Der Unermüdliche
Er hat die Geschicke des Deutschen Jugendinstituts fast zwei Jahrzehnte lang gelenkt – und dem Haus zu großer wissenschaftlicher Anerkennung und politischer Präsenz verholfen. Anfang Oktober geht DJI-Direktor und Ausnahmeforscher Thomas Rauschenbach in den Ruhestand.

Wissenschaftler werden? „Das habe ich mir als Student zunächst gar nicht zugetraut.“ Und Direktor des Deutschen Jugendinstituts? „Ich wäre um die Jahrtausendwende nicht auf die Idee gekommen, mich zu bewerben.“ Thomas Rauschenbach sitzt in seinem privaten Arbeitszimmer in Dortmund, lächelt, lehnt sich zurück. Der 68-Jährige, der fast 20 Jahre lang an der Spitze eines der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute Europas stand, muss ein bisschen ausholen. Immerhin ist einiges passiert seit der Kindheit in Schwaben in den 1950er-Jahren. Und während man zuhört, nachfragt, während sich ein stundenlanges, intensives Gespräch entwickelt, wird vieles klar: Wie biografische Wurzeln, frühe akademische Einflüsse und spätere Forschungsinteressen kongenial ineinandergriffen – und wie dann von 2002 an am Deutschen Jugendinstitut (DJI) einfach alles passte. Ein Glücksfall für Thomas Rauschenbach, und auch ein Glücksfall fürs DJI. Doch dazu später mehr.
Zunächst ist da die prägende Jugendzeit. Ein „Haut-und-Haar-Mensch“ sei er immer gewesen, sagt Rauschenbach. Einer, der alles mit Ehrgeiz und großem Einsatz anpackt. Das Tischtennisspiel, den Fußball, die Musik, das Klavier. Sein Elternhaus – der Vater Kaufmann, die Mutter Fremdsprachenkorrespondentin – ist bildungsorientiert. „Ein herausragender Schüler war ich dennoch nicht, ich blieb im Unterricht eher still und habe mich in der Schule oft unverstanden oder ungerecht behandelt gefühlt.“
Sein Ansatz: Bildung ist mehr als Schule
Die Hobbys, die Spiele auf der Straße, das ehrenamtliche Engagement in der Jugendarbeit: das ist seine eigentliche Schule des Lebens. Jahrzehnte später wird der Erziehungswissenschaftler daraus einen wichtigen neuen Theorieansatz machen: „Als Wissenschaftler wollte ich die Schulfixierung in der Pädagogik immer überwinden und einen breiteren Bildungsbegriff etablieren.“ Rauschenbach belegt eindrücklich die Bedeutung der „Alltagsbildung“ für Kinder und Jugendliche; der wissenschaftliche Nachhall ist enorm. Heute ist die Erforschung von informellen und nonformalen Bildungsprozessen ein zentrales Anliegen des Deutschen Jugendinstituts.
Schon 1999 hatte Rauschenbach, damals noch Professor an der Technischen Universität (TU) Dortmund, in der Monografie „Das sozialpädagogische Jahrhundert“ gefordert, dass nach dem Ausbau der Schulpädagogik das Augenmerk nun auf der Sozialpädagogik liegen müsse. „Das ist eines seiner großen Verdienste“, sagt sein Doktorvater Hans Thiersch. „Thomas hat die Etablierung und Professionalisierung der Sozialpädagogik jahrzehntelang vorangetrieben; die Erfolgsgeschichte des Fachs ist eng mit seinem Namen verknüpft.“
Den 86-jährigen Doktorvater und den ehemaligen Doktoranden verbindet seit Jahrzehnten eine große Freundschaft. Und nicht nur das. Als Lehrender, das hat Thomas Rauschenbach oft öffentlich betont, gibt Thiersch ihm während des Studiums in den 1970er-Jahren in Tübingen die entscheidenden Impulse, ermutigt ihn schließlich auch zu promovieren. Thiersch prägt damals den Begriff der „Lebensweltorientierung“ – gemeint ist, dass Sozialpädagoginnen und -pädagogen sich radikal einlassen müssen auf die Menschen, die sie erreichen wollen.
Seine Doktorandinnen und Doktoranden ermutigt Thiersch, in der damals noch jungen Disziplin eigene Forschungsfelder zu finden. Rauschenbach fühlt sich bestärkt und beflügelt: „Ich hatte das Gefühl, wissenschaftlich fast überall Neuland zu betreten.“ Von 1980 an wird er zunächst Geschäftsführer und Akademischer Rat am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen, 1981 beendet er seine Promotion, und 1984 wechselt er dann ganz in die Wissenschaft in den Arbeitsbereich von Hans Thiersch.
1988, mit 35 Jahren, erhält er einen Ruf an die Universität Dortmund, den er wenig später annimmt; die Familie zieht dann zusammen um. Thomas Rauschenbach ist seit mehr als vier Jahrzehnten verheiratet; seine Frau arbeitet als Journalistin, die beiden haben eine erwachsene Tochter. „Workaholics sind wir beide immer gewesen“, sagt Rauschenbach. Und dass es keine Urlaube gegeben habe, in denen er nicht stapelweise Arbeit dabeihatte. „So war das schon zu Studienzeiten.“
Raus aus dem Elfenbeinturm: Forschung für die Gesellschaft
Schnell macht Thomas Rauschenbach sich in den 1980er- und 1990er-Jahren einen Namen. Nicht nur, weil er im universitären Alltag unglaubliche organisatorische Sorgfalt und Durchsetzungsfähigkeit an den Tag legt. Nicht nur, weil er auf jede Sitzung, jedes Gremium, jeden Vortrag akribisch vorbereitet ist. Er forscht und publiziert unermüdlich, beispielsweise über Kinder- und Jugendhilfe, Jugend- und Wohlfahrtsverbände, soziale Berufe, das Ehrenamt und frühkindliche Bildung. Nebenbei knüpft er Netzwerke in Richtung Politik und Fachpraxis.
1997 gründet Rauschenbach an der TU Dortmund die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) und baut sie in den folgenden Jahren immer weiter aus. Das Ziel der AKJStat: Die Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik auszuwerten und die Ergebnisse in die Fachwelt rückzuspiegeln. „Die empirische Wende der Kinder- und Jugendhilfe hat Thomas Rauschenbach maßgeblich mitgestaltet“, sagt Karin Böllert, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Münster und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ). Die beiden kennen sich seit Jahrzehnten. Rauschenbach habe immer wieder deutlich gemacht, „dass man Fakten und Daten braucht, wenn man politisch etwas bewegen will“. Und in die Gesellschaft hineinwirken, das will der Sozialpädagogik-Professor aus Dortmund unbedingt. „Ich wollte nie im akademischen Elfenbeinturm sitzen“, sagt Rauschenbach.
Die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten locken nach München
Als am Deutschen Jugendinstitut 2002 ein Nachfolger für den scheidenden Direktor Ingo Richter gesucht wird, erhält Thomas Rauschenbach Anrufe aus der Politik und der Wissenschaft: ob er sich nicht bewerben wolle. Die Aufgabe reizt ihn – aber nach München umziehen? In Dortmund ist der Lebensmittelpunkt der Familie: Seine Frau hat eine leitende Position beim WDR, noch lebt die Tochter im Haus der Eltern. „Ich wusste von Anfang an, dass ich pendeln würde.“ Außerdem fühlt sich Thomas Rauschenbach auch seinem gewachsenen Team am Lehrstuhl und in der Arbeitsstelle verpflichtet. Schon im Bewerbungsgespräch schlägt er daher eine Kooperation zwischen DJI und TU Dortmund vor – bis heute sind die Institute über einen Forschungsverbund eng verknüpft.
Dass mit der Leitungsposition am Deutschen Jugendinstitut vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten einhergehen, aber auch eine große Verantwortung auf ihn zukommt, ist Rauschenbach sofort klar. Die Rahmenbedingungen sind gänzlich andere als an einer Universität. Das DJI hat damals ungefähr 250 Mitarbeitende, qua Auftrag und Definition ist es eng mit dem Bundesfamilienministerium verbunden. 1963 gegründet, bildet das Forschungsinstitut eine wichtige Schnittstelle zwischen Bund und Ländern, zwischen den Disziplinen Sozialpädagogik, Soziologie, Politologie und Psychologie, zwischen Politik, Wissenschaft und Fachpraxis. Groß angelegte Längsschnittstudien, interdisziplinäre Fachtagungen, Sozialberichterstattung, Publikationen: Das alles wird von München aus geplant, koordiniert und umgesetzt.
Allerdings ist Anfang der 2000er-Jahre bei der Profilierung und Sichtbarkeit des Deutschen Jugendinstituts noch „Luft nach oben“, so beschreibt es Rauschenbach. Als Direktor tritt er mit dem dezidierten Vorsatz an, das Institut zu verwissenschaftlichen, die bereits vorhandenen Forschungsbereiche auszuweiten und zu stärken sowie den Kontakt zu Politik und Öffentlichkeit zu intensivieren. Dass er alle dafür nötigen Fähigkeiten im Bereich Forschung, Networking und Management mitbringt, daran zweifelt niemand – außer er selbst manchmal. „Es gab anfangs viele Nächte, in denen ich wach lag, weil mir tausend Dinge durch den Kopf gingen.“ Selbst für einen Arbeitswütigen wie ihn scheint die Fülle der Aufgaben kaum zu bewältigen. „Und auch wenn von außen Lob kam, blieb ich selbstkritisch.“ Am Freitagabend nimmt Rauschenbach stets den letzten Flieger ins Ruhrgebiet, am Montagmorgen geht es zurück nach München. Und während der Woche noch ein- bis zweimal nach Berlin.
Korrigierende Impulse für die Bildungspolitik
Doch nicht nur für den Direktor persönlich, auch für das gesamte DJI-Team sind die Nuller-Jahre aufregend und anstrengend zugleich. Deutschland betreibt einen massiven Ausbau der Frühen Bildung, den das Deutsche Jugendinstitut mit umfangreichen Studien und Berechnungen begleitet. Mehr als einmal können die DJI-Forscherinnen und -Forscher der Politik wichtige, auch korrigierende Handlungsimpulse geben.
Jahre später wird das DJI beim Ausbau der Ganztagsschulen eine ähnlich zentrale Rolle übernehmen. Er sei vor Jahren mal bei einer Begutachtung durch den Wissenschaftsrat gefragt worden, was die Identität und das Spezifische des Deutschen Jugendinstituts ausmache, erzählt Rauschenbach. Er habe damals ganz spontan geantwortet: „Die Universitäten sind darauf spezialisiert, die Ursachen von sozialen Problemen zu analysieren. Das DJI bemüht sich, mit wissenschaftlichen Mitteln Lösungen für soziale Probleme zu entwickeln.“ Dass er als DJI-Direktor gesellschaftliche Veränderungen mitgestalten kann, unter anderem durch anwendungsorientierte, empirische Forschung, hat seinen persönlichen Ansprüchen sehr entsprochen: „Das fand ich immer sehr wohltuend.“
Grenzgänger zwischen Forschung, Politik und Fachpraxis
Während das DJI unter seiner Leitung wächst und wächst (die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat sich von 2002 bis heute nahezu verdoppelt), wird Rauschenbach zu einer viel gefragten Stimme in der Öffentlichkeit. Die Auflistung seiner Ehrenämter und Mitgliedschaften füllt Seiten, sie reicht von seiner Mitarbeit im Kuratorium der Bertelsmann Stiftung über die Bildungskammer der Evangelischen Kirche Deutschland bis zum Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beim Bundesfamilienministerium. Mehrmals ist Rauschenbach Vorsitzender der Sachverständigenkommission für die Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung sowie ständiger Gast im Bundesjugendkuratorium.
Von der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe, dem großen Netzwerk der freien und öffentlichen Jugendhilfe in Deutschland, wird er im Jahr 2018 mit einem Ehrenpreis als „Wandler zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis“ ausgezeichnet. Der hervorragende wissenschaftliche Ruf, den das DJI in der deutschen Forschungslandschaft mittlerweile genieße, sei eindeutig Thomas Rauschenbachs Verdienst, betont Karin Böllert: „Man kann heute in Deutschland keine Bildungsberichterstattung mehr machen, ohne dass das DJI mit am Tisch sitzt!“ Auch während der Pandemie hat sich das gezeigt: In den vergangenen Monaten arbeitete das DJI eng mit dem Robert Koch-Institut zusammen und beriet die Bundesregierung bezüglich Jugendhilfe, Kinderschutz und vor allem zum eingeschränkten Betreuungsangebot und zum Infektionsgeschehen in den Kindertageseinrichtungen.
Getragen vom Talent zur Hingabe und Begeisterung
Bleibt die letzte Frage: Wie hat Thomas Rauschenbach das alles geschafft – das immense Arbeitspensum, die ständig neuen Themen und Anforderungen? Wohl nur wegen seines Talents zur Hingabe und Begeisterung. Vor sieben Jahren ist Rauschenbach schwer erkrankt, Nierenversagen. Darüber spricht er nicht gerne. Die mehr als 15 Stunden, die er über Jahre jede Woche am Dialysegerät verbringen muss, nutzt er – natürlich – größtenteils zum konzentrierten Lesen und Schreiben. Vor einigen Monaten hat er eine neue Niere erhalten. „Es geht mir gut“, sagt er, und damit ist das Thema beendet.
Den Eintritt ins Rentenalter beginnt das Ehepaar Rauschenbach nun mit einem Umzug nach Stuttgart. Und dann? „Ich freue mich auf die neu gewonnene Freiheit. Auf längere Reisen ohne Manuskripte im Gepäck." Aber Thomas Rauschenbach denkt auch ans Weiterforschen. „Da sind seit den 1990ern einige Themen liegen geblieben, die mich interessieren“, sagt er und schmunzelt. An die wolle er sich demnächst dann vielleicht doch mal wieder ransetzen. Und dem von ihm aufgebauten Forschungsverbund an der TU Dortmund bleibt er vorerst auch erhalten.
Text: Astrid Herbold
Kontakt
81541 München