Die Kinder- und Jugendhilfe unter der Lupe

Für das Leben von Kindern, Jugendlichen und Familien haben die Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe an Bedeutung gewonnen. Damit ist auch der Bedarf an empirischen Daten zur Langzeitbeobachtung gewachsen.


Von Jens Pothmann

Angebote der Kinder- und Jugendhilfe wie die Kindertagesbetreuung, die Hilfen zur Erziehung, die Kinder- und Jugendarbeit sowie die Jugendsozialarbeit haben sich zu einer zentralen sozialen Infrastruktur für junge Menschen und ihre Familien in Deutschland entwickelt: Die amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik weist für das Jahr 2021 ein Ausgabenvolumen der öffentlichen Gebietskörperschaften für die Kinder- und Jugendhilfe von 62 Milliarden Euro aus. Die Aufwendungen sind damit mehr als dreimal so hoch wie im Jahr 2000 mit umgerechnet 18,5 Milliarden Euro. Die Anzahl der Beschäftigten im pädagogischen Bereich und in der Verwaltung hat sich laut amtlicher Statistik zwischen den Jahren 2006/2007 und den Jahren 2020/2021 von 568.486 auf 1.014.265 Beschäftigte in etwa verdoppelt (Volberg/Mühlmann 2022, Vrangen/Meiner- Teubner 2023). Dies ist Ausdruck einer Neubestimmung des Aufwachsens zwischen privater und öffentlicher Verantwortung, auf die bereits die Sachverständigenkommission des 14. Kinder- und Jugendberichts hingewiesen hat: Aufgaben der Betreuung, Bildung, Förderung und Erziehung werden von der Familie stärker in den öffentlichen Raum verlagert und werden damit sichtbarer (Deutscher Bundestag 2013).

Die Kinder- und Jugendhilfestatistik bietet neue Analyse-Optionen

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungen ist der Bedarf an empirisch fundierten Analysen für die Kinder- und Jugendhilfe gestiegen, auch um künftige Herausforderungen zu identifizieren. Bereits um die Jahrtausendwende verwies die Sachverständigenkommission des Elften Kinder- und Jugendberichts auf fehlende Kontinuitäten bei den Daten und auf Leerstellen für die Erstellung von Zeitreihenvergleichen (Deutscher Bundestag 2002). Die Bedeutung von Befunden aus der qualitativen sowie vor allem aus der quantitativen sozialwissenschaftlichen Forschung nahm zu jener Zeit aber auch deswegen zu, weil die Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe im Zuge der Umsetzung des in den 1990er-Jahren in Kraft getretenen Achten Sozialgesetzbuchs (SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe) expandierten und sich ausdifferenzierten: Die Kinder- und Jugendhilfe ist größer und bunter geworden, hatte sich in ihrer Identität und Gestalt verändert, aber auch an gesamtgesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Hinzu kamen die erweiterten Möglichkeiten einer empirischen Dauerbeobachtung für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, die Praxisentwicklung und die Politikberatung über eine bereits in den 1990er-Jahren grundlegend veränderte amtliche Kinder- und Jugendhilfestatistik, die sich seither kontinuierlich weiterentwickelt.

Die Kinder- und Jugendhilfe ist größer und bunter geworden und hat an gesamtgesellschaftlicher Relevanz gewonnen.

Dies führt zu einer vermehrten Nutzung dieser Datenbestände im Rahmen von Sekundäranalysen (Rauschenbach 2019). Das zeigt exemplarisch der „Kinder- und Jugendhilfereport“ der Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (2019), der die Lage der Kinder- und Jugendhilfe bilanziert und auf Basis von Kennzahlen Entwicklungen in den Arbeitsfeldern sowie bei den kommunalen Jugendämtern nachzeichnet. Auch die dreimal pro Jahr erscheinenden Ausgaben der „KomDat – Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe“ der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik im Forschungsverbund DJI/TU Dortmund liefern relevante Daten, etwa zur Inanspruchnahme von Angeboten der Kindertagesbetreuung bei den unter 3-Jährigen, zu den Entwicklungen im Kinderschutz, der Gefährdungseinschätzungen und Inobhutnahmen oder auch der öffentlich geförderten Angebote der Kinder- und Jugendarbeit.

Untersucht wird auch das Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle

Neben der Vermessung der Kinder- und Jugendhilfe widmet sich die Forschung den diversen Arbeitsfeldern wie der Kindertagesbetreuung, der Kinder- und Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit, den Hilfen zur Erziehung sowie den hoheitlichen Aufgaben der kommunalen Jugendämter, etwa der Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen oder der Mitwirkung in familiengerichtlichen Verfahren und Jugendstrafverfahren. Ebenso werden diverse Kooperationsbezüge zu anderen Bereichen des Bildungs-, Erziehungs-, Sozialund Gesundheitswesens empirisch erfasst. Gegenstand empirischer Analysen sind schließlich auch die Ambivalenzen, die der Kinder- und Jugendhilfe stets innewohnen: Zu nennen ist beispielsweise das Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle bei Leistungen wie der Sozialpädagogischen Familienhilfe, die immer auch Eingriffe in private Lebensverhältnisse darstellen. Ähnliches gilt für das Zusammenspiel von Prävention und Intervention bei der Gewährung von Leistungen der Hilfen zur Erziehung. Diese und andere Auswertungsschwerpunkte leisten jeweils einen empirischen Beitrag dazu, die Auswirkungen und die Umsetzung der Regelungen des Achten Sozialgesetzbuchs zu beobachten.

Vom Rückgang des Anteils junger Menschen an der Bevölkerung kann nicht zwangsläufig auf einen geringeren Bedarf an Kinder- und Jugendhilfeleistungen geschlossen werden.

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen mitgestalten

Über die bereits genannten Forschungsansätze hinaus hat sich die Surveyforschung zur Kinder- und Jugendhilfe etabliert. Zu dieser Entwicklung hat das Deutsche Jugendinstitut (DJI) maßgeblich beigetragen. Exemplarisch hierfür ist das seit 30 Jahren laufende Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel“. Es analysiert den Status quo der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Entwicklungen ihrer Institutionen wie Jugendämter, stationäre Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung und Institutionen der Kinder- und Jugendarbeit: anhand eigener, vor allem quantitativer Erhebungen sowie einzelner qualitativer Vertiefungsstudien, aber auch durch die erwähnten ergänzenden Sekundäranalysen amtlicher Daten. Die Arbeiten des Projekts sind zudem darauf ausgerichtet, die Organisations- und Institutionenforschung sowie Evaluationsverfahren methodisch weiterzuentwickeln. Die Grundidee aus den 1980er-Jahren dient auch der aktuellen Forschung als roter Faden – im Zentrum stehen die Fragen: Inwiefern gelingt es der Kinder- und Jugendhilfe, passende Antworten auf die sich ständig verändernden Bedingungen des Aufwachsens zu geben? Und inwieweit ist die Kinder- und Jugendhilfe in der Lage, ebendiese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mitzugestalten?

Aus der wissenschaftlichen Beobachtung folgt Erklärungs- und Handlungswissen. So konnte beispielsweise gezeigt werden, dass demografische Veränderungen einerseits eine zentrale Herausforderung für die Kinder- und Jugendhilfe darstellen, dass aber andererseits von einem Rückgang des Anteils junger Menschen an der Bevölkerung nicht zwangsläufig auf einen geringeren Bedarf an Kinder- und Jugendhilfeleistungen geschlossen werden kann (Gadow u.a. 2013). Diese Erkenntnis vom Anfang der 2010er-Jahre ist angesichts anhaltender Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung so aktuell wie vor zehn Jahren.

Dauerbeobachtungen werden mit Erhebungen zu aktuellen Themen zusammengeführt

Die empirischen Arbeiten des DJI-Projektes „Jugendhilfe und sozialer Wandel“ haben die Institutionen- und Organisationsforschung in der Kinder- und Jugendhilfe seit den 1990er-Jahren geprägt. Und die Ergebnisse der Survey-Forschung sind von zentraler Bedeutung für die empirische Dauerbeobachtung der Kinderund Jugendhilfe (Lüders 2018). Dabei muss beim Erhebungsprogramm immer wieder die Balance austariert werden zwischen längsschnittlichen Beobachtungen, also der Durchführung von Wiederholungsbefragungen insbesondere bei kommunalen Jugendämtern, und der einmaligen Untersuchung aktueller Themen. Ein Beispiel für aktuelle Themen sind die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Angebote und das fachliche Handeln der Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter (Mairhofer u.a. 2020); ein anderes sind die Herausforderungen für Jugendämter bei der Unterstützung von aus der Ukraine nach Deutschland geflüchteten jungen Menschen und ihren Familien (Mairhofer u.a. 2023). Diesbezüglich konnte gezeigt werden, dass bereits bestehende Schwierigkeiten für die Jugendämter durch die Fluchtbewegungen noch verstärkt werden, insbesondere der Mangel an Fachkräften und an Kita-Plätzen. Längsschnittliche Untersuchungen und Analysen der Kinder- und Jugendhilfe sind eine notwendige Forschungsperspektive. Denn sie liefern Erkenntnisse über Kontinuitäten und Veränderungen im institutionellen Gefüge der Kinder- und Jugendhilfe, über die verschiedenen Angebots- und Hilfelandschaften und über deren Inanspruchnahme. Dabei geht es um weit mehr als um die Etablierung und Verankerung datengestützter Analysen im Sinne einer regelmäßigen, rechtzeitigen, systematischen und autonomen Sozialberichterstattung über die Kinder- und Jugendhilfe (Lüders 2018). Die empirischen Analysen leisten auch einen Beitrag zur Diskussion über das Wechselspiel zwischen Lebenslagen junger Menschen und ihrer Familien, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der institutionellen Verfasstheit der Kinder- und Jugendhilfe.

Autorengruppe Kinder- Und Jugendhilfestatistik (2019): Kinder- und Jugendhilfereport 2018. Eine kennzahlenbasierte Analyse. Opladen/Berlin/Toronto

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2002): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bundestagsdrucksache 14/8181. Berlin

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Bundestagsdrucksache 17/12200. Berlin

Lüders, Christian (2018): Sozialberichterstattung über die Kinder- und Jugendhilfe. In: Böllert, Karin (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden, S. 1433–1452

Gadow, Tina u.a. (2013): Wie geht’s der Kinder- und Jugendhilfe? Empirische Befunde und Analysen. Weinheim

Mairhofer, Andreas u.a. (2020): Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. DJI Jugendhilfebarometer bei Jugendämtern. München

Mairhofer, Andreas u.a. (2023): Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf die Jugendämter. In: Das Jugendamt – Zeitschrift für Jugendhilfe und Familienrecht, 96. Jg., H. 3, S. 110–115

Rauschenbach, Thomas (2019): Die empirische Wende. In: Begemann, Maik-Carsten/Birkelbach, Klaus (Hrsg.): Forschungsdaten für die Kinder- und Jugendhilfe. Qualitative und quantitative Sekundäranalysen. Wiesbaden, S. 21–47

Volberg, Sebastian/Mühlmann, Thomas (2022): Neuer Höchststand – mehr als 1 Mio. Beschäftigte in der Kinder- und Jugendhilfe 2020. In: Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe (KomDat), 1/2022, S. 1–4

Vrangen, Valentin/Meiner-Teubner, Christiane (2023): Gebremster Anstieg für die Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe. In: Kommentierte Daten der Kinder- & Jugendhilfe (KomDat), 1/2023, S. 1–4

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2023 von DJI Impulse „60 Jahre Forschung über Kinder, Jugendliche, Familien und die Institutionen, die sie im Leben begleiten“ (Download PDF).

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