Genauer hinschauen und Stadtteile gezielt stärken

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern besuchen in Belgien besonders viele Kinder die Kindertagesbetreuung. Dennoch sind Kinder aus benachteiligten Familien auch dort unterrepräsentiert. In der Stadt Gent wollte man dies unbedingt ändern. Wie in Flandern eine lokale „Insel der Gleichheit“ entstand.

Von Michel Vandenbroeck 

Es ist weithin bekannt, dass der Zugang zu frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) gesellschaftlich äußerst ungleich verteilt ist (Vandenbroeck/Lazzari 2014). Im Jahr 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ihren Abschlussbericht über die sogenannte Kindergarantie, die sicherstellen soll, dass Kinder in Europa, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht sind, unter anderem Zugang zu Bildung bekommen. Dieser Bericht enthält ein ausführliches Kapitel darüber, wie zugänglich und erschwinglich frühkindliche Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder in Armutslagen sind. Zugrunde liegt eine vertiefte Analyse von Ungleichheiten bei der Inanspruchnahme von Angeboten der Kindertagesbetreuung in 26 Mitgliedsstaaten (Vandenbroeck 2019).

In jüngerer Vergangenheit hat die Europäische Kommission außerdem einen Vorschlag für eine Ratsempfehlung zur Überarbeitung der Barcelona-Ziele für die frühe Bildung ausgearbeitet. Dieser plädiert nicht nur dafür, das bereitzustellende Mindestangebot an Plätzen in der Kindertages­betreuung für die jüngsten Kinder weiter zu erhöhen, sodass nicht nur für 33 Prozent der Kinder unter 3 Jahren ein Platz zur Verfügung steht, sondern für 50 Prozent dieser Altersgruppe. Die Kommission schlägt zudem vor, eine Besuchszeit von mindestens 25 Stunden pro Woche pro Kind unter 3 Jahren anzusetzen, um die Beteiligungsquote zu berechnen (Europäische Kommission 2022). Sie geht auch auf einige der bekannten Barrieren ein, wie zum Beispiel geografische Ungleichheiten bei der Verfügbarkeit (es gibt mehr Plätze in Städten und wohlhabenden Vierteln als in ländlichen Gebieten und ärmeren Vierteln), bei den Kita-Kosten und bürokratischen Verfahren generell. Diese Faktoren führen in der Tendenz dazu, dass unbeabsichtigt die bereits Begünstigten weiter begünstigt werden. Darüber hinaus mahnt die Kommission zu Recht in Europa insgesamt fehlende Daten zur Bildungsbeteiligung an, die Aufschlüsse über die Beteiligung von Kindern aus vulnerablen oder benachteiligten Lebenslagen geben.

Wo es viele Betreuungsplätze gibt, nutzen auch Kinder aus benachteiligten Familien sie häufiger – aber auch dann bestehen Ungleichheiten

Einige grundlegende wissenschaftliche Erkenntnisse liegen dennoch mittlerweile vor: So können wir im Allgemeinen feststellen, dass relativ hohe Beteiligungsquoten – wie in Dänemark, Schweden, Luxemburg oder Portugal – oft mit einem niedrigen Ungleichheitsniveau verbunden sind. Eine geringe Verfügbarkeit von Plätzen in der Kindertagesbetreuung – wie in Ungarn, Rumänien oder Litauen – ist dagegen meist mit hoher sozialer Ungleichheit verbunden (Europäische Kommission 2020). Es gibt jedoch einige bemerkenswerte Ausnahmen: In Belgien (einschließlich Flandern), Frankreich und den Niederlanden gehen auch hohe Bildungsbeteiligungsquoten mit großer Ungleichheit einher.

Im Fall Flandern liegt die durchschnittliche Beteiligungsquote deutlich über dem europäischen Durchschnitt: 53 Prozent der Kinder zwischen 2 Monaten und 3 Jahren besuchen regelmäßig ein Angebot der Kindertagesbetreuung (Opgroeien 2022). Jedoch ist die Teilnahme gesellschaftlich höchst ungleich verteilt: Unter den Familien, die zu dem Fünftel mit dem höchsten Einkommen zählen, nutzen 70 Prozent Bildungs- und Betreuungsangebote für ihre Kinder, während dies nur auf 25 Prozent der Familien zutrifft, die zum Fünftel mit dem geringsten Einkommen gehören (Van Lancker 2022). Wie in vielen anderen europäischen Regionen ist dieser Umstand zum Teil auf geografische Ungleichheiten als Ursache zurückzuführen: Eine Analyse aller Gemeinden in Flandern hat gezeigt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen dem Durchschnittseinkommen und den im Umfeld verfügbaren Betreuungsplätzen besteht. Dies gilt nicht nur für die Kommunen Flanderns, sondern auch für die Stadtteile innerhalb der meisten der 13 größeren Städte Flanderns (Van Lancker/ Vandenbroeck 2019).

Wohlhabende Familien leben in Stadtteilen mit mehr Betreuungsplätzen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Familien mit höherem Einkommen eine größere Chance auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung in ihrer Nachbarschaft haben als Familien mit geringerem Einkommen. Befragungen von Eltern zeigen außerdem, dass Väter und Mütter mit Migrations­hintergrund in Flandern weniger Möglichkeiten haben, einen Platz gezielt auszuwählen oder überhaupt zu finden (Teppers u.a. 2019), und dass sie daher tendenziell weniger zufrieden mit ihren Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind (Janssen/Vandenbroeck 2021). Hinzu kommt, dass viele Kindertageseinrichtungen die verfügbaren Plätze jenen Familien anbieten, die sich zuerst anmelden. Infolgedessen werden Eltern mit stabilen Lebens- und Arbeitsverhältnissen gegenüber Eltern bevorzugt, die in prekären Verhältnissen leben.

Vor dem Hintergrund dieser Forschungsbefunde stellt sich vielen Akteur:innen die Frage: Wie können sozial benachteiligte, arme Familien und solche mit Migrationshintergrund besser erreicht werden? Wie können Zugangsbarrieren zur örtlichen Kindertagesbetreuung abgebaut werden? Lokale Ansätze aus Gent und Brüssel, die sich als wirksam erwiesen haben, liefern dazu wichtige Hinweise: Offenbar kann eine proaktive Lokalpolitik, die stadtteilspezifische Ungleichverteilungen in den Blick nimmt und dabei auf datengestützte Analysen der sozioökonomischen Situation und der Bedürfnisse von Familien sowie des lokalen frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsangebots zurückgreift, durchaus zu erfolgreichen Maßnahmen führen, die Ungleichheiten spürbar verringern.

Gent und Brüssel zeigen, dass Lokalpolitik stadtteilspezifische Ungleichheiten verringern kann.

In Gent wurden zusätzliche Angebote geschaffen und die Anmeldung zentralisiert

Gut darlegen lässt sich das am Beispiel Gent: In der zweitgrößten Stadt Belgiens gab es im Jahr 2022 für Kinder unter 3 Jahren 4.500 Plätze in der Kindertagesbetreuung, davon 1.300 in öffentlicher Trägerschaft, das heißt von der Kommune organisiert. Mit diesen 4.500 Plätzen, die für Kinder der genannten Altersgruppe bereitstehen, liegt die lokale Versorgungsquote bei knapp über 50 Prozent und damit etwas über dem flämischen Durchschnitt. Dies wurde zum Teil dadurch erreicht, dass die Kommune finanziell für 175 zusätzliche Plätze aufkommt, die nicht von der flämischen Regierung finanziert werden.

Noch wichtiger ist aber, dass die Kommunalverwaltung gezielt neue Plätze in Stadtgebieten mit erhöhtem sozialem Bedarf einrichtete. Infolgedessen ist Gent eine der wenigen Städte, in denen es nun keinen Zusammenhang mehr gibt zwischen dem Durchschnittseinkommen und dem Bildungs- und Betreuungsangebot in den einzelnen Stadtteilen. Die Kommunalverwaltung organisiert außerdem ein zentralisiertes Aufnahmesystem, in dem Angebot und Nachfrage für alle öffentlichen und privaten Angebote der Kindertagesbetreuung abgeglichen werden. Das Platzvergabemodell berücksichtigt wirtschaftliche Kriterien (Berufstätigkeit), soziale Kriterien (Arbeitslosigkeit, Armut) und Mobilitätskriterien (Erreichbarkeit der Einrichtung). Darüber hinaus kann die Kommune eigenmächtig die Elternbeiträge erlassen, was sie bei etwa 360 Kindern pro Jahr macht.

Im Ergebnis besuchen mittlerweile deutlich mehr Kinder aus benachteiligten Familien eine Kindertageseinrichtung: 42 Prozent der Eltern, die in Gent ein Angebot in Anspruch nehmen, sind in benachteiligten Lebenslagen, das heißt, es sind Väter und Mütter mit geringem Einkommen, arbeitslose oder alleinerziehende Eltern oder Eltern mit einer Behinderung. Zum Vergleich: Im übrigen Flandern beträgt ihr Anteil bei der Inanspruchnahme eines Betreuungsplatzes nur 30 Prozent. Insgesamt liegen 22 Prozent der Genter Bevölkerung mit ihrem Einkommen unter der Armutsgrenze. Bei den Haushalten, die ein Angebot der Kindertagesbetreuung nutzen, sind es sogar 32 Prozent. Das bedeutet, dass in ganz Flandern Familien in benachteiligten Lebenslagen in der Kindertagesbetreuung unterrepräsentiert sind, was dagegen in der Stadt Gent nicht mehr der Fall ist (Europäische Kommission 2020).

In Brüssel reagiert die Politik mit stadtteilorientierter Datenanalyse auf lokale Ungleichheiten

Auch andere belgische Städte haben damit begonnen, Nachfrage und Angebot genauer zu beobach­ten. Ein interessantes Beispiel ist Brüssel: Hier werden alle Anmeldungen für die mehr als 100 nieder­ländischsprachigen Kindertageseinrichtungen (ob kommunal organisiert oder nicht) ebenfalls in einem zentralen System erfasst. Das wiederum ermöglicht eine genaue Analyse von ungleichheits­relevanten Unterschieden zwischen den einzelnen Stadtteilen der Hauptstadt. Obwohl nach wie vor erhebliche soziale Ungleichheiten bestehen, wurde viel getan, um das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen (Vandenbroeck/Geens/ Berten 2014). Die umfassende Datenerhebung zeigt nun auch erste politische Auswirkungen, unter anderem bei den Prioritäten von Einrichtungsleitungen im Auf­nahme­verfahren. Und es verändern sich die Entscheidungen darüber, wo neue Plätze bevorzugt geschaffen werden (Devlieghere u.a. 2021). Diese Beispiele zeigen, dass es trotz anhaltender regionaler Ungleichheit auf lokaler Ebene durchaus möglich ist, ein gewisses Maß an Gleichheit herzustellen.

Devlieghere, Jochen u.a. (2021): Cartografie van de Nederlandstalige Gezinsvoorzieningen in Brussel. Brüssel/Gent

Europäische Kommission (2020): Feasibility Study for a Child Guarantee: Final Report. Brüssel

Europäische Kommission (2022): Proposal for a Council Recommendation on the Revision of the Barcelona Targets on Early Childhood Education and Care. Brüssel

Janssen, Jeroen / Spruyt, Bram / Vandenbroeck, Michel (2021): Is everybody happy? Exploring the predictability of parent satisfaction with childcare in Flanders. In: Early Childhood Research Quarterly, 55. Jg., S. 97–106

Opgroeien (2022): Themarapport kinderopvang

Teppers, Eveline / Schepers, Wouter / Van Regenmortel, Tine (2019): Het gebruik van en de behoefte aan kinderopvang voor baby’s en peuters jonger dan 3 jaar in het Vlaamse Gewest. Löwen

Vandenbroeck, Michel (2019): Feasibility Study for a Child Guarantee. Policy Paper on Early Childhood Education and Care. Unveröffentlichtes Manuskript. Brüssel

Vandenbroeck, Michel / Geens, Naomi / Berten, Hans (2014): The impact of policy measures and coaching on the availability and accessibility of early child care: A longitudinal study. In: International Journal of Social Welfare, 23. Jg., S. 69–79

Vandenbroeck, Michel / Lazzari, Arianna (2014): Accessibility of Early Childhood Education and Care: A state of affairs. In: European Early Childhood Education Research Journal, 22. Jg., H. 3, S. 327–335

Van Lancker, Wim (2022): Kinderopvang in Vlaanderen: beleidskeuzes en knelpunten. Hoorzitting Vlaams Parlement. Brüssel

Van Lancker, Wim / Vandenbroeck, Michel (2019): De verdeling van de kinderopvang in Vlaanderen en in de centrumsteden: spanning tussen de economische en sociale functie van kinderopvang. Löwen/Gent

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2023 von DJI Impulse „Frühe Bildung weiterentwickeln - Wie es um die Qualität der Kindertagesbetreuung in Deutschland steht und welche positiven Beispiele es aus anderen Ländern gibt“ (Download PDF).

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