Die Vielfalt junger Menschen sichtbar machen
Um die Bandbreite der Lebensweisen Jugendlicher besser abbilden zu können, hat sich das DJI in den vergangenen Jahren verstärkt den Gruppen gewidmet, die in der Forschung häufig vernachlässigt werden.
Von Emmie Mika Stemmer, Maria Gavranić, Shih-cheng Lien und Anne Berngruber
Junge Menschen wachsen in vielfältigen Lebenslagen auf, sie haben unterschiedliche Zugehörigkeiten und vielschichtige Identitäten. Wie bereits der im Jahr 2013 veröffentlichte 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung deutlich gemacht hat, kann und muss „der Vorstellung von Jugend im Singular die Heterogenität der Lebenslagen Jugendlicher und ihrer Sichtweisen“ entgegengehalten werden (Deutscher Bundestag 2013, S. 136). Dennoch fehlt es in der sozialwissenschaftlichen Forschung häufig noch immer an Aufmerksamkeit für die Vielfalt jugendlicher Lebenswelten. Neben der Perspektive einer „allgemeinen“ Jugendforschung, die die aktuellen Bedingungen des Aufwachsens „der“ jungen Generation betrachtet, gilt es, eine diversitätssensible Forschungsperspektive einzunehmen (Gaupp 2017).
Im Rahmen der Jugendforschung am Deutschen Jugendinstitut (DJI) werden dabei mehrere Aspekte von Diversität berücksichtigt. Zu den in der Forschung häufig vergessenen Gruppen junger Menschen, die am DJI in den letzten zehn Jahren empirisch untersucht wurden, zählen einerseits Jugendliche mit Behinderung und andererseits LSBTIQ*-Jugendliche, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter oder queer sind. Der Genderstern steht stellvertretend für weitere geschlechtliche und sexuelle Identitäten, die von der gesellschaftlichen cis-heterosexuellen Norm abweichen.
Jugendliche mit Behinderung oder LSBTIQ*-Jugendliche fanden in der Forschung lange kaum Beachtung
Auch wenn Jugendliche mit Behinderung und LSBTIQ*-Jugendliche unterschiedliche Problemlagen erleben, sind doch beide Gruppen gesellschaftlich dem sogenannten Othering ausgesetzt: Sie werden als „die anderen“ wahrgenommen und bezeichnet, weil sie nicht einer scheinbaren Norm entsprechen. Auch in der Forschung fanden sie bislang kaum Beachtung (Gaupp 2017). Gründe für die Vernachlässigung von Jugendlichen mit Behinderung liegen im Datenerhebungsprozess selbst: Diese Gruppen werden etwa für Befragungen oder Gruppendiskussionen über übliche Zugangswege häufig nicht erreicht, da gängige Erhebungsverfahren nicht berücksichtigen, dass sie begrenzte Schreibfähigkeiten oder kognitive Einschränkungen haben oder auf eine Sprachassistenz angewiesen sind. Andere Jugendliche fühlen sich in Befragungen nicht angesprochen, da ihre spezifische Situation – als junger Mensch mit Behinderung oder jenseits der cis-heterosexuellen Norm – nicht von Beginn an mitgedacht und nicht differenziert genug erfasst wird. Und beiden Gruppen ist gemein, dass sie selbst in größeren Surveys oft nur einen kleinen Teil der Stichprobe ausmachen, der keine differenzierten Analysen ermöglicht. Der Auftrag an eine diversitätssensible Jugendforschung ist es daher, einerseits denjenigen besondere Aufmerksamkeit zu widmen, die lange Zeit unsichtbar waren, und andererseits dafür zu sensibilisieren, dass diese Jugendlichen auch in der allgemeinen Jugendforschung Gehör finden. Beide Ziele haben DJI-Forschende mit einer Reihe von Studien in den letzten Jahren verfolgt.
Erhebungsinstrumente müssen an die Befragten angepasst werden
Das DJI-Projekt „Inklusive Methoden“ entwickelte in den Jahren 2016 bis 2018 Befragungsinstrumente weiter, die speziell an verschiedene Formen und Grade der Beeinträchtigung angepasst waren, um jungen Menschen mit Behinderung eine Teilnahme an quantitativen Studien zu ermöglichen (Brodersen u.a. 2019). Denn eine inklusive Forschung erfordert inklusive Methoden, wie zum Beispiel assistierte Befragungen, Dolmetschen und angemessene Fragebogeninhalte, sowie einen geeigneten Zugang zu den Personen, die befragt oder beobachtet werden sollen, etwa durch die Zusammenarbeit mit der jeweiligen Community und mit Fachverbänden. Den Forschenden verlangt dies mehr Zeit, Kreativität und Ressourcen ab als üblich. Wichtig für Studien zu marginalisierten Gruppen von Jugendlichen ist zudem ein reflektierter Umgang mit forschungsethischen Aspekten, beispielsweise der Freiwilligkeit der Teilnahme oder der Gefahr einer erneuten Belastung, wenn Befragte über Diskriminierungserfahrungen Auskunft geben sollen. Ein geeignetes Vorgehen – angepasste Erläuterungen oder der Einsatz von Beratungsfachkräften im Hintergrund – bindet ebenfalls Ressourcen.
Die Erfahrungen von Jugendlichen unterschieden sich je nach Art der Beeinträchtigung erheblich
In den DJI-Forschungsprojekten „Coming-out – und dann …?!“ (2013–2016, Krell/Oldemeier 2017) und „Aufwachsen und Alltagserfahrungen von Jugendlichen mit Behinderung“ (2018–2022, Austin-Cliff u.a. 2022) wurden die Lebenswelten der Jugendlichen erstmalig anhand groß angelegter, standardisierter Befragungen empirisch untersucht. Die Ergebnisse belegen die Vielschichtigkeit und Heterogenität beider Gruppen: Jugendliche mit Behinderung gehen einem breiten Spektrum jugendtypischer Freizeitaktivitäten nach, sind in vielfältige soziale Beziehungen eingebunden und machen eine große Spannweite an autonomiebezogenen Erfahrungen. Die Art ihrer Erfahrungen aber unterscheidet sich je nach Form ihrer Beeinträchtigung erheblich. Auch die befragten LSBTIQ*- Jugendlichen berichten von sehr unterschiedlichen Erfahrungen: Sie beschreiben einerseits die große Unterstützung, die sie im Freundeskreis, über digitale Medien und in der eigenen Community erhalten, aber andererseits auch Ängste vor dem Coming-out sowie Erfahrungen der Diskriminierung und der sozialen Ausgrenzung in Familie, Schule und Arbeit. Außerdem wird deutlich, dass trans, nicht-binäre beziehungsweise genderqueere junge Menschen eigenen Angaben nach häufiger von Ängsten, Diskriminierungserfahrungen und anderen emotionalen Belastungen betroffen sind als Gleichaltrige, die schwul, lesbisch oder bisexuell sind.
Auch große Erhebungen können marginalisierte Gruppen einbeziehen
Der bundesweit erhobene DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) zeigt, dass ein differenzierterer Blick zur Beschreibung sozialer Wirklichkeit auch in quantitativen Erhebungen möglich ist, wenn vielfältige Selbstbeschreibungen wie Behinderung oder geschlechtliche Identität sowie sexuelle Orientierung Eingang finden und junge Menschen selbst dazu Auskunft geben können. Seit der Erhebung im Jahr 2019 werden Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen sowie LSBTIQ* zu ihren Lebenslagen und ihrer Lebensführung befragt. So können wichtige, für diese Lebensphase typische Alltagspraktiken, soziale Beziehungen, Einstellungen und Verselbstständigungsprozesse wie die Ablösung von den Eltern oder erste Liebesbeziehungen um die Erfahrungen dieser Jugendlichen ergänzt werden.
Das Ziel: Jugendlichen mit der nötigen Sensibilität begegnen
Im DJI-Forschungsprojekt „Jung, trans, nicht-binär – Zur Lebenssituation von trans und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland“, das an die Ergebnisse des „Coming-out“-Projekts anschließt, wird ein vertieftes und differenziertes Verständnis für die Perspektive und Erfahrungen junger Menschen entwickelt. Um dies zu erreichen, wurde Trans-Sein und Nicht-binär-Sein nicht pathologisch und stigmatisierend betrachtet, sondern ein lebensweltlicher und emanzipatorischer Ansatz verfolgt. Das bedeutet: Die Jugendlichen wurden dazu ermutigt, über ihr subjektives Empfinden und all ihre Erfahrungen zu berichten, ohne dabei Gefahr zu laufen, auf ihr Trans-Sein reduziert zu werden, wie dies im medizinischen Sektor häufig geschieht (FRA European Union Agency for Fundamental Rights 2020). Ein kontinuierlicher Selbstreflexionsprozess seitens der Forschenden stellte sicher, dass sie den Jugendlichen mit der erforderlichen Sensibilität begegnen konnten.
Das geplante Forschungsprojekt „Inklusurvey“ soll die bisherige Forschung zu Jugendlichen mit Behinderung weiterentwickeln. Ziel ist, ein möglichst barrierefreies Online-Befragungstool bereitzustellen, das sich unter anderem durch den Einsatz künstlicher Intelligenz an die individuellen Bedürfnisse junger Menschen mit Behinderung anpassen kann. Entscheidend für die technische Entwicklung dieser Tools wird die kontinuierliche Partizipation der Zielgruppe sein, um beispielsweise ihre Anforderungen an Online-Erhebungen abzufragen, sie in umfangreiche technische Tests der Befragungstools sowie schließlich in die empirische Erprobung einer Online-Befragung einzubeziehen.
Diskriminierung sollte nicht der einzige Fokus der Forschung sein
Solange gesellschaftliche Verhältnisse herrschen, in denen manche Gruppen häufiger Opfer von Gewalt, Othering und Ausgrenzung sind, ist es wichtig, diesen über Jahrhunderte marginalisierten und unsichtbar gemachten Gruppen mehr Gehör zu schenken und ihre Lebensrealität systematisch zu erforschen. Eine Herausforderung, die mit dem Thema Diversitätssensibilität einhergeht, besteht allerdings in der Aufgabe, den Fokus nicht ausschließlich auf negative Aspekte und Probleme wie Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen zu lenken, sondern auch auf positive, unterstützende Faktoren oder gelungene Entwicklungsprozesse (Oldemeier/Timmermanns 2020). Letztendlich gilt es, eine wertschätzende Grundhaltung einzunehmen und die Jugendlichen für sich sprechen zu lassen – als diejenigen, die ihre eigene Geschichte am besten kennen.
Austin-Cliff, George u.a. (2022): Aufwachsen und Alltagserfahrungen von Jugendlichen mit Behinderung. Ergebnisse der Jugendstudie. Schriftenreihe der Baden-Württemberg Stiftung, Bd. 99. Stuttgart
Brodersen, Folke / Ebner, Sandra / Schütz, Sandra (2019): „How to …?“ – Methodische Anregungen für quantitative Erhebungen mit Jugendlichen mit Behinderung. Erkenntnisse aus dem Projekt „Inklusive Methoden“. München
y (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin
FRA – European Union Agency for Fundamental Rights (2020): A long way to go for LGBTI equality. Luxembourg: Publications Office of the European Union
Gaupp, Nora (2017): Diversitätsorientierte Jugendforschung – Überlegungen zu einer Forschungsagenda. In: Soziale Passagen, 9. Jg., H. 2, S. 423–439
Krell, Claudia / Oldemeier, Kerstin (2017): Coming-out – und dann …?! Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans* und queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. München
Oldemeier, Kerstin / Timmermanns, Stefan (2020): „Defizite und Ressourcen in den Lebenswelten von LSBTQ* Jugendlichen und jungen Erwachsenen: zwei Seiten einer Medaille“. In: Timmermanns, Stefan/Böhm, Maika (Hrsg.): Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Interdisziplinäre Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis. Weinheim, S. 343–356

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2023 von DJI Impulse „60 Jahre Forschung über Kinder, Jugendliche, Familien und die Institutionen, die sie im Leben begleiten“ (Download PDF).