Krisenbewältigung in der Kita
Hygienevorschriften sind in Krippen und Kindergärten nur eingeschränkt umsetzbar. Wie die Kita-Leitungen dennoch einen Infektionsschutz ermöglichen und was sie zu Beginn der
Pandemie am meisten belastete, zeigt eine DJI-Studie.
Von Katja Flämig und Bernhard Kalicki
Die Corona-Pandemie brachte für Kindertageseinrichtungen tiefgreifende Veränderungen mit sich, auf die ad hoc reagiert werden musste. Die meisten Kindertageseinrichtungen boten ab dem 16. März 2020 eine eingeschränkte Notbetreuung an, damit Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen betreut werden konnten. Die anfangs nur sehr geringen Inanspruchnahmequoten stiegen in der Folge sukzessive an; zeitgleich wurden ministerielle Vorgaben zu Schutz- und Hygienemaßnahmen und Empfehlungen ihrer Umsetzung in Kindertageseinrichtungen veröffentlicht. Dabei ging es darum, langfristig wieder einen Regelbetrieb zu ermöglichen, der einerseits die Bildung und Betreuung der Kinder gewährleistet, familiäre Erziehung ergänzt sowie Eltern in der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit unterstützt und andererseits das Infektionsgeschehen unter Kontrolle hält.
Distanzgebot ist mit jungen Kindern nicht realisierbar
Eine spezifische Herausforderung bei der Erreichung dieser Ziele bestand darin, dass die allgemein bekannte Trias der wirksamen Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens „Abstand halten“, „Hände waschen“, „Alltagsmaske tragen“ (die sogenannte AHA-Regel) in der Arbeit mit jungen Kindern als nicht realisierbar angesehen wird (JFMK 2020). Dies betrifft insbesondere das Distanzgebot und das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Zur Aufrechterhaltung von Beziehungs- und Bindungssicherheit zu Erwachsenen und anderen Kindern ist für junge Kinder teilweise enger Körperkontakt zwingend notwendig. Altersangemessenes Spiel sowie der Umgang mit Materialien sind nur über ein freies Bewegen der Kinder im Raum und über dezentrale sowie parallel stattfindende Aktivitäten in Kleingruppen zu gewährleisten. Kinder unter drei Jahren oder auch mehrsprachig aufwachsende Kinder sind außerdem auf die Betrachtung der Mimik angewiesen, um zu kommunizieren und zu verstehen.
Aufgrund dieser Spezifik der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen liegt die Herausforderung darin, angemessene Maßnahmen zu treffen, die die Aufhebung des Distanzgebots sowie fehlende Masken auszugleichen helfen. Neben verstärkter Reinigung von Oberflächen, Lüftungsroutinen, Händewaschen, Distanz und Mund-Nasen-Schutz im Umgang zwischen den Beschäftigten und Eltern wurde hier vor allem die Bildung von festen Kindergruppen in voneinander getrennten Räumen und Außenbereichen empfohlen (JFMK 2020).
Kitas müssen ihre Organisation teilweise komplett umstrukturieren
Welche Herausforderungen sich bei der Umsetzung dieser Hygienevorschriften stellten, wie Kinder, Eltern und Personal der Kindertageseinrichtungen mit der neuen Situation umgingen und wie Leitungen die Phase der stufenweisen Erweiterung der Notbetreuung bewältigten, untersuchte das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in einer explorativ angelegten Interviewstudie mit 83 Kita-Leitungen.
Eine wesentliche Maßnahme zur Verhinderung der Virusverbreitung bestand in der politischen Vorgabe, den Kita-Alltag in festen Kindergruppen zu organisieren, die zusammen mit zwei Fachkräften einem Gruppenraum zugeordnet sind und untereinander möglichst wenig Kontakt haben. Die Umsetzung dieser Vorgabe hatte bei 69 Prozent der befragten Kindertageseinrichtungen eine neue Zusammenstellung von Kita-Gruppen zur Folge, die teilweise mit der Einführung von Altersmischung in vorher altershomogenen Gruppen einherging.
Insbesondere für die 30 Prozent der Kitas mit dem Konzept der „offenen Arbeit“ war die (Wieder-)Einrichtung von festen Gruppen ein Einschnitt in die Strukturierung der pädagogischen Arbeit, der als nachteilig für bisherige Team- und Organisationsentwicklungsprozesse empfunden wurde. Die Leitungen dieser Einrichtungen berichteten von einer Einschränkung des Platzes, der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Vielfalt des Materialangebotes für Kinder sowie von weniger gruppenübergreifenden Projekten (wie Turntagen, Chören, spezifischen kreativen Angeboten). Darüber hinaus wurden Einschränkungen in der Wahl von Spielpartnerinnen und Spielpartnern, Spielorten und in den Entscheidungsmöglichkeiten der Kinder genannt.
Die DJI-Notbetreuungsstudie: Erfahrungen von Kita-Leitungen während der stufenweisen Erweiterung der Notbetreuung im Frühjahr 2020
Die explorativ angelegte Notbetreuungsstudie des DJI wurde mit teilstandardisierten telefonischen Interviews in elf Bundesländern durchgeführt. Der Zugang zu den Interviewpartnerinnen und-partnern erfolgte durch E-Mail-Kontakte über Jugendämter, Trägerverbände und überregional tätige Einrichtungsträger. Von insgesamt 100 teilnahmebereiten Leiterinnen und Leitern konnten letztlich 83 erfolgreich interviewt werden. Der Zeitraum der Befragung erstreckte sich vom 30. April bis zum 28. Mai 2020, das heißt, er lag in der Phase der „flexiblen und stufenweisen Erweiterung der Notbetreuung“ nach einer Phase der „eingeschränkten Notbetreuung“. Der verwendete Interviewleitfaden enthält unter anderem Fragen zu Eckdaten der Notbetreuung (Trägerschaft, Öffnungszeiten etc.), zur organisatorischen Umsetzung von Schutz- und Hygienemaßnahmen, zur pädagogischen Arbeit unter den Bedingungen der Notbetreuung, zum Verhalten und Wohlbefinden der Kinder, ihrer Familien und des Personals. Die beteiligten Studienautorinnen und -autoren sind: Judith Durand, Lisa-Marie Falten, Dr. Katja Flämig, Mariana Grgic, Prof. Dr. Bernhard Kalicki, Verena Kappes, Dr. Michael Müller, Dr. Franz Neuberger und Daniel Turani.
Das günstigere Betreuungsverhältnis bringt in der Arbeit mit Kindern auch Vorteile
Diese Einschränkungen wurden jedoch in allen Einrichtungen der Stichprobe aufgefangen von einem deutlich günstigeren Betreuungsverhältnis, das eine entspanntere und flexiblere
Tagesgestaltung ermöglichte. Während die Kindertageseinrichtungen zeitlich ungefähr genauso umfangreich geöffnet hatten wie vor der Pandemie, war jedoch nur noch rund ein Viertel der Kinder dort anwesend. Zwar wurde auch weniger Personal eingesetzt. Es standen dennoch durchschnittlich zwei Fachkräfte für vier bis sechs Kinder pro Gruppe zur Verfügung.
Diese Zahlen bestätigen, was von den Kita-Leitungen in den Interviews wiederholt geschildert wurde: Die Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse und Interessen der Kinder war sehr hoch, die Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern konnten störungsfreier und individueller gestaltet und die Ideen und Wünsche der Kinder besser realisiert werden (beispielsweise Gemüse anbauen, gemeinsam einkaufen und kochen). Dementsprechend waren das Engagement und das Wohlbefinden der frühpädagogischen Fachkräfte insgesamt hoch.
Die Fachkräfte nutzten die Möglichkeit, ihre Interessen in die Alltagsgestaltung einzubringen, sich mit neuen Konzepten, Sprachbildungs- und Beobachtungsverfahren vertraut zu machen und lange geplante Vorhaben zu verwirklichen. Daneben wurden in jedem vierten Interview jedoch auch die Angst vor Erkrankung, der Wunsch nach stärkerem Infektionsschutz für das Personal oder Sorgen über den weiteren Verlauf der Pandemie geäußert.
Kita-Leitungen haben viele zusätzliche Aufgaben und unnötige Konflikte mit Eltern zu bewältigen
Während das Personal auch positive Erfahrungen machte und die Phase der eingeschränkten Notbetreuung für den Erwerb professioneller Kompetenzen nutzen konnte, waren Leitungen in ihrer Führungsverantwortung stärker belastet und mit einem erweiterten Aufgabenspektrum gefordert. Sie mussten meist sehr kurzfristig Abläufe gemäß den wechselnden ministeriellen Vorgaben neu planen. Außerdem kümmerten sie sich um die Zusammensetzung von Gruppen, die Umgestaltung von Räumen, die Neustrukturierung der pädagogischen Arbeit, den Einsatz des Personals unter Berücksichtigung von Risikofaktoren und regulierten den Zugang der Kinder beziehungsweise Familien zu einem Notbetreuungsplatz.
Insbesondere die letztgenannte Aufgabe wurde in den Interviews als äußerst arbeitsintensiv beschrieben und erforderte ausgeprägte Kommunikationskompetenzen. Der Zugang zu einem Betreuungsplatz wurde über sich sukzessive ausweitende Aufnahmekriterien reguliert, wobei in der Phase der eingeschränkten Notbetreuung die Systemrelevanz des elterlichen Berufs eine dominante Rolle spielte. Die Leitungen roblematisierten, dass die Aufnahmekriterien unpräzise und nicht mit Definitionen versehen waren. Sie ließen daher unterschiedliche Auslegungen sowohl von Eltern sowie Arbeitgeberinnen und -gebern als auch von Leitungen und Trägervertretungen zu, sodass die Kita-Leitungen hier teils aufwendige Abstimmungsprozesse steuern mussten.
Die Hälfte der befragten Leitungen berichtete von Problemen, zum Beispiel von individuellen Telefonaten mit Eltern in Konkurrenzsituationen, denen die Nichtvergabe eines Notbetreuungsplatzes begründet werden musste. Die Regulierung des Zugangs zur Kindertagesbetreuung brachte Leitungen darüber hinaus in Dilemmasituationen. Beispielsweise wollten sie aus Kenntnis der familiären Verhältnisse bestimmten Kindern (etwa aus bildungsbenachteiligten Familien) eine Betreuungsmöglichkeit anbieten, die jedoch nach den Aufnahmekriterien keinen Anspruch hatten, oder sie wurden mit Ansprüchen unzufriedener und zum Teil in Notlagen befindlicher Eltern konfrontiert. Häufig erhielten sie dabei kaum Unterstützung auf administrativer Ebene. Von einem Fünftel der Leitungen wurden diese Situationen durch Eigeninitiative und eine weite Auslegung der Aufnahmekriterien gelöst.
Der Unterstützungsbedarf von Eltern findet mehr Beachtung als der von Kindern
Mit Blick auf diejenigen Aufnahmekriterien, die besonders häufig zur Anwendung kamen (Systemrelevanz eines oder beider Elternteile, Alleinerziehende), wird zudem deutlich, dass die Bedarfslagen von Eltern in der besonderen Situation umfangreicher Beachtung fanden als diejenigen von Kindern. Die bundesweit empfohlene Liste der Aufnahmekriterien (JFMK 2020) umfasst allerdings neben dem gesellschaftlich definierten Bedarf an der elterlichen Arbeitskraft ausdrücklich auch Bedarfe von Kindern, die in besonderer Weise von institutionalisierter Kindertagesbetreuung profitieren (beispielsweise Kinder des Vorschuljahrgangs oder mehrsprachig aufwachsende Kinder).
Doch insbesondere diese Aufnahmekriterien fanden sich im Ranking der von den Leitungen angewendeten Kriterien auf den hinteren Plätzen (siehe Abbildung). Die Funktionszuschreibung für die Kindertagesbetreuung, die seit dem 19. Jahrhundert zwischen Bildungsauftrag und sozialintegrativer Funktion changiert (Reyer 2015), wird offensichtlich in Krisensituationen zugunsten von Letzterem entschieden.

Große Herausforderungen für pädagogische Fachkräfte
Die hier vorgestellten Ergebnisse sind in einer frühen Phase der stufenweisen Öffnung auf dem Weg zum Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen entstanden. Sie lassen auch nicht intendierte Zusammenhänge zwischen administrativer Steuerung der Krise und der Eigendynamik institutionalisierter Kindertagesbetreuung erkennen. Darüber hinaus deuten sie an, wie eine neue organisatorische und pädagogische Gestaltung der Kindertageseinrichtungen angestoßen wird, wenn unterschiedliche Ansprüche (von Familien, Behörden, pädagogischem Personal) abzuwägen und auszuhandeln sind, wobei Leitungen hier klar mehr Beteiligung in Steuerungsfragen begrüßt hätten. 45 Prozent der befragten Leitungen wünschten sich außerdem präzisere ministerielle Vorgaben, schnellere Kommunikationswege und mehr Planbarkeit während der Krise.
Die Ergebnisse der Leitungsbefragung machen ferner deutlich, dass die Kindertageseinrichtungen während des Lockdowns und in der Phase der stufenweisen Öffnung nicht nur Raumordnungen und organisatorische Abläufe neu gestalten mussten. Die pädagogischen Fachkräfte und Leitungen waren darüber hinaus gefordert, ihre Beziehungen zu Familien, die eigene professionelle Haltung und die Aufgaben von Kindertagesbetreuung zu überdenken, zu problematisieren und zu kommunizieren.
Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) (2020): Gemeinsamer Rahmen der Länder für einen stufenweisen Prozess der Öffnung der Kindertagesbetreuungsangebote von der Notbetreuung hin zum Regelbetrieb im Kontext der Corona-Pandemie vom 28.04.2020
Reyer, Jürgen (2015): Die Bildungsaufträge des Kindergartens. Weinheim/Basel

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2020 von DJI Impulse „Im Krisenmodus: Wie das Coronavirus den Alltag von Eltern und Kindern verändert“ (Download PDF).