Sozial- und Bildungsberichterstattung zwischen Kontinuität und Innovation

Wie sich die Lebenssituationen von Kindern, Jugendlichen und Familien wandeln, erheben die Surveys des DJI seit den 1980er-Jahren. Dabei müssen gegensätzliche Ansprüche immer wieder ausbalanciert werden.

Von Susanne Kuger und Holger Quellenberg

Lange Zeit war das Bruttoinlandsprodukt der prominenteste Indikator für gesellschaftliche Entwicklung und Wohlstand. Spätestens seit den 1970er-Jahren allerdings entwickelte sich in Deutschland eine indikatorengestützte Sozial- und Bildungsberichterstattung, die sich an weiter reichenden Themen orientierte und die heute maßgeblich auf empirischen Daten basiert. An einer solchen modernen Sozial- und Bildungsberichterstattung wirkt auch das Deutsche Jugendinstitut (DJI) mit – vor allem durch den Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A), aber beispielsweise auch durch die Langzeitbeobachtungen im Projekt „Jugendhilfe und sozialer Wandel“. Mit dem DJI-Survey AID:A werden Lebenswelten und -führung von Kindern, Jugendlichen und Familien untersucht, die Strukturen und Prozesse der Organisationen und Institutionen, die sie begleiten und unterstützen, wie etwa Kindertageseinrichtungen oder Jugendämter, sowie gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen und Wandlungsprozesse. Die Befunde werden aufbereitet für Forschende, vor allem aber auch für Entscheidungsträger:innen aus Politik und (Fach-)Praxis, und beispielsweise in den regelmäßig erscheinenden Kinder- und Jugendberichten sowie Familienberichten der Bundesregierung sowie im alle zwei Jahre veröffentlichten nationalen Bildungsbericht aufgegriffen. Anhand der Entstehungsgeschichte der Surveyforschung am DJI lässt sich nachzeichnen, wie die Sozial- und Bildungsberichterstattung im Laufe der Zeit zunehmend komplexer wurde und welche Herausforderungen damit verbunden sind.

Die Befunde werden aufbereitet für Forschende, vor allem aber auch für Entscheidungsträger:innen aus Politik und (Fach-)Praxis.

Die Facetten familiärer Lebensformen und deren Veränderung beschreiben

Die Ideen einer empirisch gestützten Sozialberichterstattung griff das DJI erstmals ab Mitte der 1980er-Jahre auf und etablierte mit dem „Familiensurvey“ eine Studienreihe mit bundesweitem Vorbildcharakter für die Familien- und Netzwerkforschung (Bertram 1991, Bien 2008). Zentrales Ziel der Studie war es, die verschiedenen Facetten familiärer Lebensformen und -führung und deren Veränderung zu beschreiben. So interessierten zum Beispiel besondere Lebensformen von Paaren in getrennten Wohnungen („Living apart together“), aber auch sozialpolitische Fragen, etwa zu den Wechselwirkungen steigender Arbeitslosigkeit und sinkender Geburtenzahlen.

Für die Haupterhebungen in den Jahren 1987, 1994 und 2000 wurden jeweils über 10.000 Personen – anfangs im Alter von 18 bis 55 Jahren, später von 16 bis 67 Jahren – vergleichbar befragt. Zusätzlich interviewten die Forschenden ausgewählte Personengruppen wie etwa Alleinerziehende. Konzeptionell und technisch war dieses Unterfangen aufwendig: Die Befragten wurden über die Einwohnermeldeämter anhand vorgegebener statistischer Kriterien ermittelt. Die persönlichen Interviews erfolgten auf der Grundlage umfangreicher Papierfragebögen. Der wachsende Datenbestand wurde auf dem Großrechner des DJI verwaltet und konnte über einen Terminalrechner in der Bibliothek des Instituts abgefragt und analysiert werden. Mit der Erhebung, Aufbereitung, Dokumentation und Analyse der Forschungsdaten wurden innovative, zunehmend mit Computern automatisierte Standards entwickelt. Das so gewonnene Wissen und die angewendeten Verfahren konnten in späteren Befragungen wieder genutzt und verfeinert werden.

Der Jugendsurvey dokumentiert den Wandel der Einstellungen und Werte über ein Jahrzehnt

Was im „Familiensurvey“ fehlte, war die Perspektive von Kindern und Jugendlichen. So wurde ab dem Jahr 1990 der „Jugendsurvey“ (Gille 2006) entwickelt, um die alltägliche Lebenswelt Heranwachsender zu beschreiben. Inhaltlich von besonderem Interesse war dabei ihr politisches und gesellschaftliches Engagement, aber auch die sich abzeichnenden Problematiken der Demokratieferne und Politikverdrossenheit. Die Wiederholungen der Erhebungen in den Jahren 1992, 1997 und 2003 dokumentierten den Wandel der Einstellungen und Werte von Jugendlichen über ein Jahrzehnt.

Konsequenterweise folgte ab dem Jahr 2002 das „Kinderpanel“ (Alt 2005), mit dem DJI-Forschende die Altersgruppe der Grundschulkinder untersuchten. Im Fokus standen dabei vor allem die Statuspassagen in der Bildungsbiografie von Kindern im Alter von 6 bis 13 Jahren, etwa der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule und von dort in die weiterführende Schule. Stellvertretend für die 6-Jährigen gaben die Eltern Auskunft; ab dem Alter von 9 Jahren wurden zusätzlich auch die Kinder selbst befragt. Ab dem Jahr 2004 wurden auch Informationen über jüngere Kinder eingeholt: Mit der Kinderbetreuungsstudie (Bien/Rauschenbach/Riedel 2007) wurde erstmals bundesweit die Betreuungssituation von über 10.000 Kindern im Alter von bis zu 6 Jahren erfragt. Die Studie lieferte angesichts der Debatten um Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Bildung vor der Schule und Ausbau der Kindertagesbetreuung wichtige empirische Daten aus Elternsicht.

Die Digitalisierung ermöglicht es, Daten aus Befragungen und der amtlichen Statistik zu kombinieren

Die ab Mitte der 1990er-Jahre rasant fortschreitende Digitalisierung revolutionierte den Umgang mit Forschungsdaten und produzierte zugleich neue Datenbestände. Die subjektiven Schilderungen aus Befragungen konnten auf regionaler Ebene mit objektiven Daten, beispielsweise aus der amtlichen Statistik, zusammengeführt werden. Dieses Vorgehen liefert immer wieder erhellende Analyseergebnisse: So lässt sich beispielsweise aus der amtlichen Statistik ablesen, wie viele Plätze Kindertageseinrichtungen in Deutschland bereitstellen, aber nur die Befragungsdaten der DJI-Kinderbetreuungsstudie (KiBS) können zeigen, dass noch immer Zehntausende Eltern nicht den von ihnen benötigten Kita-Platz bekommen. Allerdings war lange Zeit der Zugang zu den amtlichen Daten für Forschende aus technischen und rechtlichen Gründen nur beschränkt möglich und die Zusammenführung der Daten mitunter schwierig. Sollen etwa Informationen über das Wohnumfeld in Auswertungen einbezogen werden, so müssen für beide Datensätze passende regionale Kennungen, zum Beispiel eine Postleitzahl, Adresse oder Flurbezeichnung, vorliegen.

Mit der Kinderbetreuungsstudie wurde erstmals bundesweit die Betreuungssituation von über 10.000 Kindern im Alter von bis zu 6 Jahren erfragt.

Forschungsdatenzentren werden etabliert und erleichtern den Datenzugang

Um Abhilfe zu schaffen, wurden um die Jahrtausendwende auf Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verschiedene Maßnahmen ergriffen: Daraus resultierte die Gründung des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten (RatSWD) im Jahr 2004, der durch qualitätssichernde Akkreditierung den Aufbau von Forschungsdatenzentren beim Statistischen Bundesamt, bei den Landesämtern sowie an Universitäten und Forschungseinrichtungen unterstützte. International gab es parallele Entwicklungen, die sich sowohl in Forschungsinfrastrukturen (wie etwa der Initiative zur European Open Science Cloud (EOSC) als auch in gemeinsamen Absichtserklärungen und Standards niederschlugen, die Daten besser auffindbar, zugänglich, passgenau und wiederverwendbar machen sollten (zum Beispiel durch die Formulierung der FAIR-Prinzipien, Wilkinson 2016). Gebündelt wurden diese Ideen ab dem Jahr 2020 in der Initiative zur Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI). Diese Entwicklungen antizipierend wurde bereits Anfang der 2000er-Jahre aus den ersten zentralen Datenbanken des DJI ein Forschungsdatenzentrum entwickelt, das im Jahr 2013 beim RatSWD nach anerkannten Qualitätsstandards akkreditiert wurde. Hier werden zentrale Datensätze kuratiert und zur Nutzung für externe Forschende bereitgestellt.

Ein engmaschiges Netz an Informationen über Individuen und Familien, Geschwister- und Paarbeziehungen entsteht

Mit den Möglichkeiten der Datenverarbeitung stieg die Komplexität der Datenerhebungen. So wurde bereits Anfang der 2000er-Jahre im Zusammenhang mit dem Kinderpanel des DJI diskutiert, ob es nicht besser wäre, die bis dahin separat befragten Zielgruppen – Kinder, Jugendliche und Erwachsene – in einer Studie zusammenzufassen. Inhaltlich versprachen sich die Forschenden davon, unterschiedliche Perspektiven beispielsweise auf das Familienklima erheben und in der Auswertung aufeinander beziehen zu können. Methodisch war damit die Aussicht verbunden, für alle Alters- und Zielgruppen vergleichbare Basisinformationen zu erhalten und auf diese Weise auch den breiteren Blick über die Altersgruppen zu ermöglichen.

Aufbauend auf den Erfahrungen aus den früheren Surveys wurde im Jahr 2009 die erste Generation des DJI-Surveys „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) entwickelt. Dieser führte erstmals Kinderpanel, Jugend- und Familiensurvey sowie die Kinderbetreuungsstudie aus dem Jahr 2005 zusammen. 2014 erfolgte eine Wiederbefragung, die nun auch Väter und die Partner:innen junger Erwachsener einbezog. Dieses Vorgehen wurde ab dem Jahr 2019 weiter verfolgt: In repräsentativ ausgewählten Haushalten wurden und werden alle dort lebenden Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von bis zu 32 Jahren sowie die Eltern von Minderjährigen zu ihrer Lebenssituation befragt. So entsteht ein engmaschiges Netz an Informationen über Individuen und Familien, Geschwister- und Paarbeziehungen, deren Lebenslagen in ihrer Komplexität umfassend abgebildet werden können, inklusive Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Einzelnen, Familien und Haushalten. Dabei werden viele Themen durchleuchtet: Lebensformen, Arbeitsteilung, Aktivitäten und Beziehungen im Familiensystem, die Betreuungssituation von Kindern, Erfahrungen mit Ganztagsangeboten, Prozesse der Verselbstständigung bei Heranwachsenden, ihre Bildungsbiografien und Positionierung in der Gesellschaft sowie die Entwicklung ihrer Orientierungen, Werte und Einstellungen, der Umgang mit kritischen Lebensphasen oder -ereignissen sowie die Inanspruchnahme von Unterstützungs­angeboten. Über die Zeit (2020, 2021 und 2023 ff.) werden aus den Haushalten ausziehende Personen in ihren Lebenswelten weiter begleitet, wodurch das Panel dynamisch bleibt. Im Sinne dieser Dynamik kommen heute unterschiedliche Erhebungsarten zum Einsatz: das persönliche Interview im Haushalt der Befragten, das telefonische Gespräch sowie Fragebögen, die vor Ort oder online selbst ausgefüllt werden.

Neben AID:A vertiefen weitere große Studien die Forschung am DJI. Dabei ist die DJI-Kinder­betreuungs­studie (KiBS) hervorzuheben (Autor:innengruppe KiBS 2022), die seit dem Jahr 2012 wieder als eigene Erhebung durchgeführt wird: Befragt werden jährlich rund 33.000 Eltern von Kindern bis zum Ende des Grundschulalters. Diese repräsentativen Daten bilden nicht nur die Grundlage für eine bundeslandspezifische Beschreibung des Ausbaufortschritts in der Kindertages- und Ganztagsbetreuung. KiBS liefert auch als einzige Studie Deutschlands gesicherte Aussagen über die Betreuungswünsche der Eltern in den einzelnen Bundesländern und ermöglicht so einen Vergleich von Bedarf und Angebot.

Im Projekt „Entwicklung von Rahmenbedingungen in der Kindertagesbetreuung“ (ERiK) wird die Qualitätsentwicklung in der Kindertagesbetreuung untersucht. Die Studie erfasst die Sichtweisen von pädagogischem Fach- und Leitungspersonal in Einrichtungen, von Trägern und Jugendämtern sowie von Kindertagespflegepersonen. Eine Besonderheit ist, dass auch 4- bis 6-jährige Kinder selbst zur Qualität ihres Kindergartens Auskunft geben können. Bereits drei Monate nach Beginn der Pandemie startete zudem die „Corona-KiTa-Studie“ mit der Abfrage der Infektionslage in Kinder­betreuungs­einrichtungen und lieferte wertvolle Erkenntnisse zum Pandemieverlauf (siehe DJI Impulse 2/2020).

Bei der Beobachtung gesellschaftlicher Veränderungen konkurrieren Kontinuität und Innovation

Mit seinen Surveys ermöglicht das DJI seit rund vier Jahrzehnten eine zeitgemäße Sozial- und Bildungsberichterstattung, welche die Voraussetzung wissenschaftlich fundierter Politikberatung bildet. In der Beobachtung gesellschaftlicher Veränderungen konkurrieren dabei zwei konträre Anliegen: Zum einen müssen, um Wandel beobachten zu können, dieselben Themen und Inhalte mit denselben Methoden erfasst werden, weil sonst keine Vergleiche im Zeitverlauf möglich sind. Zum anderen sind die Messinstrumente inhaltlich und methodisch kontinuierlich an gesellschaftliche Wandlungsprozesse anzupassen, um diesen gerecht zu werden. Im Familiensurvey der späten 1980er-Jahre zum Beispiel waren Homeoffice oder Konflikte über digitale Mediennutzung noch keine Themen, in den neueren AID:A-Erhebungen dagegen schon. Das DJI steht damit vor der ständigen Herausforderung, Kontinuität zu bewahren und zugleich für den gesellschaftlichen Wandel offen zu bleiben. Dies bedeutet auch, neue technologische Möglichkeiten wie Apps und Bewegungsdaten zu nutzen, die neue Forschungsoptionen und -themen eröffnen.

Alt, Christian (Hrsg.) (2005): Kinderleben – Aufwachsen zwischen Familie, Freunden und Institutionen. Kinderpanel, Bd. 2. Wiesbaden

Autor:innengruppe KIBS (2022): DJI-Kinderbetreuungsreport 2021. München

Bertram, Hans (1991): Die Familie in Westdeutschland. Stabilität und Wandel familialer Lebensformen. Opladen.

Bien, Walter / Marbach, Jan H. (Hrsg.) (2008): Familiale Beziehungen, Familienalltag und soziale Netzwerke. Ergebnisse der drei Wellen des Familiensurvey. Wiesbaden

Bien, Walter / Rauschenbach, Thomas / Riedel, Birgit (Hrsg.) (2007): Wer betreut Deutschlands Kinder? DJI-Kinderbetreuungsstudie. Berlin

Gille, Martina (Hrsg.) (2006): Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland: Lebensverhältnisse, Werte und gesellschaftliche Beteiligung 12- bis 29-Jähriger. Wiesbaden

KVI (Hrsg.) (2001): Wege zu einer besseren informationellen Infrastruktur. Gutachten der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eingesetzten Kommission zur Verbesserung der informationellen Infrastruktur zwischen Wissenschaft und Statistik (KVI-Gutachten). Baden-Baden

Wilkinson, Mark D. u.a. (2016): The FAIR Guiding Principles for scientific data management and stewardship. In: Scientific Data 3:160018

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2023 von DJI Impulse „60 Jahre Forschung über Kinder, Jugendliche, Familien und die Institutionen, die sie im Leben begleiten“ (Download PDF).

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