Zur Vermessung des Wohlergehens

Um zu beschreiben, wie es Kindern und Jugendlichen geht, muss das Umfeld betrachtet werden, in dem sie sich bewegen. Aber auch ihre eigene Perspektive spielt eine wichtige Rolle.

Von Inga Simm, Susanne Kuger und Hanna Lena Maly-Motta

Seit über 50 Jahren widmet sich das Deutsche Jugendinstitut (DJI) der Erforschung des Wohlergehens von Kindern und Jugendlichen. In den 1970er-Jahren begann diese Tradition mit Fokus auf die pädagogischen Bedingungen guten Aufwachsens: Der Situationsansatz rückte Partizipation, Autonomie sowie die Lebensweltorientierung in den Vordergrund und setzte damit wichtige pädagogisch-didaktische Akzente in der Frühen Bildung. Mit der Entwicklung der Surveyforschung ab den späten 1980er-Jahren verschob sich der Schwerpunkt hin zur Beobachtung der objektiven Bedingungen des Aufwachsens junger Menschen. Anfangs wurden diese Bedingungen noch über die Eltern erfasst. Erst mit dem ab 1990 entwickelten Jugendsurvey und dem ab 2002 folgenden Kinderpanel kamen Kinder und Jugendliche selbst zu Wort. Dabei wurden ihre Erfahrungen in den unterschiedlichen Kontexten des Aufwachsens auch mit Fragen ihres Wohlbefindens, ihrer Persönlichkeitsentwicklung und ihrer Einstellungen in Beziehung gesetzt.

Der DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) und seine Vorgängerstudien, die „DJI-Kinderbetreuungsstudie“ (KiBS) und die Studie „Kinder in Deutschland – KID 0–3“, geben nicht nur Aufschluss darüber, wie es jungen Menschen und ihren Familien aktuell geht. Sie ermöglichen auch im doppelten Sinn einen Blick auf die Lebensbedingungen und das Wohlbefinden im zeitlichen Vergleich: In den ersten AID:A-Erhebungen lag der Fokus auf gesellschaftlichen Trends und dem Wandel über die Zeit – die Altersgruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten wurden miteinander verglichen (Querschnitt). In der aktuellen AID:A-Erhebung werden darüber hinaus auch Entwicklungen der einzelnen Teilnehmenden zu verschiedenen Zeitpunkten berücksichtigt (Längsschnitt).

Wohlergehen umfasst zahlreiche Aspekte und wird in Disziplinen wie der Soziologie, der Erziehungswissenschaft, der Psychologie und der Ökonomie entsprechend als multi dimensionales Konzept betrachtet (Ben-Arieh u.a. 2014). Bei Kindern und Jugendlichen liegt Wohlbefinden ganz allgemein formuliert dann vor, wenn es ihnen physisch, psychisch und in ihrem sozialen Umfeld aktuell – und auch mit Blick auf zukünftige individuelle oder globale Herausforderungen – gut geht. Der Prozess des Heranwachsens erfordert zudem, Wohlbefinden dynamisch zu betrachten (Minkkinen 2013).

Die unterschiedlichen Facetten von Wohlergehen sind historisch bedingt und haben ihre Wurzeln in unterschiedlichen theoretischen Ansätzen. Unter dem Stichwort Entwicklungsperspektive zum Beispiel wird Wohlergehen als gelingende Entwicklung verstanden und ist – gemäß dem Capability-Ansatz – stark an die Fähigkeiten geknüpft, die junge Menschen brauchen, um zukünftig ein Leben ihrer Wahl führen zu können (Nussbaum/Sen 1993). Die Selbstbestimmungstheorie setzt das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen in einen engen Bezug zu ihren zentralen Bedürfnissen nach Autonomie-, Kompetenzerleben und sozialer Eingebundenheit und den Rahmenbedingungen dafür, diese befriedigen zu können (Deci/Ryan 1993). Neuere Überlegungen aus der Kinder­rechts­forschung hingegen rücken mit Blick auf die Teilhabechancen materielle und soziale Bedingungen in den Mittelpunkt (Andresen/Schneekloth 2014).

Die emotionale Belastung, die körperliche Gesundheit und die Qualität von Beziehungen werden einbezogen

Um das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen empirisch zu erfassen, sind eine Reihe von Fragen relevant: Wie entscheidend ist der Fokus auf das Erleben des Kindes, und wie wichtig ist es, das Umfeld mit in den Blick zu nehmen? Bedeutet Wohlergehen für ein Kind, dass seine Familie wenige Schulden hat oder dass es eventuell vorhandene Schulden nicht als Belastung erlebt? Damit ist die Frage angesprochen, welches Gewicht man objektiven und subjektiven Indikatoren des Wohlergehens beimisst. Standen in der Sozialberichterstattung zunächst vor allem objektive Indikatoren im Vordergrund, so wird heute das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen unabhängig von der theoretischen Verortung zumeist anhand subjektiver und objektiver Dimensionen erfasst. Unter die subjektiven Dimensionen fallen zum Beispiel Selbsteinschätzungen junger Menschen zu ihrem Selbstwertgefühl, ihrer emotionalen Belastung, körperlichen Gesundheit und der Qualität von Beziehungen in der Familie, Schule oder Ausbildung. Der Zugang zu Bildung und die Deprivation in einem Haushalt, das heißt eine individuelle Mangelsituation, sind hingegen objektive Maße, das Wohlergehen von Heranwachsenden zu bestimmen.

Das Wohlergehen aus mehreren Blickwinkeln beschreiben

Der DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) greift als interdisziplinäres Forschungsprojekt verschiedene Aspekte dieser Theorien und Forschungsansätze auf. Seine Daten stützen sich nicht nur auf Elternangaben, sondern junge Menschen kommen ab einem Alter von 9 Jahren – und seit dem Jahr 2023 sogar bereits ab 5 Jahren – selbst zu Wort. Damit gelingt es, das Wohlergehen von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Familien in Deutschland aus mehreren Blickwinkeln nachzuzeichnen. Gleichzeitig erfasst der DJISurvey Facetten des Wohlbefindens mit dem „Strength and Difficulties Questionnaire“ (Goodman 1997), einem Fragebogen für Eltern zu Stärken und Schwierigkeiten in Bezug auf das psychosoziale Verhalten ihrer Kinder ab der frühen Kindheit. Auch inwieweit diese dazu befähigt werden, notwendige Entwicklungsaufgaben wie den Prozess der Verselbstständigung zu meistern, wird anhand von AID:A erhoben. Die DJI-Forschenden Dr. Anne Berngruber und Dr. Andreas Herz konnten anhand der Daten nachweisen, dass durch die Coronapandemie der Auszug aus dem Elternhaus als Teil der Verselbstständigung nicht wie erwartet oder geplant stattfand (Berngruber/Herz 2023). Die kommenden Erhebungen werden zeigen, ob diese Schritte nachgeholt werden und mit welchen Konsequenzen dies einhergeht.

Auch die wahrgenommene Belastung spielt eine Rolle

Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention, die im Jahr 1992 in Deutschland in Kraft trat, haben Kinder und Jugendliche beispielsweise ein Recht auf soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard. In AID:A werden dazu unter anderem die finanziellen und materiellen Ressourcen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien eingehend erfasst.

Bei der Erhebung finanzieller Ressourcen wird zwischen objektiven und subjektiven Indikatoren unterschieden. Zu den objektiven Indikatoren zählen zum Beispiel das durchschnittlich pro Monat zur Verfügung stehende Nettoeinkommen der Familie oder die Schuldenlast. Zugleich werden Eltern oder volljährige Haushaltsangehörige nach ihrer subjektiv empfundenen finanziellen Belastung gefragt. Hinter der Differenzierung in eine objektive und subjektive Dimension verbirgt sich die zentrale Annahme des „Family Stress Model of Economic Hardship“ (Conger/Donnellan 2007): Es geht davon aus, dass der finanzielle Spielraum einer Familie nur dann Auswirkungen auf das Wohlergehen des Kindes hat, wenn eine durch die Eltern subjektiv wahrgenommene ökonomische Belastung auch deren Stresserleben verstärkt.

Fehlt Geld für Reparaturen, gilt das nicht unbedingt gleichzeitig für altersangemessene Spielsachen

Das materielle Wohlergehen von Kindern wird in enger Anlehnung an den Begriff der Deprivation erhoben, der eine individuelle Mangelsituation beschreibt. Neben der Frage danach, ob das Kind beispielsweise drei Mahlzeiten am Tag bekommt, werden auch soziale und kulturelle Teilhabechancen berücksichtigt, etwa ob Bücher im Haushalt vorhanden sind. Der DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) differenzierte erstmals im Jahr 2019 zwischen Deprivation im Haushalt und Deprivation auf Ebene des Kindes. Die Ergebnisse zeigen, dass in vielen Haushalten, in denen beispielsweise das Geld für Reparaturen fehlt, Kinder trotzdem altersangemessene Spielsachen besitzen, Hobbys ausüben und Freunde einladen können. Eine mögliche Erklärung ist, dass Eltern auch in schwierigeren finanziellen Lagen versuchen, ihren Kindern die Teilhabe an der Gesellschaft uneingeschränkt zu ermöglichen (Prein/Quellenberg 2021). Eine Untersuchung, inwiefern dies auf Kosten des Wohlergehens der Eltern geht, steht noch aus.

Für Kinder und Jugendliche ist es wichtig, sich als kompetent, autonom und sozial eingebunden zu erleben

Eine weitere Perspektive bei der Vermessung des Wohlergehens eröffnet die Selbst­bestimmungs­theorie. Sie geht davon aus, dass Wohlergehen von der Erfüllung dreier zentraler Grundbedürfnisse abhängt: Für Kinder und Jugendliche ist es demnach besonders wichtig, sich als kompetent, autonom und sozial eingebunden zu erleben (Deci/Ryan 1993). Dabei kommt dem direkten sozialen Umfeld, darunter den Eltern, der Schule, der Kindertagesbetreuung und Peerbeziehungen eine wichtige Rolle zu. Denn die Befriedigung der genannten Bedürfnisse findet vorrangig in diesen Lebensbereichen statt. Einen besonderen Stellenwert für das Wohlergehen Heranwachsender hat beispielsweise ein die Autonomie unterstützendes Erziehungsverhalten der Eltern (Joussemet/Landry/Koestner 2008). Diese theoretischen Überlegungen greift der DJI-Survey AID:A schon seit seinen Anfängen auf, indem er erfasst, inwiefern sich junge Menschen als autonom und selbstwirksam erleben. Seit dem Jahr 2019 wird dies parallel für die zentralen Lebensbereiche Familie, Schule/Kindertagesbetreuung, Freizeit und Freundschaftsbeziehungen erfasst. Die ersten Analysen ergaben, dass sich Kinder und Jugendliche, die sich in der Familie als autonom erleben, auch in der Schule so erleben und umgekehrt (Guglhör-Rudan/Langmeyer-Tornier 2021).

Nur regelmäßige Erhebungen können Maßnahmen zur Verbesserung des Wohlbefindens überprüfen

Für das Monitoring des Wohlergehens bei Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, verschiedene Aspekte in regelmäßigen Abständen zu erheben. Durch die Regelmäßigkeit können dynamische Entwicklungen vielfältiger Facetten des Wohlergehens erfasst werden. Zudem können Einflüsse gesellschaftlicher Entwicklungen nachgezeichnet und gezielte politische Maßnahmen kritisch beleuchtet werden, etwa die Verkürzung der Zeit am Gymnasium bis zum Abitur auf acht Jahre (G8) und die Rückkehr zum Regelabitur nach neun Jahren oder der Ausbau der Kindertagesbetreuung. Gleichzeitig dürfen neue Aspekte des Wohlergehens dabei nicht außer Acht gelassen werden, beispielsweise der Einfluss moderner Technologien oder Flucht- und Zuwanderungserfahrungen innerhalb von Europa durch Krieg. Qualitative Methoden können hier neben standardisierten Erhebungen helfen, ein umfassendes Bild zum Thema Wohlergehen zu erhalten und neue Facetten zu beleuchten.

Darüber hinaus könnten zusätzliche Datenquellen und Methoden dazu beitragen, ein noch detaillierteres und individuelleres Bild über das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen im Alltags(er)leben zu zeichnen. Daten zu ihrem Bewegungsverhalten geben beispielsweise Hinweise über das körperliche Wohlbefinden im Alltag, Daten aus Social-Media-Netzwerken liefern Informationen über die soziale Eingebundenheit oder die Aktivität in Gruppen. Bei der Nutzung dieser Methoden ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Privatsphäre von Kindern und Jugendlichen nach wie vor besonders geschützt und ihre informierte Einwilligung sichergestellt werden muss.

Andresen, Sabine / Schneekloth, Ulrich (2014): Wohlbefinden und Gerechtigkeit. Konzeptionelle Perspektiven und empirische Befunde der Kindheitsforschung am Beispiel der World Vision Kinderstudie 2013. In: Zeitschrift für Pädagogik, 60. Jg, H. 4, S. 535–551

Ben-Arieh, Asher u.a. (2014): Multifaceted Concept of Child Well-Being. In: Ben-Arieh, Asher u.a. (Hrsg.): Handbook of Child Well-Being. Theories, Methods and Policies in Global Perspective. Dordrecht, S. 1–27

Berngruber, Anne / Herz, Andreas (2023): Verselbstständigung als eine zentrale Herausforderung des Jugendalters. Wann im Leben findet was zum ersten Mal statt und inwiefern hat die Corona- Pandemie junge Menschen ausgebremst? In: Sozial Extra, 47. Jg., H. 3, S. 126–131

Conger, Rand D. / Donnellan, M. Brent (2007): An Interactionist Perspective on the Socioeconomic Context of Human Development. In: Annual Review of Psychology, 58. Jg, S. 175–199

Deci, Edward L. / Ryan, Richard M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik, 39. Jg, H. 2, S. 223–238 GOODMAN, ROBERT N. (1997): The Strengths and Difficulties Questionnaire: A Research Note. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry, 38. Jg., H. 5, S. 581–586

Guglhör-Rudan, Angelika / Langmeyer-Tornier, Alexandra (2021): Autonomieerleben in Familie und Schule aus der Perspektive von Kindern. In: Kuger, Susanne/Walper, Sabine/ Rauschenbach, Thomas (Hrsg.): Aufwachsen in Deutschland 2019. Alltagswelten von Kindern, Jugendlichen und Familien. Bielefeld, S. 64–73

Joussemet, Mireille / Landry, Renée / Koestner, Richard (2008): A Self-Determination Theory Perspective on Parenting. In: Canadian Psychology / Psychologie canadienne, 49. Jg., H. 3, S. 194–200

Minkkinen, Jaana (2013): The Structural Model of Child Well-Being. In: Child Indicators Research, Jg. 6, H. 3, S. 547–558

Nussbaum, Martha / Sen, Amartya (Hrsg.) (1993): The Quality of Life. Oxford

Prein, Gerald / Quellenberg, Holger (2021): Aufwachsen in Deprivation. In: Kuger, Susanne/ Walper, Sabine/Rauschenbach, Thomas (Hrsg.): Aufwachsen in Deutschland 2019. Alltagswelten von Kindern, Jugendlichen und Familien. Bielefeld, S. 27–33

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2023 von DJI Impulse „60 Jahre Forschung über Kinder, Jugendliche, Familien und die Institutionen, die sie im Leben begleiten“ (Download PDF).

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