Kinderschutz während der Pandemie
Trotz der Kontakteinschränkungen wegen des Coronavirus müssen Jugendämter Gefahren für Kinder und Jugendliche zuverlässig erkennen, um ihnen helfen zu können. Untersuchungen zeigen, dass sich die Zahl der bearbeiteten Kinderschutzfälle im Sommer 2020 zwar nicht erhöhte, es aber Hinweise auf unerkannte Gewalt gibt.
Von Jens Pothmann und Thomas Mühlmann
Trotz Corona-bedingter Maßnahmen zur Einschränkung von Kontakten und Begegnungen muss das Jugendamt den Schutz von Kindern und Jugendlichen weiter sicherstellen. Dazu gehört auch die Pflicht, allen gewichtigen Anhaltspunkten für Gefährdungen nachzugehen und das Risiko für betroffene Minderjährige einzuschätzen. Bei dieser mit Verweis auf Paragraf 8a des Achten Sozialgesetzbuchs auch „8a-Verfahren“ genannten Gefährdungseinschätzung verschafft sich das Jugendamt einen persönlichen Eindruck von der Lebenssituation der Betroffenen – häufig durch einen Hausbesuch. Auf dieser Grundlage und mithilfe weiterer Informationen schätzen dann mehrere Fachkräfte gemeinsam das Gefährdungsrisiko ein. Ein „8a-Verfahren“ endet mit der Feststellung des Jugendamts, ob und inwieweit aus dessen Sicht das Wohl des betroffenen Kindes oder Jugendlichen gefährdet ist und ob ein Hilfebedarf besteht.
Um aktuelle und belastbare Daten über das Handeln der Jugendämter im Kinderschutz in Corona-Zeiten zu erhalten, lässt das Bundesfamilienministerium seit Mai 2020 Daten zu den durchgeführten Gefährdungseinschätzungen erfassen. Damit soll beispielsweise die Frage beantwortet werden, inwieweit Jugendämter nötige Hinweise auf mögliche Kindeswohlgefährdungen erreichen, obwohl Institutionen für Kinder und Jugendliche oder Teilbereiche von ihnen zumindest zeitweise personell ausgedünnt oder sogar ganz geschlossen waren.
Die für die Jugendämter freiwillige Erhebung orientiert sich methodisch an der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik (KJH-Statistik). Diese erfasst zwar vergleichbare Daten, veröffentlicht diese allerdings nur einmal jährlich. Die Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik (AKJStat) im Forschungsverbund DJI/TU Dortmund wertete im Oktober 2020 Zwischenergebnisse der noch laufenden „8a-Zusatzerhebung 2020“ aus und verglich diese mit Daten der KJH-Statistik des Jahres 2018.
Anzahl der Gefährdungseinschätzungen bleibt nahezu unverändert
Ein zentrales Zwischenergebnis der Zusatzerhebung ist, dass die daran teilnehmenden Jugendämter in den Monaten Mai bis Juli 2020 mit leichten Schwankungen insgesamt etwa genauso viele „8a-Verfahren“ durchgeführt haben wie im gleichen Zeitraum des Jahres 2018. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt für einen früheren Zeitraum auch die DJI-Untersuchung Jugendhilfeb@rometer (Mairhofer u.a. 2020). Rechnet man die absoluten Fallzahlen auf die im Zuständigkeitsbereich dieser Jugendämter lebende minderjährige Bevölkerung um, zeigt die Zusatzerhebung ebenso wie die KJH-Statistik 2018 etwa zehn „8a-Verfahren“ pro 10.000 unter 18-Jährige im Mai, circa elf im Juni und ungefähr 12 im Juli (siehe Abbildung 1).
Ein zweites zentrales Ergebnis ist, dass bisher kein „Nachholeffekt“ zu beobachten ist, wie er aufgrund der in diesem Zeitraum voranschreitenden weiteren Öffnung von Institutionen und stetigen Verringerung der Kontaktbeschränkungen teilweise erwartet worden war (Mairhofer u.a. 2020, NZFH 2020). Zwischen Mai und Juli stiegen die Fallzahlen zwar, dies korrespondiert aber mit auch früher beobachteten, typischen monatlichen Schwankungen innerhalb eines Jahres und lässt sich somit nicht auf die besonderen Bedingungen im Jahr 2020 zurückführen.
Mögliche Dunkelziffer bei Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen
Das augenscheinlich kaum veränderte Volumen wahrgenommener und bearbeiteter Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdungen ist aber aus mindestens zwei Gründen kritisch zu betrachten: Erstens liegen inzwischen erste Ergebnisse der KJH-Statistik für das Jahr 2019 vor. Demnach wurden im vergangenen Jahr 10 Prozent mehr „8a-Verfahren“ als im Jahr 2018 gemeldet. Zwar kann noch nicht beurteilt werden, inwieweit dieser Anstieg auch für die Jugendämter gilt, die sich an der Zusatzerhebung beteiligt haben, jedoch erscheint in diesem Lichte das im Jahr 2020 erreichte Niveau, das dem des Jahres 2018 entspricht, eher als zu niedrig.
Zweitens legt der aktuelle, teilweise noch vorläufige Forschungsstand den Schluss nahe, dass die Corona-bedingten Kontaktbeschränkungen zu einem Anstieg von Gefährdungssituationen für Kinder und Jugendliche geführt haben könnten (Andresen u.a. 2020, Steinert/Ebert 2020, UKE 2020, NZFH 2020). Angesichts dieser Aspekte würde die nahezu gleichbleibende Zahl von Gefährdungseinschätzungen bedeuten, dass zumindest diejenigen Jugendämter, die gleichbleibende oder geringere Fallzahlen verzeichnen, eine vermutlich gestiegene Anzahl von Gefährdungen bislang nicht in ausreichendem Maße wahrgenommen haben.
Große kommunale Unterschiede zwischen Jugendämtern
Die Gesamtergebnisse für Deutschland lassen sich allerdings nicht auf die kommunale Ebene übertragen. Vielmehr sind erhebliche kommunale Unterschiede zu beobachten. Besonders deutlich wird das am Beispiel des Monats Juni. Hier zählten 50 Prozent der für diesen Monat teilnehmenden Jugendämter deutlich mehr (mindestens plus 10 Prozent) „8a-Verfahren“ als im Vergleichszeitraum. 36 Prozent der Jugendämter verzeichneten dagegen einen deutlichen Rückgang (mindestens minus 10 Prozent) der Fallzahlen gegenüber dem Vergleichszeitraum. Der ausgewiesene Gesamttrend von sich im Juni nur geringfügig verändernden Fallzahlen gilt nur für 14 Prozent der Jugendämter. Dies zeigt, dass mögliche Auswirkungen der Corona-Pandemie offensichtlich stark mit lokalen Gegebenheiten zusammenhängen. Welche Faktoren mit Anstiegen oder Rückgängen korrelieren, bedarf weiterer Untersuchungen, auch über die „8a-Zusatzerhebung“ und die KJH-Statistik hinaus.
Schulen und Kitas geben weiter Hinweise
Neben der rein quantitativen Entwicklung der „8a-Verfahren“ stellt sich auch die Frage, ob sich Merkmale wie die Alterszusammensetzung der Betroffenen, die Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber oder die Ergebnisse der Verfahren unter Corona- Bedingungen verändert haben – und somit möglicherweise andere Kinder und Jugendliche ins Blickfeld der Jugendämter kamen als zuvor. Insgesamt zeigen die meisten Teilergebnisse der Zusatzerhebung eine große Konstanz im Vergleich zu den früheren Ergebnissen der KJH-Statistik. Dies ist insofern überraschend, als dass in einigen Bereichen – etwa Schulen, Kitas und anderen Institutionen – teilweise größere Veränderungen bezüglich der Anzahl von Hinweisen erwartet worden waren (Mairhofer u.a. 2020, WDR und SZ 2020, dpa 2020).
Lediglich punktuell fallen die Ergebnisse der Zusatzerhebung anders aus. Beispielsweise ist der Anteil der Verfahren, die auf Hinweise von Polizei und Justiz zurückzuführen sind, in der „8a-Zusatzerhebung 2020“ etwas höher als in der KJH-Statistik 2018 (siehe Abbildung 2). Der Anteil von Schulen und Kitas hingegen liegt zwischen Mai und Juni 2020 in einer zum Jahreswert 2018 vergleichbaren Größenordnung. Erst im Juli sinkt dieser Anteil deutlich. Dies könnte mit der Sommerferienzeit zu erklären sein, bedarf allerdings weiterer Klärung.
Andresen, Sabine u.a. (2020): Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie KiCo. Hildesheim
Deutsche Presse-Agentur (12. Juli 2020): Mehr häusliche Gewalt in der Corona-Zeit? Umfrage bei Landesministerien und -behörden. dpa-infocom, dpa: 200712-99-760398/3
Mairhofer, Andreas u.a. (2020): Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona Pandemie. DJI-Jugendhilfeb@rometer bei Jugendämtern. Deutsches Jugendinstitut. München
Mühlmann, Thomas (2019): Gefährdungseinschätzungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen (§ 8a SGB VIII). In: Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport 2018. Eine kennzahlenbasierte Analyse. Opladen, S. 135–144
Nationales Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) (2020): Gesundheitsfachkräfte zur Situation in Familien. Ergebnisse einer Online-Befragung von Gesundheitsfachkräften zu den Veränderungen durch Corona. www.fruehehilfen.de/gesundheitsfachkraefte-befragung-zu-corona (zuletzt aufgerufen am 23.10.2020)
Steinert, Janina / Ebert, Cara (2020): Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland während COVID-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen: Zusammenfassung der Ergebnisse. München
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (Hrsg.) (2020): Psychische Gesundheit von Kindern hat sich während der Corona-Pandemie verschlechtert. COPSY-Studie des UKE zeigt Zunahme von Stress und psychosomatischen Beschwerden. Pressemitteilung vom 10. Juli 2020
Westdeutscher Rundfunk Und Süddeutsche Zeitung (06.05.2020): Gewalt in Familien: Grund zu großer Sorge. Eine bundesweite Umfrage bei Jugendämtern. www.tagesschau.de/investigativ/wdr/jugendaemter-coronavirus-101.html (zuletzt aufgerufen am 23.09.2020)
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2020 von DJI Impulse „Im Krisenmodus: Wie das Coronavirus den Alltag von Eltern und Kindern verändert“ (Download PDF).