„In Kitas und Schulen müssen die Kompetenzen im Umgang mit Vielfalt gestärkt werden“
Warum Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz verpflichtende Angebote in der Aus- und Fortbildung der Fach- und Lehrkräfte fordert, wie sie gegen Rassismus an Schulen vorgehen will und wieso die Corona-Pandemie die Integrationspolitik neu herausfordert.
DJI: Frau Widmann-Mauz, in Deutschland entscheidet immer noch die soziale Herkunft über Bildungschancen. Das benachteiligt insbesondere auch Kinder mit Migrationshintergrund. Was unternimmt die Politik dagegen?
Annette Widmann-Mauz: In den letzten Monaten hat die Corona-Pandemie sehr deutlich gemacht, wie wichtig Kitas und Schulen sind, um faire Chancen zu schaffen – gerade für Kinder und Jugendliche mit besonderem Unterstützungsbedarf. Darum war es mir so wichtig, dass diese Kinder so bald wie möglich und verantwortbar wieder in Kitas und Schulen zurückkehren konnten. Um beim Homeschooling besser zu unterstützen, haben Bund und Länder beim Digitalpakt ein Sofortprogramm über 500 Millionen Euro geschnürt, damit alle Schülerinnen und Schüler zu Hause ein mobiles Endgerät haben und Schulen bei Online-Lehrinhalten unterstützt werden. Corona unterstreicht auch, wie sehr gute Bildung von engagierten Pädagoginnen und Pädagogen vor Ort abhängt. Die vielen Fach- und Lehrkräfte, die sich täglich dafür stark machen, alle Kinder mit guten Bildungsangeboten zu erreichen, leisten eine unersetzliche Arbeit. Das unterstützen Bund und Länder mit der Initiative „Schule macht stark“, die wir im Oktober aufgesetzt haben. Denn es geht um gute Bildungschancen für alle.
Der Kinder- und Jugendmigrationsreport 2020 des DJI zeigt: Die Heterogenität in deutschen Kitas und Schulen wird größer. Inzwischen erlernt jedes fünfte Kita-Kind zwischen drei Jahren und dem Schuleintritt Deutsch als Zweitsprache. Sind die Fach- und Lehrkräfte dafür ausreichend vorbereitet?
Die Anforderungen an pädagogische Fachkräfte in Kitas und an Lehrkräfte sind in den letzten Jahren gestiegen. Umfassender Bildungsauftrag, sprachliche Bildung fördern, Eltern einbeziehen, mit Diversität umgehen – all das sind Aufgaben, mit denen Fach- und Lehrkräfte von heute konfrontiert sind. Das muss sich auch in deren Aus- und Fortbildung widerspiegeln. Notwendig ist, dass Pädagoginnen und Pädagogen auf diese Herausforderungen in Kita und Schule bestmöglich vorbereitet werden. Sprachliche Bildung ist dabei ein ganz wichtiger Punkt, denn das ist die Voraussetzung für den späteren Bildungserfolg von Kindern – mit und ohne familiäre Einwanderungsgeschichte. Darauf weisen der Kinder- und Jugendmigrationsreport 2020 des Deutschen Jugendinstituts genauso wie der aktuelle nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland“ zurecht hin.
Nach DJI-Prognosen fehlen bis zum Jahr 2025 mehr als 300.000 Kita-Fachkräfte. Torpediert der Erziehermangel alle guten Ansätze?
Die gute Nachricht ist, dass seit 2006 die Zahl der Kitas um rund 8.000 gestiegen ist. Wir haben nun 53.000 Kitas, in denen knapp drei Millionen Kinder in der Betreuung sind. Das ist ein Rekordwert und eine gute Entwicklung, denn wir wollen allen Kindern ein Bildungsangebot machen und Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern. Gleichzeitig hat der Kitaplatz-Ausbau den Bedarf an ausgebildetem Personal erhöht. Deshalb muss alles darangesetzt werden, um mehr Menschen für den Erzieherberuf zu begeistern. Dazu gehört ganz elementar, die Attraktivität und Karriereperspektiven des Berufsbildes zu steigern. Die Bundesregierung unterstützt die Länder und Kita-Träger mit dem Programm „Fachkräfteoffensive Erzieherinnen und Erzieher: Nachwuchs gewinnen, Profis binden“, um mehr Fachkräfte zu gewinnen und im Beruf zu halten. Die Nachfrage nach dem Programm ist da: 2.500 Erzieherinnen und Erzieher erhalten eine vergütete praxisintegrierte Ausbildung, professionelle Anleitung und mit einem Aufstiegsbonus auch bessere berufliche und finanzielle Perspektiven.
Weitere Analysen zum Thema Migration
Seit 2015 steht die Integrationspolitik vor neuen Herausforderungen. Viele Menschen kamen in sehr kurzer Zeit. Gleichzeitig sind Ängste entstanden. Zuletzt wurde in der Gesellschaft viel über Rassismus und Rechtsextremismus diskutiert. Diskriminierung und Ausgrenzung fangen meist schon früh im alltäglichen Leben von Kindern an. Was muss sich ändern?
Die Debatten zum Twitter-Hashtag #meTwo und Black Lives Matter haben noch einmal gezeigt, dass Diskriminierung auch an Schulen immer wieder vorkommt. Sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte werden Opfer von Diskriminierungen und Rassismus. Wenn das passiert, brauchen Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte sowie Eltern Unterstützung. Dabei ist die Beratung und Hilfestellung vor Ort durch unabhängige und schulexterne Anlaufstellen wichtig. Solche Anlaufstellen sollte es bundesweit geben. Wichtig ist auch, dass wir die Betroffenen ernst nehmen und jede und jeder von uns Haltung gegen Diskriminierung und Rassismus zeigt. Auch die Kompetenzen in Kitas und Schulen im Umgang mit Vielfalt müssen gestärkt werden. Dafür sind verpflichtende Angebote in der Aus- und Fortbildung unerlässlich. Dafür setze ich mich bei der Kultusministerkonferenz ein. Wichtig ist auch, dass nicht nur unsere Schulbücher und Unterrichtsmaterialien, sondern auch die Rahmenlehrpläne die Vielfalt unserer Einwanderungsgesellschaft widerspiegeln. Dazu gebe ich gerade eine Studie in Auftrag.
Der öffentliche Dienst und die Verwaltung leben Vielfalt bislang nicht vor. Bisher haben dort nur 15 Prozent der Beschäftigten eine Einwanderungsgeschichte, während es bei den unter 25-Jährigen 34 Prozent sind. Müsste der Staat nicht mit gutem Beispiel vorangehen?
Ja, Vielfalt muss sich auch in den Behörden widerspiegeln. Denn Vielfalt ist ein Erfolgsfaktor und nutzt uns, auch im öffentlichen Dienst. Hier lohnt der Blick in die deutsche Wirtschaft. Dort beweisen viele Unternehmen, dass vielfältige Teams besser arbeiten, innovative Ideen entwickeln und Probleme effizienter lösen. Nötig ist eine Gesamtstrategie mit konkreten Maßnahmen für den öffentlichen Dienst, damit sich auch dort die gesellschaftliche Vielfalt ausdrückt. Daran arbeiten wir im Nationalen Aktionsplan Integration der Bundesregierung gemeinsam mit Migrantenorganisationen. Es geht um mehr als eine bessere Einstellungspolitik. Es geht darum, die Vielfalt unseres Landes und seiner klugen Köpfe zu nutzen. Es geht um Behörden- und Unternehmenskultur, um die Zukunft von Deutschland als wettbewerbsfähigem Wirtschaftsstandort, um Chancen statt Gleichgültigkeit und Ausgrenzung.
Die Corona-Krise verstärkt einerseits die soziale Ungleichheit, andererseits hat sie das Thema Migration und Integration etwas von der politischen Tagesordnung gedrängt. Wie erleben Sie das als Integrationsbeauftragte?
Corona beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung. Und natürlich hat die Pandemie auch drastische Auswirkungen für Menschen mit Einwanderungsgeschichte und Geflüchtete. Viele sind von Kurzarbeit und Arbeitsplatzverlust betroffen – etwa in der Hotel- oder Gastronomiebranche. Viele haben auch Sorge um ihren Ausbildungsplatz. Die Hilfen der Bundesregierung zur Unterstützung von Unternehmen oder zur Sicherung von Ausbildungsplätzen sind deshalb auch für sie wichtig. Corona hat auch viele Frauen in schwierige Lagen gebracht, besonders Mütter und Alleinerziehende, die zusätzlich prekär beschäftigt sind und mit Sprachbarrieren kämpfen. Gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit starten wir gerade ein Projekt, um diese Frauen gezielt zu beraten und beim Berufseinstieg zu unterstützen. Auch Integrationskurse konnten wegen Corona lange nicht stattfinden. Ich habe mich deshalb dafür stark gemacht, dass die Finanzierung von Online-Angeboten weiter möglich ist, zugleich aber auch schrittweise die Kurse wieder stattfinden. So stellen wir sicher, dass wir bei der Integration keine Zeit verlieren.
Interview: Birgit Taffertshofer
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2020 des Forschungsmagazins DJI Impulse mit dem Titel „Ungleiche Kindheit und Jugend – Wie junge Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland aufwachsen“ (Download PDF).