„An verbalen Bekenntnissen für bessere Bildung hat es in Deutschland noch nie gemangelt“


Für mehr Qualität in der frühen Bildung braucht es das Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen. Ekin Deligöz, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundes­familien­ministerium, über Reformimpulse durch das „KiTa-Qualitätsgesetz“ – und darüber, was passieren muss, damit mehr Kinder mit Migrationshintergrund die Kita besuchen und sich Fachkräfte wertgeschätzt und anerkannt fühlen.

DJI Impulse: Frau Deligöz, frühkindliche Bildung ist ein wichtiges Fundament für gesell­schaftliche Teilhabe und schulischen Erfolg. Trotzdem ist die Qualität der Kinder­tages­betreuung in Deutschland sehr unterschiedlich – und nicht überall reichen die Plätze. Was tut die Politik, um das zu ändern?

Ekin Deligöz: Dazu möchte ich kurz ausholen. Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, als wir über den Kita- Ausbau und Rechtsansprüche gestritten haben. Damals mussten erst einmal kulturelle Hürden überwunden werden, zunächst beim Kindergarten, dann bei den unter 3-Jährigen. Eine Veranstaltung ist mir in lebhafter Erinnerung: Ich sprach über frühkindliche Bildung und darüber, was wir aus wissenschaftlicher Sicht über Lernfenster und Chancengerechtigkeit wissen. Eine Dame aus dem Publikum schmetterte mir entgegen: „Sie wollen ja nur den stillenden Müttern ihre Kinder von der Brust reißen und die Betreuung verstaatlichen!“ Diese ideologischen Kämpfe haben Deutschland lange ausgebremst. Als dann der Rechtsanspruch wirksam wurde, war der Ausbaubedarf schon sehr groß. In dieser Phase wandelte sich alles in einer Wahnsinns­geschwindigkeit – das hat das System stellenweise überfordert. Inzwischen gibt es in Deutschland in der frühkindlichen Bildung mehr Erwerbstätige als in der Automobilindustrie, über 860.000 Menschen! Seit 2006 hat sich die Anzahl der Menschen verdoppelt, die in diesem Bereich arbeiten. Es bleibt aber noch viel zu tun, gerade bei der Qualität.

Ekin Deligöz ist seit Dezember 2021 Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und Nationale Kinderchancen- Koordinatorin. (Foto: Martin Ebert)

Ekin Deligöz ist bereits seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags. Von 2002 bis 2005 war sie Parlamentarische Geschäftsführerin, von 2020 bis 2021 kinder- und familienpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Deligöz wurde 1971 in der Türkei geboren und kam mit ihrer Familie 1979 nach Deutschland. Nach ihrem Abitur studierte sie Verwaltungswissenschaften an den Universitäten Konstanz und Wien.

Kindertageseinrichtungen sind eigentlich Ländersache, dennoch hat der Bund das
Thema in den letzten Jahren zunehmend an sich gezogen. Warum?

Die Haltung der Länder gegenüber dem Bund bei Bildungsthemen ist oft: Mischt euch nicht in unsere Angelegenheiten ein. Wenn wir uns aber immer dara halten würden, ginge der Fortschritt nur im Schneckentempo voran. Es braucht diesen Push-Faktor des Bundes. Beispiel Ganztagsschulen und bedarfsgerechte Ganztagsangebote: Die Idee war lange da, auch eine allgemeine gesetzliche Verpflichtung. In vielen westlichen Bundesländern führte die aber eben nicht zu einer Bedarfsdeckung. Jetzt kommt ab 2026 über das Achte Sozialgesetzbuch (SGB VIII) ein fester Rechtsanspruch. An Bekenntnissen für bessere Bildung hat es in Deutschland noch nie gemangelt – wohl aber an ambitionierten Vorgaben. Bei der Angebotsqualität setzt der Bund kräftige, finanzielle Impulse, aktuell mit dem „KiTa-Qualitätsgesetz“. 

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Mittel, die der Bund beim „Gute-KiTa-Gesetz“ von 2018 und beim aktuellen „KiTa-Qualitätsgesetz“ bereitstellt, zu mehr Beitragsfreiheit geführt haben. Das Geld fließt teils gar nicht in die Einrichtungen, sondern kommt den Eltern zugute, unabhängig von deren wirtschaftlicher Situation. Eine ärgerliche Fehlentwicklung?
Wenn es darum geht, mehr Menschen davon zu überzeugen, dass sie ihre Kinder früh in eine Kita geben, kann der monatliche Beitrag durchaus ein Hemmfaktor sein. Die Eltern – meist die Mütter – rechnen das durch und kommen zu dem Schluss: Ich kann sowieso nur Teilzeit arbeiten, weil ich nachmittags die Kinder abholen muss. Das bisschen, was bei Ehegattensplitting und Steuerklasse 5 übrig bleibt, würde komplett für die Betreuungskosten draufgehen. In etlichen Familien bleiben die Kinder dann lieber ein Jahr länger zu Hause. Das gilt gerade für untere Einkommen. Da finde ich, dass Beitragsstaffelung und auch Beitragsbefreiungen notwendige Voraussetzungen für mehr Teilhabe sind – und das ist ja dann auch im SGB VIII geregelt worden. Wenn ich aber die Kosten für alle Eltern abschaffe, profitieren auch Besserverdienende. Die gründen dann teilweise private Einrichtungen, zahlen dort gerne hohe Gebühren – und holen ihre Kinder auf diese Weise aus dem sozialen System raus. Aus meiner Sicht keine gute Entwicklung.

Die Kommunen waren lange sehr zurückhaltend, auf bestimmte Familien überhaupt aktiv zuzugehen – auch weil Plätze teuer und knapp sind.

Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund nehmen in in Deutschland dem nationalen Bildungsbericht nach – trotz Rechtsanspruch – prozentual deutlich seltener an frühkindlicher Betreuung teil. Wie könnte man das ändern?
Die Kita-Teilnahmequote bei Kindern ab 3 Jahren liegt deutschlandweit inzwischen bei rund 97 Prozent. Bei den unter 3-Jährigen sieht das etwas anders aus. Da fallen bestimmte Bevölkerungsgruppen auffällig zurück. Ich persönlich denke, dass das viel mit fehlendem Zugang zu tun hat. Die Kommunen waren lange sehr zurückhaltend, auf bestimmte Familien überhaupt aktiv zuzugehen – auch weil Plätze teuer und knapp sind. Das ändert sich nun langsam. Dort, wo es proaktive Ansprachen gibt, da steigt die Teilnahmequote oder ist bereits genauso hoch wie bei deutschen Vergleichsfamilien. Das heißt: Wir brauchen mehr zielgruppenspezifische Kontaktaufnahmen und natürlich mehr Plätze in Wohnortnähe.
 

Die Zahl der Kinder, die zu Hause eine andere Sprache als Deutsch sprechen, nimmt seit Jahren zu. Dennoch hat der Bund Ende 2022 die „Sprach-Kitas“ auslaufen lassen. Wieso wurde dieses erfolgreiche Programm nicht verstetigt?
Ich verstehe den Frust bei diesem Thema – ich kenne aber auch unsere Verfassung. Die besagt, dass der Bund nicht befugt ist, klassische Länderaufgaben dauerhaft zu finanzieren. In diesem Fall war es ein Ende mit Ansage – wie das bei Bundesmodellprogrammen zwangsläufig ist. Schon mit der Freigabe der Mittel wurde die befristete Laufzeit kommuniziert. Mir scheint, die Bundesländer konnten sich das teilweise nicht vorstellen, dass der Bund durchzieht, was er ankündigt. Ich möchte aber auch noch etwas anderes betonen: Die „Sprach-Kitas“ waren ausdrücklich als Multiplikator: innenprogramme konzipiert. Ausgewählte Fachkräfte sollten geschult werden, sodass sie dann zurück in die Einrichtungen gehen und dort die Kolleg:innen mitqualifizieren können. Es ging nie darum, Springer bereitzustellen, die bei Krankheit und anderen Ausfällen als zusätzliche Kraft bereitstehen. Dieser Aspekt trat aber zunehmend in den Vordergrund, während die Multiplikator: innenwirkung in den Hintergrund rückte. Erschwerend kamen Corona und eine große Krankheitswelle hinzu. In dieser Phase hat der Bund seinen Entschluss bekräftigt, das Programm auslaufen zu lassen. Um vor allem den Ländern entgegenzukommen, die das Konzept „Sprach-Kitas“ in eigener Regie fortsetzen wollten, hat er dann noch eine halbjährige Übergangsfinanzierung ermöglicht. Ich hoffe, dass tatsächlich möglichst viele Länder diese spezifische Sprachförderung in ihr Regelsystem übernehmen.

Wir brauchen mehr zielgruppenspezifische Kontaktaufnahmen und mehr Kita-Plätze in Wohnortnähe.

Eine der größten Herausforderungen für die Qualitätsentwicklung ist der massive Fachkräftemangel. Steht das System kurz vor dem „Kollaps“, wie neulich 150 Forschende in einem Aufruf warnten?
Erlauben Sie mir eine private Anmerkung: Als Mutter von zwei Kindern, die beide in der Kita waren, mag ich weder diese Superlative noch die ständigen Negativkonnotationen. Was signalisieren Sie denn den Eltern damit: „Bring dein Kind bloß nicht in eine Einrichtung, weil das schon fast eine Kindeswohlgefährdung ist“? Und wie mag sich das für Menschen anfühlen, die in diesem Bereich arbeiten? Soll das heißen, die machen ihren Job nicht gut? Die meisten Kindertageseinrichtungen laufen super, und Leitung und Erzieher:innen geben sich jeden Tag von Neuem wahnsinnig Mühe, dass es allen Kindern dort gut geht. Auch die allermeisten Eltern fühlen sich wohl in diesem System.

Es müssen endlich die Kosten für die schulische Ausbildung flächendeckend abgeschafft werden, und es braucht eine angemessene Vergütung in der praxisintegrierten Ausbildung von Erzieher:innen.

Nichtsdestotrotz ist der Beruf für viele nicht attraktiv – oder die Fachkräfte verlassen das Arbeitsfeld aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen wieder. Was muss passieren, damit die Qualität steigt und sich die Erzieher:innen wertgeschätzt und anerkannt fühlen?
Die Arbeit am Menschen wurde in Deutschland lange nicht adäquat bezahlt, das ist eine große Schwäche im System. Wenn wir über Anerkennung reden, reden wir auch über höhere Löhne. Tarifbindung ist ein hohes Gut. Davon brauchen wir in den Einrichtungen mehr, nicht weniger. Wir sollten die Fachkräfte außerdem kontinuierlich weiterbilden und auch Quereinsteiger:innen den Zugang ermöglichen. Bund und Länder arbeiten hier gerade an einer entsprechenden Fachkräftestrategie. Und: Es müssen endlich die Kosten für die schulische Ausbildung flächendeckend abgeschafft werden! Zudem braucht es eine angemessene Vergütung in der praxisintegrierten Ausbildung, und Erzieher:innen müssen im Arbeitsalltag endlich von Zusatzaufgaben entlastet werden, die nicht in den pädagogischen Bereich fallen – wie Verwaltung, Hauswirtschaft, Hausmeistertätigkeiten.

Kann der Bund da auch gesetzgeberisch Impulse setzen, oder bleibt Ihnen nur der Appell an die Kommunen und Träger?
Das „Kita-Qualitätsgesetz“, das mit einem Finanzpaket von vier Milliarden Euro einhergeht, ist ein solch starker Impuls: Es steht den Ländern beispielsweise frei, zusätzliche Vorbereitungszeiten für die Leitungsebene und die pädagogischen Kräfte einzuplanen. Wir wollen außerdem mit den Ländern ein weiteres, dann dauerhaftes Qualitätsgesetz verhandeln. Ich hoffe, dass wir dieses ambitionierte Vorhaben schaffen können. Bundesweite Standards gesetzlich dauerhaft zu verankern, das wäre eine große Chance.

Wo in Europa könnte sich die deutsche Familienpolitik noch Anregungen holen?
Da fallen mir viele Beispiele ein: Wir können uns die Early Excellence Centres in England anschauen. Oder wir gucken nach Finnland, das viel leistet im Bereich frühkindliche Bildung. Wir können auch nach Frankreich blicken, wo es von jeher eine Selbstverständlichkeit war, dass Kinder eine Einrichtung besuchen. Dort spielen Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Frauenerwerbstätigkeit traditionell eine viel größere Rolle als in Deutschland, was indirekt auch zur Stärkung der Familien geführt hat. Umgekehrt exportiert aber auch die deutsche Familienpolitik längst Ideen in den europäischen Raum. Auf unsere Frühen Hilfen gucken etliche Nachbarn neidisch und wollen das gerne nachmachen. Auch der Aspekt des Kinderschutzes ist bei uns mittlerweile stark gesetzlich verankert, das interessiert andere Länder ebenfalls brennend. Insgesamt finde ich es toll, dass wir in Europa in einem dynamisch lernenden System sind. Schließlich wollen wir alle das Beste für unsere Kinder erreichen.

Interview: Astrid Herbold

 

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2023 von DJI Impulse „Frühe Bildung weiterentwickeln - Wie es um die Kindertagesbetreuung in Deutschland steht und welche positiven Beispiele es aus anderen Ländern gibt“ (Download PDF).

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