Von der häuslichen Betreuung zum garantierten
Kita-Platz

Wie Kinder in den ersten Lebensjahren betreut werden, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. Damit gingen gesellschaftliche und politische Debatten einher, bei denen die Forschungsarbeiten des Deutschen Jugendinstituts eine bedeutende Rolle spielten.

Von Felix Berth, Dominik Hank, Bernhard Kalicki und Birgit Riedel

So richtig heftig wurde es zum ersten Mal in den politisch aufgeheizten frühen 1970er-Jahren. Damals sollte das Deutsche Jugendinstitut (DJI) im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit das Modellprojekt „Tagesmütter“ wissenschaftlich begleiten. Mehrere Hundert Kinder in den ersten drei Lebensjahren wurden dabei werktags stundenweise in der neu entwickelten Kindertagespflege untergebracht. Sie blieben also nicht, wie es traditionellen westdeutschen Rollenvorstellungen entsprochen hätte, rund um die Uhr bei Müttern und Großmüttern.

Der Modellversuch orientierte sich an einem schwedischen Vorbild, das die Frauenzeitschrift Brigitte im Januar 1973 bekannt gemacht hatte. „Wir fordern einen neuen Beruf: Tagesmutter“, lautete die Schlagzeile der Zeitschrift, die damit eine monatelange Kampagne für mehr außerfamiliäre Kindertagesbetreuung begann. Der Vorstoß, den das Bonner Bundesministerium wohlwollend aufnahm, war nicht – wie man heute in Zeiten des Fachkräftemangels meinen könnte – zur Förderung mütterlicher Erwerbstätigkeit konzipiert, sondern eher eine Reaktion darauf.

Forschungsgeschichte ist ein Stück weit Gesellschaftsgeschichte.

Kleinkinder waren mitunter stundenweise alleine zu Hause

Denn laut Statistischem Bundesamt (1971) war schon damals in knapp jeder dritten westdeutschen Familie, in der Kinder unter 6 Jahren lebten, die Mutter berufstätig. Das machte wegen fehlender Krippen und Kindergärten komplizierte private Betreuungsarrangements notwendig. So wurden zum Beispiel Großeltern, Bekannte aus der Nachbarschaft und ältere Geschwister in die Pflicht genommen, häufig in wechselnden und fragilen Konstellationen. Dabei kam es sogar vor, dass Kleinkinder stundenweise alleine zu Hause gelassen wurden – eine Praxis, die heute unvorstellbar erscheint, damals aber empirisch dokumentiert wurde: Die Ergebnisse einer Mikrozensus-Befragung in Baden-Württemberg (Familienwissenschaftliche Forschungsstelle 1985) lassen den Schluss zu, dass etwa 3 Prozent der Kinder unter 3 Jahren täglich bis zu einer Stunde allein blieben, weitere 2 Prozent sogar bis zu zwei Stunden. Was heute ein Fall für das Jugendamt wäre, war damals für einen (wenn auch kleinen) Teil der Kinder Alltag.

Eine Fremdbetreuung in den ersten drei Lebensjahren wurde scharf kritisiert

Das Modellprojekt „Tagesmütter“, das auf diese Realitäten reagierte, löste scharfe Kritik aus, insbesondere aus den Reihen der Unionsparteien sowie aus der westdeutschen Kinderärzt:innenschaft. So behaupteten die prominenten Pädiater Kurt Fölsing und Theodor Hellbrügge (1974): „Jedes Kind, das innerhalb der ersten 3 Lebensjahre über mehr als 3 Monate in Fremdversorgung, das heißt nicht in der eigenen Familie aufwächst, muß als Risiko-Kind angesehen werden.“ Der renommierte Kinderarzt Johannes Pechstein (1974) nannte das Tagesmütter-Projekt in der Süddeutschen Zeitung eine „gefährliche Institutionalisierung des Falschen“, bei der „immer mehr junge Eltern […] ihren Kindern entfremdet“ würden. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (Bäsler 1974) sekundierte: „Schäden, die aus dem Mangel einer solchen konstanten Zuwendung erwachsen, sind schwer und vielfältig; sie können später nur mit großem personalen Einsatz und dementsprechend auch nur mit großen personellen und finanziellen Mitteln und im Übrigen niemals vollständig und befriedigend wiedergutgemacht werden.“

Die wissenschaftliche Bilanz für die Tagespflege fiel positiv aus

Trotz dieser Widerstände begleitete das DJI die Tagesmütter, Mütter und Kinder mehrere Jahre lang. Am Ende stand die Bilanz, dass die Kleinkinder unter der außerfamiliären Betreuung nicht gelitten, sondern davon teilweise in ihrer sozialen Entwicklung sogar profitiert hätten (Arbeitsgruppe Tagesmütter 1980). Das Modellprojekt verschwand aus den Schlagzeilen, und im Rückblick wird deutlich, dass in diesem Konflikt die Karten neu gemischt wurden: Die Kinderärzteschaft, bis dahin in der Bundesrepublik unangefochten in ihrer Expertise für die ersten Lebensjahre, verlor die Debattenhoheit. Fortan waren Fachleute aus Psychologie, Pädagogik und Soziologie mindestens genauso gefragt (Hank/ Berth 2023, im Erscheinen). In diesem Konflikt um „gute“ Kindheit und „richtige“ Elternschaft wurde sichtbar, welche unterschiedlichen Positionen es zur Betreuung von Kleinkindern in Deutschland gab. Aus einer historischen Perspektive eignen sich die damaligen Debatten auch, um Wechselwirkungen zwischen Forschung, Politik und Gesellschaft zu analysieren. Denn Wissenschaften, egal ob Pädiatrie oder Pädagogik, regen mitunter politische Prozesse und Einstellungsänderungen in der Bevölkerung an – und werden selbst von Vorgaben der Politik und gesellschaftlichen Debatten geprägt. Forschungsgeschichte ist damit ein Stück weit Gesellschaftsgeschichte, und die Geschichte der Kindheitsforschung am DJI kann man als Teil der Entwicklung von Kindheit und Elternschaft in der Bundesrepublik lesen.

Eine Anleitung zum Hineinwachsen in die Gesellschaft: DJI-Forschende entwickelten das „Curriculum Soziales Lernen“

Das 1972 von DJI-Forschenden zusammen mit der pädagogischen Praxis entwickelte und in den frühen 1980er-Jahren überarbeitete „Curriculum Soziales Lernen“ lässt sich ebenfalls kindheitsgeschichtlich deuten. Diese didaktischen Einheiten waren für die Arbeit im Kindergarten gedacht und weitverbreitet. Anhand des Curriculums sollte das pädagogische Personal alltagsnahe Situationen und Themen der Kinder aufgreifen und ihnen die Gelegenheit bieten, ihre Lebenswelten genauer zu erkunden und mitzugestalten. Die Reihe mit Text- und Bildmaterial macht deutlich, welche Vorstellungen von einem gelungenen Aufwachsen die Forschenden damals hatten. Blättert man heute durch die Mappen, dann fallen neben den konventionellen Titeln „Wir haben Ferien“ und „Meine Familie und ich“ auch ungewöhnliche auf: Selbst Themen wie „Verlaufen in der Stadt“ und „Kinder werden abgelehnt“ sollten den Kindern nahegebracht werden.

Kinder werden als Menschen mit eigenen Sichtweisen betrachtet

Ein Beispiel: der Themenschwerpunkt „Verlaufen in der Stadt“ (Arbeitsgruppe Vorschulerziehung 1980). Zu dieser Mappe des Curriculums gehörten Fotoserien von Kindern, die im Großstadttrubel ihre Eltern verloren haben (links oben). Die durchaus düsteren Bilder sollten das Gespräch mit Kindern über die Schwierigkeiten solcher Situationen ermöglichen. Angeregt wurde auch eine Exkursion der ganzen Kindergartengruppe. Dabei sollten die Kinder von Passanten 20 Pfennige erbitten, um ihre Eltern anrufen zu können. Die Übung sollte ihnen helfen, falls sie sich tatsächlich einmal in der Stadt verlaufen würden. Das zugehörige große Plakat des Curriculums, das man im Kindergarten aufhängen konnte, zeichnete in einer Bildergeschichte die Erfahrungen nach, die ein Kind bei einem solchen Versuch machte: Eine Passantin verweigerte ihm das Geld, lieferte das Kind aber im Fundbüro ab. Eine andere gab ihm die zwei Groschen und begleitete es zu einer Telefonzelle (links unten). Auch dieses Material sollte das Gespräch des pädagogischen Personals mit den Kindern begleiten; gleichzeitig stand es für eine grundlegende Kritik an Erwachsenen, die Kinder nur als Objekte wie verlorene Regenschirme betrachteten. Kleine Kinder seien Menschen mit einem Recht auf eigene Sichtweisen, Erfahrungen und Haltungen, so die DJI-Forschenden um Prof. Dr. Jürgen Zimmer. Sie bräuchten nicht nur Bauklötze in einer geschützten Spielecke, sondern Kontakt mit der Realität einer komplexen Gesellschaft, in der man sich als Kind auch verlaufen kann. Damit orientierte sich das „Curriculum Soziales Lernen“ am Ziel einer gelingenden Sozialisation, die man – etwas vereinfacht – als erfolgreiches Hineinwachsen der Kinder in eine Gesellschaft mit all ihren Werten, Rollenvorstellungen und Widersprüchen verstehen kann. Den Forschenden kam es dabei nicht darauf an, kleine Untertanen zu erziehen, sondern Kindern auch kritische Haltungen und die Mitgestaltung ihrer Welt zu ermöglichen.

Von der Sozialisation zur Bildung

Dieser Fokus auf Sozialisation wurde rund zwei Jahrzehnte später von einem Fokus auf Bildungsfragen abgelöst, wie sich anhand weiterer Forschungsprojekte des DJI zur Sprachförderung und zu den „Bildungs- und Lerngeschichten“ nachvollziehen lässt. Insbesondere die Bildungs- und Lerngeschichten, die nach der Jahrtausendwende von DJI-Forschenden nach neuseeländischem Vorbild entwickelt und in der Praxis erprobt wurden, markieren diese Veränderung im Blick auf Kinder unter 6 Jahren. Dieses Material, das über Multiplikator:innen in der Praxis der Kindertageseinrichtungen bundesweit verbreitet wurde (und dort immer noch genutzt wird), wirkt auf den ersten Blick wie ein Beobachtungsinstrument für pädagogische Fachkräfte: Sie sollen lernbezogene Handlungen von Kindern, deren Mimik, Gestik und Interaktion beschreiben und dabei auf Bewertungen verzichten. Mehrere solcher Beobachtungen zusammen ermöglichen einem Kita-Team herauszufinden, welche Themen und Interessen ein Kind verfolgt und welche Lernstrategien es dabei anwendet (Leu/Flämig/Frankenstein 2007). Dabei dienen die Bildungs- und Lerngeschichten keiner Diagnose, vielmehr sollen pädagogische Fachkräfte mit den Kindern über das sprechen, was sie notiert haben. Die Idee ist, zwischen der Fachkraft und dem Kind einen Dialog über das Lernen selbst anzuregen. Bildung statt Sozialisation – auf diese Kurzformel lässt sich die gesellschaftliche Entwicklung bringen, die sich zwischen dem „Curriculum Soziales Lernen“ und den „Bildungs- und Lerngeschichten“ in der Bundesrepublik vollzog.

In den Jahren 2004/2005 äußersten 30 Prozent der Eltern für ihre 1-jährigen Kinder Bedarf an Betreuungsplätzen; bei 2-Jährigen erreichte dieser Wert sogar 60 Prozent.

Eine DJI-Studie belegt erstmals den Betreuungsbedarf der Eltern empirisch

Einen weiteren kindheitsgeschichtlichen Wendepunkt markierte die DJI-Studie „Wer betreut Deutschlands Kinder?“ (Bien/Rauschenbach/Riedel 2006). Sie entstand in einer Zeit, in der das familienpolitische Paradigma der Zwei-Verdiener-Familie in den Vordergrund trat, welche das in Westdeutschland lange Zeit vorherrschende traditionelle Familienbild ablöste – eine Tendenz, die sich europaweit beobachten ließ. Im Rahmen dieser Studie wurden Ende des Jahres 2004 bis Anfang des Jahres 2005 mehr als 8.000 deutsche Haushalte mit Kindern unter 7 Jahren zu ihrer Betreuungssituation und ihrem Betreuungsbedarf befragt. Dabei stellte sich heraus, dass zwischen Wunsch und Wirklichkeit eine gewaltige Lücke klaffte: 30 Prozent der Eltern artikulierten für ihre 1-jährigen Kinder Bedarf an Betreuungsplätzen; bei 2-Jährigen erreichte dieser Wert sogar 60 Prozent. Gerade in Westdeutschland schien eine solche Nachfrage unmöglich erfüllbar. Hier gab es noch nach der Jahrtausendwende kaum Plätze in Kinderkrippen, und auch die Tagespflege hatte sich im Umfang wenig weiterentwickelt. Die große Resonanz der Studie führte bald dazu, dass solche Befragungen kontinuierlich fortgeführt wurden – inzwischen unter dem Namen DJI-Kinderbetreuungsstudie (KiBS; siehe Infobox, S. 27); in der jüngsten Welle von 2022 äußerten bereits 60 Prozent der Eltern von 1-Jährigen und 77 Prozent der Eltern von 2-Jährigen einen Betreuungsbedarf (Kayed/Wieschke/Kuger 2023).

Die Weichen für den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz werden gestellt

In der damals langsam anschwellenden Debatte über frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung hatte die Studie „Wer betreut Deutschlands Kinder?“ die Funktion einer empirischen Klärung. Sie zeigte erstmals plausibel auf, was junge Eltern tatsächlich wollten und dringend benötigten, weil eine Erwerbstätigkeit beider Elternteile – und damit verbunden der Zugang zu außerfamiliärer Kindertagesbetreuung – für viele Paare eben auch ökonomisch notwendig war. Das Thema war damit stärker versachlicht, nun konnte niemand mehr mit „gefühlten Wirklichkeiten“ argumentieren. Die in der Studie erhobenen Daten stellten in den beginnenden Diskussionen über einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für 1- und 2-jährige Kinder eine zentrale Größe dar. Man mochte anderer Meinung sein und frühe institutionelle Kindertagesbetreuung ablehnen, doch der Bedarf der Eltern war nun unbestreitbar – wiederum eine kindheits- und familiengeschichtliche Weichenstellung.

Arbeitsgruppe Tagesmütter (1980): Das Modellprojekt „Tagesmütter“ – Abschlußbericht der wissenschaftlichen Begleitung. Stuttgart

Arbeitsgruppe Vorschulerziehung des Deutschen Jugendinstituts (1980): Curriculum Soziales Lernen. Bd. 2: Verlaufen in der Stadt. München

Bäsler, Dorothee (1974): Zeit für die Diskussion zu kurz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 119, 24. Mai 1974, S. 10

Bien, Walter / Rauschenbach, Thomas / Riedel, Birgit (Hrsg.) (2006): Wer betreut Deutschlands Kinder? DJI-Kinderbetreuungsstudie. Weinheim/Basel

Familienwissenschaftliche Forschungsstelle (1985): Die Erwerbstätigkeit von Müttern und die Betreuung ihrer Kinder in Baden-Württemberg. Hrsg. vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg. Stuttgart

Fölsing, Kurt / Hellbrügge, Theodor (1974): Brief vom 10.09.1974 an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Anlage 3. Sozialpädiatrische Empfehlungen für Säuglinge und Kleinkinder in Fremdbetreuung. Bundesarchiv Koblenz, B 189/15785, 1–2

Hank, Dominik / Berth, Felix (2023, im Erscheinen): Pädagogisch-pädiatrische Grenzkonflikte um die außerfamiliale Kinderbetreuung in der Bundesrepublik (1955–1989). In: Zeitschrift für Pädagogik, 69. Jg., H. 6

Kayed, Theresia / Wieschke, Johannes / Kuger, Susanne (2023): Der Betreuungsbedarf
bei U3- und U6-Kindern. DJI-Kinderbetreuungsreport 2022. München

Leu, Hans Rudolf / Flämig, Katja / Frankenstein, Yvonne (2007): Bildungs- und Lerngeschichten. Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren und unterstützen. Weimar<

Pechstein, Johannes (1974): Das Projekt Tagesmütter. Stellungnahme und Widerspruch aus kinderärztlicher Sicht. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 76, 23. März 1974, S. 102

Statistisches Bundesamt (1971): Die Erwerbstätigkeit der Mütter und die Betreuung ihrer Kinder. In: Wirtschaft und Statistik, 3/1971, S. 161–165

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2023 von DJI Impulse „60 Jahre Forschung über Kinder, Jugendliche, Familien und die Institutionen, die sie im Leben begleiten“ (Download PDF).

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