Im Griff der Pandemie
Die Eindämmung des Coronavirus verlangt nicht nur Familien in Deutschland viel ab. Auch Kindertageseinrichtungen und Schulen müssen sich häufig komplett neu organisieren. Wie Eltern, Kinder und Fachkräfte die Krise bewältigen – eine Zwischenbilanz.
Von Susanne Kuger und Thomas Rauschenbach
Als an Silvester 2019 die Weltgesundheitsorganisation die ersten Fälle einer „neuartigen Lungenerkrankung“ aus China meldete, nahmen diese Nachricht in Deutschland nur wenige Personen wahr. Bald wurde als Ursache eine neue Variante des SARS-Virus benannt, die ursprünglich auf einem Markt in Wuhan vom Tier auf den Menschen übergesprungen sei und sehr leicht von Mensch zu Mensch übertragen werden könne. Innerhalb der ersten vier Tage der internationalen Beobachtung wurden 44 erkrankte Personen gemeldet, von denen 11 einen sehr schweren Erkrankungsverlauf zeigten, die Zahl der tödlich verlaufenden Erkrankungen stieg schnell. Durch Kontakte nach Wuhan, einer global vernetzten Metropole mit mehr als 11 Millionen Einwohnern, wurde Ende Januar eine kleine Gruppe von Mitarbeitenden einer Firma in Starnberg infiziert. Langsam schwand damit die Hoffnung, dass sich das Virus und seine Ausbreitung bald eingrenzen ließe. Spätestens als die Infektionszahlen in vielen (europäischen) Ländern gleichzeitig in die Höhe schnellten, wurde klar, wie einfach es für eine solche Virusinfektion ist, in unserer globalisierten Gesellschaft eine weltweite Pandemie auszulösen.
Als in Deutschland die Infektionszahlen exponentiell stiegen, entschloss sich die Bundesregierung zu einem Schritt, der zuvor völlig undenkbar erschien: Mitte März 2020 wurde das öffentliche Leben nahezu vollständig heruntergefahren. Kindergärten und Schulen wurden ebenso geschlossen wie weite Teile des Einzelhandels, Gaststätten oder kulturelle Einrichtungen. Der öffentliche Nahverkehr wurde gedrosselt, viele Unternehmen ordneten Kurzarbeit an, Universitäten verkündeten zeitweilig ein Betretungsverbot, viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber verlagerten den Berufsalltag ihrer Beschäftigten ins Homeoffice. Bewegung im Freien, der Sport, der Spaziergang im Park oder der Besuch eines Spielplatzes bekamen plötzlich einen ganz anderen Stellenwert. Erst nach wochenlangem gesellschaftlichem Stillstand wurden diese starken Einschränkungen der Grundrechte – als die Infektionszahlen merklich zurückgingen – wieder vorsichtig gelockert.
Der Lockdown belastet erwerbstätige Familien mehrfach
Unstrittig ist, dass die Menschen in Deutschland in den ersten Wochen und Monaten von diesem Stillstand unterschiedlich hart getroffen wurden. Besonders belastend war die Situation in der frühen Phase für zwei Gruppen: für diejenigen, deren Existenz ökonomisch auf dem Spiel stand, sowie für jene Menschen, deren normaler Alltag mehrfach belastet wurde und die zugleich keine Ausweichmöglichkeiten mehr nutzen konnten.
Multiple Belastungen hatten auch Familien auszuhalten, in denen sich Eltern mit einer deutlich veränderten Balance von Familie und Erwerbstätigkeit auseinandersetzen mussten. Kinder durften größtenteils nicht mehr in die Kita oder Schule gehen, Kontakte zu Großeltern sollten vermieden werden, und auch sonstige Entlastungsoptionen für gestresste Familien entfielen. Dabei zeigten erste Studien – unter anderem aus dem Deutschen Jugendinstitut (DJI) –, wie asynchron die Anpassung an die veränderten Modalitäten der Arbeitswelt verteilt war (Bünning u.a. 2020, Boll/Schüller 2020). So hatten und haben Eltern vor allem mit drei unterschiedlichen Problemen zu kämpfen.
Zum einen mussten im Frühjahr 2020 viele Eltern als Arbeitnehmende in Kurzarbeit gehen oder waren vom Verlust ihrer Arbeitsplätze bedroht, andere verloren als Selbstständige ihre Aufträge und gerieten in finanzielle Turbulenzen. Den Familienalltag begleiteten damit nicht selten existenzielle ökonomische Sorgen.
Zum anderen gab es Eltern, die sogar deutlich mehr arbeiten mussten und keinen Urlaub nehmen durften. Sie sollten ihr Privatleben einschränken, um ihr eigenes Ansteckungsrisiko zu reduzieren und um weiterhin als Arbeitskraft für den Supermarkt, das Krankenhaus oder die Pflegeeinrichtung bereitzustehen. Da jedoch Kitas und Schulen ab Mitte März bis Anfang Mai 2020 größtenteils geschlossen waren, blieb diesen Familien oft nichts Anderes übrig, als die Kinderbetreuung selbst notdürftig zu organisieren. Vorübergehend erweiterte rechtliche Ansprüche auf institutionelle Notbetreuung oder großzügige Kulanzregelungen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber im Einzelfall entlasteten diese Familien nur bedingt. Manchmal mussten Elternteile beispielsweise Urlaub nehmen oder Überstunden abbauen.
Und schließlich gab es Mütter und Väter, die von ihren Dienstherren angehalten wurden, zu Hause zu bleiben und von dort aus den beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Problematisch wurde dieses Homeoffice nach ersten bislang unveröffentlichten Ergebnissen der Corona-Ergänzungsstudie des DJI-Surveys „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“, kurz AID:A, vor allem dann, wenn – ungeachtet technischer und räumlicher Hürden – beide Elternteile von zu Hause ausarbeiten mussten und parallel die Betreuung oder das Homeschooling ihrer Kinder managen sollten.
Corona-Zusatzbefragung in der dritten AID:A-Erhebung: Wie sich der Schul- und Berufsalltag sowie das Freizeit- und Sozialverhalten der Menschen verändern
Der Survey des DJI „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“, kurz AID:A, bietet detaillierte Einblicke in die Lebensbedingungen und die Entwicklung von Kindern, Jugendlichen sowie jungen Erwachsenen und ergänzt somit die Analysen der amtlichen Statistik um wichtige Facetten. Im Rahmen einer Zusatzbefragung zur Corona-Krise wird seit Anfang August erhoben, wie Menschen in Deutschland ihren Alltag unter Pandemiebedingungen erleben. Die Fragen gehen auf die verschiedenen Lebenslagen der Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Familien ein. Sie erfassen vor allem die Veränderungen im Schul- und Berufsalltag, die Sorgen der Menschen, Einschränkungen in ihrer Freizeit und im Sozialverhalten sowie ihre Strategien, mit den Veränderungen zurechtzukommen oder andere in dieser Zeit zu unterstützen.
Corona verschärft soziale Ungleichheiten und Risiken für Kinder
Während Familien also ihren Alltag räumlich viel enger beieinander verbringen mussten, waren zugleich vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Angst um die eigene Gesundheit und die der Familie mehr Aufgaben zu bewältigen (Cohen 2020). Dies stellte sämtliche Familienmitglieder vor neue Herausforderungen. Für Kinder und Jugendliche beispielsweise entfiel das alltägliche Leben in Kita und Schule; manche Freizeitbeschäftigung war nicht mehr möglich, und der Schulstoff musste zu Hause weitgehend selbstständig erarbeitet werden. Auch diesbezüglich liegen soziale Disparitäten nahe: diejenigen, die von den Eltern unterstützt wurden, die sich in dieser Situation selbst zu helfen wussten oder sich (zumindest virtuell) mit anderen zusammenschließen konnten, waren in einer vergleichsweise besseren Lage als jene Kinder und Jugendlichen, denen diese Ressourcen nicht zur Verfügung standen.
Während ein Teil der Erwachsenen es gewohnt war, sich digital mit Freundinnen und Freunden oder Bekannten zu verständigen und über soziale Netzwerke auszutauschen, litten andere Bevölkerungsgruppen stark unter den Kontaktbeschränkungen während des Lockdowns im Frühjahr 2020. Vor allem Menschen, die mit der digitalen Mediennutzung weniger vertraut waren, fiel es schwer, Beziehungen zu pflegen. Besonders davon betroffen waren beispielsweise ältere Menschen oder Kinder. Das Spielen in der Kita-Gruppe oder auf dem Spielplatz, das nachmittägliche Treffen auf dem Bolzplatz oder die Abende in der Jugendgruppe wurden ebenso vermisst wie Besuche von Freundinnen, Freunden oder Großeltern (Langmeyer 2020). Welche Auswirkungen all dies auf die mittelfristige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben wird, wird derzeit untersucht.
Ob ein Teil der Kinder aufgrund der vielfachen Belastungen von Familien verstärkt Opfer häuslicher Gewalt wurde, ist ebenfalls eine wichtige Frage. Eine Studie des DJI und eine Studie des Forschungsverbundes DJI/TU Dortmund weisen darauf hin, dass die Zahl der in Jugendämtern bearbeiteten Kinderschutzfälle in dieser Phase nicht gestiegen ist. Dennoch gibt es Hinweise auf Unsicherheiten bei den Fachkräften und letztlich auf unerkannte Gewalt (Mairhofer u.a. 2020, Mühlmann/Pothmann 2020).
Kitas und Schulen müssen ihre pädagogische Arbeit neu denken
Die Kindertagesbetreuung reduzierte ihr Angebot während der ersten Corona-Welle auf eine Notbetreuung für wenige Familien. Erst mit einem Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz Ende April 2020 wurden verbindliche Stufen des Öffnungsgeschehens in der Kindertagesbetreuung festgelegt (Autorengruppe Corona-KiTa-Studie 2020a).
Den Infektionsschutz in Kitas zu gewährleisten, stellte die Kita-Leitungen laut den Ergebnissen der DJI-Notbetreuungsstudie vor große Herausforderungen. Die pädagogische Arbeit musste teilweise neu organisiert und gleichzeitig die Änderungen und neuen ministeriellen Vorgaben an die Eltern kommuniziert werden. Die befragten Leitungen problematisierten vor allem, dass die Kriterien, nach denen Kinder während der Notbetreuung aufgenommen werden durften, unklar waren, was ihnen teilweise unnötige Abstimmungsprozesse mit Eltern sowie Arbeitgeberinnen und -gebern bescherte.
Auch der Schulunterricht wurde zunächst nur für einen Teil der Kinder und Jugendlichen wiederaufgenommen, wobei anfangs vor allem Schülerinnen und Schüler in Abschlussklassen im Präsenzunterricht beschult wurden. Weitere Modelle sahen tages- oder wochenweise Schichtmodelle des Unterrichts vor, bei dem im Wechsel nur jeweils ein Teil der Kinder vor Ort mit den Lehrkräften arbeitete, während der andere Teil zu Hause lernen sollte.
Infizierte Kinder sind möglicherweise weniger ansteckend als Erwachsene
In den verschiedenen Bundesländern wurden anschließend im Mai die Kontaktbeschränkungen ebenso wie Schul- und Kita-Schließungen in unterschiedlicher Geschwindigkeit wieder zurückgenommen. Die Verantwortung für diese Regelungen wurde in wachsendem Maße dezentralisiert und den Kommunen überlassen. Dabei galten zwei Warnstufen, die von der Anzahl neu Infizierter pro Gesamteinwohnerzahl abhingen (Inzidenzwert); mit Blick darauf sollten die Kommunen lokale Regeln planen und festlegen. Doch trotz des Bemühens Kitas und Grundschulen allmählich wieder regulär zu öffnen, besuchten das Betreuungsangebot nach den Ergebnissen der DJI-Kinderbetreuungsstudie (KiBS) zunächst weniger Kinder als vor der Pandemie.
Begleitet wurde die schrittweise Öffnung der Schulen und Kitas von der Debatte, inwiefern Kinder zum Infektionsgeschehen beitragen. Auch wenn letztlich noch keine Klarheit über diese Frage besteht, weist die Forschungslage darauf hin, dass infizierte Kinder möglicherweise weniger ansteckend sind als Erwachsene (Autorgengruppe Corona-KiTa-Studie 2020a). Auch die ersten Ergebnisse der bundesweiten Corona-KiTa-Studie, bei der das DJI und das Robert Koch-Institut (RKI) die Rolle der Kindertagesbetreuung bei der Ausbreitung von SARSCoV-2 untersuchen, deuten in diese Richtung: So waren an den 108 Corona-Ausbrüchen zwischen Februar und Oktober 2020 in den bundesweit 57.600 Kitas zu etwa zwei Dritteln erkrankte Erwachsene und nur zu ungefähr einem Drittel Kinder im Alter von unter sechs Jahren beteiligt (Autorengruppe Corona-KiTa-Studie 2020b).
Die Corona-KiTa-Studie: wissenschaftliche Datenanalysen zur Rolle der Kindertagesbetreuung und der Kinder bei der Ausbreitung des Coronavirus
Die deutschlandweite Corona-KiTa-Studie des DJI und des Robert Koch-Instituts (RKI) untersucht seit Mai 2020 aus sozialwissenschaftlicher und
medizinischer Sicht, was die Pandemie für Kitas und Tagespflege, Kinder und Eltern bedeutet. Welche Infektionsrisiken bestehen in diesen Netzwerken? Vor welchen Herausforderungen stehen die Einrichtungen? Die Analysen beruhen auf einer breiten wissenschaftlichen Datenbasis: Neben den regelmäßigen bundesweiten Meldungen aus dem KiTa-Register sind das die Ergebnisse von Stichprobenbefragungen in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung und bei Eltern. Zudem werden Meldedaten zu Covid-19 und Daten der syndromischen Surveillance am RKI (zum Beispiel GrippeWeb) ausgewertet; auch anlassbezogene Tests in Kitas werden durchgeführt.
Die Folgen von Corona bewältigen: eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
So tiefgreifend die Veränderungen im Alltag sind, so vielfältig sind die von Bund und Ländern bislang verabschiedeten Hilfspakete und Unterstützungsmaßnahmen, von denen auch Kinder, Jugendliche und Familien profitieren. Zugleich unterstützten sich viele Menschen gegenseitig. Auch Jugendliche und junge Erwachsene brachten ihre Zeit sowie ihre speziellen Fähigkeiten und Kenntnisse zur Bewältigung der Krise ein. Dabei entstanden Hilfsangebote wie private Kinderbetreuungszirkel, Hausaufgabenhilfen oder Online-Lernvideos, Fahrdienste oder Nähstuben für Alltagsmasken.
Mehr als die Hälfte der befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen gab in der Corona-Ergänzungsstudie von AID:A an, anderen in Technikfragen geholfen zu haben, etwa um neue Kommunikationskanäle herzustellen oder die Voraussetzungen für Homeoffice zu schaffen. Mehr als jeder fünfte befragte junge Mensch engagierte sich in der Nachbarschaftshilfe, beispielsweise als Einkaufshilfe für ältere Nachbarn.
Die Bewältigung der Corona-Pandemie bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auch Kinder, Jugendliche und Familien sowie die unterstützenden Institutionen und Organisationen vor große Herausforderungen stellt. Gegenwärtig befindet sich Deutschland inmitten einer zweiten Infektionswelle, die laut der Nationalen Akademie der Wissenschaften, kurz Leopoldina, im November 2020 trotz beachtlicher Dynamik – noch – weniger dramatisch ist als in manchen Nachbarländern. Bis zuletzt hat sich etwa ein Prozent der Menschen in Deutschland mit dem Virus infiziert. Auch wenn es mittlerweile gute Neuigkeiten bezüglich der Entwicklung von Impfstoffen gibt, so muss doch allen klar sein, dass wir uns weiterhin inmitten einer längeren Entwicklung befinden, die unserer Gesellschaft noch einiges abverlangen wird. Die belastende Unsicherheit bleibt.
Anton, Jeffrey / Hubert, Sandra / Kuger, Susanne (2020): DJI-Kinderbetreuungsreport 2020. Betreuungsbedarf und Passung bei U3- und U6-Kindern in Deutschland. Im Erscheinen. München
Autorengruppe Corona-Kita-Studie (2020a): Quartalsbericht der Corona-KiTa-Studie (III/2020). Verfügbar unter: corona-kita-studie.de/#ergebnisse
Autorengruppe Corona-Kita-Studie (2020b): Monatsbericht der Corona-KiTa-Studie September 2020. Verfügbar unter: corona-kita-studie.de/#ergebnisse
Boll, Christina / Schüller, Simone (2020): Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos –empirisch gestützte Überlegungen zur elterlichen Aufteilung der Kinderbetreuung vor, während und nach dem Covid-19 Lockdown, Soeppapers on Multidisciplinary Panel Data Research 1089/2020. Berlin
Bünning, Mareike / Hipp, Lena / Munnes, Stefan (2020): Erwerbsarbeit in Zeiten von Corona. WZB Ergebnisbericht, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Berlin
Cohen, Franziska / Oppermann, Elisa / Anders, Yvonne (2020): Familie & Kitas in der Corona-Zeit. Zusammenfassung der Ergebnisse. Bamberg: Universität Bamberg
Langmeyer, Alexandra u.a. (2020): Kind sein in Zeiten von Corona. Ergebnisbericht. Im Erscheinen. München
Mairhofer, Andreas u.a. (2020): Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. DJI-Jugendhilfeb@rometer bei Jugendämtern. München
Mühlmann, Thomas / Pothmann, Jens (2020): Gefährdungseinschätzungen der Jugendämter in Zeiten von Corona-Kontaktbeschränkungen. In: KomDat Jugendhilfe, Jahrgang 23, Nr. 2+3/2020

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2020 von DJI Impulse „Im Krisenmodus: Wie das Coronavirus den Alltag von Eltern und Kindern verändert“ (Download PDF).