachkraft eine entscheidende Rolle. Ein Kind, das keinen Trost erfährt, wenn es traurig ist, wird nicht in der Lage sein, sich frei zu entfalten. Es steht unter emotionalem Stress. Wichtig sind deshalb – bei aller Bedeutung der Kindergruppe als solche – auch kindbezogene individuelle Interaktionen, bei denen die Fachkraft das einzelne Kind direkt anspricht oder sich aus einer Alltagssituation ein Gespräch entwickelt. Das Wohlbefinden des Kindes ist eine notwendige Voraussetzung für das Lernen. Kinder, die sich wohlfühlen, sind aufgeschlossen, Neues zu erfahren und zu entdecken. Sie können sich einbringen, sich als selbstwirksam erleben und dadurch auch weiterentwickeln.

Maßgeblich für eine positive Entwicklung und Bildung des Kindes ist also die konkrete Zuwendung, die es in der Kita erlebt?
Ja, in der Wissenschaft nennen wir das oft „Beziehungs-  und Interaktionsqualität“. Alle Kinder haben ein Recht auf professionelle und liebevolle Zuwendung, egal ob sie in behüteten, bildungsnahen oder in benachteiligten familiären Kontexten aufwachsen.  Am Ende kommt es auf das Fachwissen und die emotionale sowie soziale Kompetenz der Erzieherinnen und Erzieher an. Je mehr Belastung Kinder in ihrem familiären und sozialen Umfeld erfahren, desto mehr sind frühpädagogische Fachkräfte auch als Bezugspersonen gefragt.

Sind die Erzieherinnen und Erzieher dafür ausreichend ausgebildet?
Die Erzieherausbildung in Deutschland ist anspruchsvoll, und die Kommunen wollen genau wissen, wer in den Kitas oder in der Tagespflege arbeitet. Auch für private Einrichtungen oder Elterninitiativen sind die Genehmigungsverfahren komplex – und das ist gut. Sie erhalten nur dann kommunale Zuschüsse, wenn sie gewisse Standards bei der Ausbildung des eingestellten Personals, bei den Räumlichkeiten, bei der Hygiene und vieles mehr erfüllen. Die strukturelle Qualität wird in Deutschland streng geprüft. Aber im Unterschied zu anderen Ländern kontrolliert niemand systematisch, was wirklich in den Kitas passiert und inwiefern die Kinder tatsächlich von der angebotenen Betreuung und Bildung profitieren, obwohl das entscheidend ist.

In Deutschland wehrt man sich gegen standardisierte Tests für Dreijährige und warnt vor einem Baby-Pisa – zu Recht! Allerdings gibt es andere und bessere Methoden der Qualitätsbeobachtung in Kitas.

Wie prüfen das andere Länder?
In Großbritannien und den USA werden beispielsweise regelmäßig die Kompetenzen des Kindes überprüft. In Deutschland wehrt man sich gegen solche standardisierten Tests für Dreijährige und warnt vor einem Baby-Pisa – zu Recht! Allerdings gibt es andere und bessere Methoden der Qualitätsbeobachtung in Kitas. Sie fragen weniger nach den Ergebnissen von Bildungsprozessen, sondern vielmehr nach der Qualität des Prozesses, auch nach dem individuellen Wohlbefinden und der Involviertheit von Kindern. In einer aktuellen Methodenstudie des Deutschen Jugendinstituts (DJI), bei der wir herausfinden wollen, was Qualität in der Kindertagesbetreuung bedeutet und wie sie sich messen lässt, sind wir auf vielversprechende Ansätze gestoßen.

Haben Sie ein Beispiel?
Etwa das „Leuvener Modell“ der Forschergruppe rund um den belgischen Erziehungswissenschaftler Ferre Laevers. Sie hat Beobachtungsbögen zur Einschätzung der Qualität von Lern-  und Bildungsprozessen entwickelt. Diese können von Außenstehenden, beispielsweise zu Forschungszwecken, oder auch von den Erzieherinnen und Erziehern selbst mit dem Ziel der Qualitätsüberprüfung eingesetzt werden. Der Vorteil dabei ist, dass weder Fachkraft noch Kind in eine Prüfungssituation geraten. Fachkräfte können vielmehr in regelmäßigen Abständen das emotionale Wohlbefinden und die Involviertheit jedes einzelnen Kindes einschätzen. Entwickeln sich die Werte positiv, weist das auf eine erfolgreiche und für dieses konkrete Kind angemessene pädagogische Arbeit hin. Stagnieren oder verschlechtern sich die Werte sogar, erkennen die Beteiligten den Handlungsbedarf.  Leitung, Fachkräfte und Eltern haben so eine hilfreiche gemeinsame Grundlage, um die individuelle Unterstützung für das Kind zu verbessern. Der Fokus liegt also nicht darauf, was Dreijährige können, sondern wie wohl oder unwohl sie sich fühlen und wie engagiert sie sich einbringen. Damit werden die Voraussetzungen für Lernen und Entfalten in den Vordergrund gerückt und im Idealfall zugleich systematisch verbessert, ohne dass Ressourcen für die bloße Feststellung von Qualität oder Qualitätsmängel aufgewendet werden.

Das klingt gut, aber ist so ein selbstorganisiertes Qualitätsmonitoring angesichts der Personalengpässe in den Kitas überhaupt ein realistisches Ziel?
Sie haben recht, gute pädagogische Qualität braucht auch angemessene Rahmenbedingungen. Viele Teams haben es wirklich schwer, unter den aktuellen Bedingungen gute pädagogische Arbeit zu leisten. Eine Erzieherin, die nur noch die Grundbedürfnisse der Kinder stillen kann, kann keine verlässliche, liebevolle Beziehung zu den Kindern aufbauen und sie auch nicht bilden. Ein guter Personalschlüssel – man versteht darunter, für wie viele Kinder eine Fachkraft jeweils verantwortlich ist – ist für die Qualität notwendig, aber allein eben nicht ausreichend. Ich kenne durchaus Einrichtungen, bei denen sich schon heute die pädagogische Leitung oder eine besonders erfahrene Kollegin Zeit nimmt, um Erzieherinnen oder Erzieher anzuleiten. Natürlich basiert das meist auf dem überdurchschnittlichen Engagement in diesen Einrichtungen. Es geht aber auch um eine bessere Aufgabenaufteilung im Team und eine Aufwertung von Leitungsfunktionen. Deshalb wären festgelegte Freistellungen für Leitungsaufgaben in Kitas sehr wichtig. Das gibt es bislang zu wenig und nicht strukturell verankert.

Bund und Länder müssen sich auf bundesweite Qualitätsstandards einigen, deren Einhaltung regelmäßig wissenschaftlich überprüft wird.

Wird das „Gute-Kita-Gesetz“ für mehr Qualität sorgen?
Das „Gute-Kita-Gesetz“ ist ein wichtiger, erster Schritt in die richtige Richtung. Immerhin zahlt der Bund innerhalb von vier Jahren 5,5 Milliarden Euro an die Länder, damit diese in die Frühe Bildung investieren können. Den einzelnen Ländern bleibt allerdings sehr viel Entscheidungsspielraum bei der Auswahl der Schwerpunkte ihrer Investitionen. Zudem werden Entscheidungen unter erheblichem zeitlichen, streckenweise auch budgetären Druck getroffen: Das verringert die Wahrscheinlichkeit, dass echte, auch auf die Prozessqualität zielende Verbesserungen umgesetzt werden. Stattdessen besteht die Gefahr, dass sich Länder und Entscheidungsträger auf einfach umzusetzende, potenziell politisch wirksame Maßnahmen, wie die Gebührenbefreiung, konzentrieren und dadurch die Chance vertan wird, komplexere, leisere, teurere, aber potenziell pädagogisch wirksamere Maßnahmen umzusetzen. Das könnte der Qualität von Kitas im schlimmsten Falle sogar schaden.

Wie meinen Sie das?
Die Analysen meiner DJI-Kollegin Christiane Meiner-Teubner zeigen, dass die ohnehin großen Qualitätsunterschiede in der Kindertagesbetreuung der Bundesländer durch das „Gute-Kita-Gesetz“ zusätzlich vergrößert werden könnten. Beispielsweise wenn Bundesländer lieber in die Gebührenfreiheit als in die Weiterentwicklung des Personals und den Personal-schlüssel investieren.

Was schlagen Sie stattdessen vor?
Bund und Länder müssen sich auf bundesweite Qualitätsstandards einigen, deren Einhaltung regelmäßig wissenschaftlich überprüft wird und auch finanziell gesichert ist. Wir brauchen bundesweite No-Gos. Das heißt unter anderem: Wir müssen die Bildungspläne im Kita-Bereich länderübergreifenden Mindestvorgaben unterstellen und uns auf notwendige Qualifikationen der frühpädagogischen Fachkräfte verständigen. Länder, Regionen und Sozialräume, die finanziell schlechter dastehen, dürfen nicht dauerhaft eine geringere Prozessqualität in der frühkindlichen Bildung und Betreuung in Kauf nehmen. Im Gegenteil: Dort, wo soziale Benachteiligung zu Hause ist, hat diese von besonders guter Qualität zu sein, um Bildungsgerechtigkeit von Anfang an zu ermöglichen.

Ich frage mich schon lange, warum pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen nicht in Anlehnung an die Bezahlung für Grundschullehrkräfte vergütet werden.

Eine zunehmend wichtige Qualifikation von Erzieherinnen und Erziehern ist die Sprachbildung. Dem Nationalen Bildungsbericht zufolge ist die Anzahl der Kinder mit Migrationshintergrund zwischen 2007 und 2017 um 54 Prozent gestiegen.
Die Frühe Sprachbildung ist auch deshalb in aller Munde, weil Studien zeigen, dass Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen in der Schule ganz schnell und dauerhaft abgehängt werden. Das ist verständlich: Sehr viele Bildungsprozesse, formelle wie informelle, werden sprachlich vermittelt. Dabei spielt es keine Rolle, ob Kinder aufgrund eines nicht-deutschen Familienhintergrunds, aufgrund von Bildungsarmut oder von spezifischen Sprachentwicklungsstörungen sprachliche Defizite aufweisen. Fest steht: Schon in der dritten Klasse sind ihre Kompetenzen im Lesen, Schreiben und auch im Rechnen um ein Vielfaches schlechter als bei Kindern, die gut Deutsch sprechen. Und das, obwohl die Mehrsprachigkeit allein keineswegs ein Problem für die Entwicklung des Kindes darstellt: Bildungsnahe, erfolgreich mehrsprachige Kinder, haben nicht nur keine Bildungsnachteile, sie haben sogar Vorteile, selbst dann, wenn sie in Deutschland Deutsch „nur“ als Zweitsprache erlernen.

Ihr wissenschaftliches Team unterstützt pädagogische Fachkräfte seit mehr als 15 Jahren dabei, den Spracherwerb von Kindern unter sechs Jahren zu fördern. Was sind Ihre Erfahrungen?
Es braucht mehr Gelassenheit im Umgang mit unterschiedlichen Sprachen und Kulturen. Es ist noch nicht lange her, da war es in vielen Kitas sogar verboten, eine andere Sprache als Deutsch zu sprechen. Das war gut gemeint: Man wollte die Kompetenzen in der Bildungssprache Deutsch fördern. Doch für mehrsprachig oder nicht-deutschsprachig aufwachsende Kinder war das natürlich fatal. Denn verbiete ich einem Zweijährigen, seine Muttersprache zu sprechen, verunmögliche ich ihm das Ankommen und Wohlfühlen in der Krippe. Auch heute gibt es noch viele unnötige Vorbehalte. Wir haben Kita-Leitungen beispielsweise gefragt: Würden Sie eine Erzieherin einstellen, die pädagogisch top ausgebildet ist, aber mit einem deutlichen Akzent Deutsch spricht? Viele reagierten skeptisch. Wir wissen aber, dass es für Kinder kein Problem ist, unterschiedliche sprachliche Vorbilder zu haben.

Einer DJI-Studie zufolge fehlen bis zum Jahr 2025 mehr als 300.000 Fachkräfte in der Frühen Bildung. Ist eine Verbesserung der Qualität der Frühen Bildung vor diesem Hintergrund nicht illusorisch?
In der Tat sind die Herausforderungen in der Frühen Bildung groß. Die Kindertagesbetreuung muss weiter ausgebaut werden, der Bedarf ist bei weitem nicht gestillt, gleichzeitig mangelt es schon jetzt an Fachkräften. Aus meiner Sicht gibt es nur einen Ausweg: Die Attraktivität des Berufsfeldes muss erhöht werden. Wir haben in den vergangenen Jahren allein mehr als 70 Bachelor-Studiengänge für Kleinkind- und Elementarpädagogen geschaffen, die hochqualifizierte Absolventinnen und Absolventen in die pädagogischen Einrichtungen schicken, ohne dort angemessen bezahlte Stellen für sie zu haben. Und wir verlangen von unseren hochqualifizierten, engagierten, staatlich anerkannten Erzieherinnen und Erziehern mit Berufsabschluss, dass sie Bildungsarbeit leisten, Familien beraten, komplexe pädagogische Konzepte umsetzen, ja gar Leitungsfunktionen übernehmen, ohne ihnen annähernd eine gerechte Bezahlstruktur anzubieten. Ich frage mich schon lange, warum pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen nicht in Anlehnung an die Bezahlung für Grundschullehrkräfte vergütet werden, wenn sie doch eine nicht minder komplexe, nicht weniger wichtige Bildungsarbeit leisten? Die Anforderungen an die Tätigkeit von pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen sind kontinuierlich gestiegen und werden unter komplexen sozialen Bedingungen weiter steigen. Unabhängig von den Zugangswegen zum Tätigkeitsfeld muss verantwortungsvolle pädagogische Arbeit angemessen vergütet werden und in vernünftigen Rahmenbedingungen ausgeübt werden. Es gibt noch viel zu tun!

Interview: Birgit Taffertshofer

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2019 der DJI Impulse „Frühe Bildung. Bilanz und Perspektiven für Deutschland“.

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