Grenzen wissenschaftlicher Politikberatung
Selten zuvor waren die Erwartungen an die Wissenschaft so hoch wie seit Beginn der Corona-Krise. Doch trotz drängender gesellschaftlicher Fragen gilt es, die Qualitätsstandards der Sozialforschung einzuhalten und die tatsächliche Aussagekraft von Studienergebnissen transparent und nachvollziehbar zu kommunizieren.
Ein Kommentar von Susanne Kuger
Die Corona-Pandemie verändert unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben und unseren Alltag massiv. Die Bildungs- und Sozialwissenschaft dokumentiert und erklärt diese Veränderungen. Neben einer (wiederholten) Beschreibung der aktuellen Situation wird dabei auch nach relevanten Mechanismen und Ursachen gesucht. Aufgrund der Pandemie müssen an vielen Stellen neue Herausforderungen bewältigt sowie neue Lösungen für alte Probleme gefunden werden. Gerade Entscheidungsträger in Politik und Praxis tragen an die Forschung viele Fragen heran. Das Wissen der Forschung darüber, wie unsere Gesellschaft funktioniert, wird benötigt, um die gesellschaftlichen Veränderungen in günstige Bahnen zu lenken und um Hilfe zielgruppengerecht gestalten zu können. Welche Familien sollen denn bei der Vergabe von Plätzen in der Notbetreuung in der Kita vorrangig berücksichtigt werden? Welche Hilfe benötigen Studierende, die ihren Lebensunterhalt zu einem bedeutenden Anteil aus Minijobs bestreiten? Abgeleitet aus dem Privileg der Wissenschaftsfreiheit sieht sich die Forschung gleichermaßen verpflichtet, ihren (kleinen) Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs und zur Lösung von Problemen zu leisten.
Forschung benötigt Zeit, Politik und Praxis müssen unmittelbar handeln
Nun funktioniert Forschung nicht so wie eine Pandemie und auch nicht wie politisches und praktisches Handeln in weltverändernden Zeiten. Das Generieren von Wissen und Wahrheit entsteht im Diskurs und in der Reflexion bisherigen Wissens an neuen Erkenntnissen. Dies benötigt Zeit, Austausch (auch Kontroversen und Debatten) zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Toleranz dafür, dass widersprüchliche Meinungen Fortschritt bedeuten. Die Politik und die Praxis jedoch müssen unmittelbar handeln, können sich nur mit einer begrenzten Anzahl von Meinungen beraten und müssen eindeutige Entscheidungen treffen. Sie benötigen daher schnell allgemeingültige, verständlich aufbereitete Forschungsergebnisse, mit denen sie ihr Handeln begründen können. Insbesondere deshalb ist es wichtig, dass Forschung mit den in diesem Zusammenhang an sie gestellten Herausforderungen richtig umgeht.
Wissenschaft kann durchaus mit hoher Geschwindigkeit (neue) Informationen liefern. So wurden in den ersten Wochen und Monaten nach Beginn der Pandemie auch am Deutschen Jugendinstitut (DJI) etliche Studien neu entwickelt, in ihrer ursprünglichen Ausrichtung verändert oder an die modifizierten Bedingungen angepasst. Um aus diesen vielen Einzelinformationen neues Wissen zu generieren, müssen die jeweiligen Ergebnisse aufeinander sowie auf die theoretischen Grundlagen und die Forschungslage bezogen werden. Eine besondere Problematik liegt dabei darin, dass die Bedeutung des neuen Wissens stark davon abhängt, wie gut fundamentale Prinzipien der Forschung eingehalten werden. Bedeutend können Forschungsergebnisse dann sein, wenn sie relevant, generalisier- und anwendbar sind. Generalisierbar sind sie aber vor allem dann, wenn sie nicht nur für eine kleine Gruppe oder eine spezielle Situation gültig sind, sondern allgemeingültig, replizierbar und auf viele Personen, Situationen und Konstellationen übertragbar. Dies steht zum Teil im Widerspruch mit der Notwendigkeit, Ergebnisse sehr schnell zu produzieren.
Das Reduzieren von Komplexität ist wichtig, darf aber nicht zu falschen Schlussfolgerungen führen
Um beispielsweise eine allgemeingültige Aussage über alle in Deutschland lebenden Personen treffen zu wollen, benötigt man Wissen über eine repräsentative Teilmenge dieser Personen. Auskünfte von einer solchen Gruppe sind allerdings nur mit besonderem Aufwand zu erhalten (also vor allem durch Vollerhebungen aller Institutionen, beispielsweise Jugendämter, oder einer zufälligen Auswahl aller Eltern in Deutschland). Im Gegensatz dazu können beispielsweise Online-Umfragen über ein Schneeballsystem in Netzwerken schnell einige Tausend Antworten hervorbringen. Diese kommen jedoch ausschließlich von Personen, die über solche Netzwerke erreichbar sind. Menschen ohne oder mit nur beschränktem Zugang zum Internet, Menschen, die wenig Zeit zur Beantwortung von Online-Umfragen haben, oder Menschen, die durch Beeinträchtigungen in der Nutzung bestimmter Formate eingeschränkt sind, werden damit nicht erreicht. Die Schlussfolgerungen, die aus diesen Ergebnissen gezogen werden können, sind dementsprechend begrenzt, und es ist die Aufgabe der Wissenschaft, die Limitationen ihrer Arbeit transparent und gleichwertig mit den relevanten Ergebnissen zu kommunizieren.
Schließlich liegt mit der Komplexitätsreduktion eine besondere Schwierigkeit vor. Während die Bildungs- und Sozialforschung auf der einen Seite manchmal scheinbare Trivialitäten als neue Befunde meldet, stehen auf der anderen Seite hinter vielen Studien komplexe Modelle und Methoden, die in der Kommunikation nicht mittransportiert werden können. Zuweilen müssen Aussagen aus Sicht der Forschenden schmerzhaft verkürzt werden, sodass sie aus ihrer Perspektive schon (fast) falsch erscheinen, damit Botschaften allgemeinverständlich werden und eindringlich genug wirken. Die Pandemie stellt die Bildungs- und Sozialforschung derzeit vor viele Lernaufgaben und Herausforderungen. Dazu gehört es durchaus, die eigenen Arbeitsweisen zu hinterfragen und neue zu entwickeln, um der Politik und Gesellschaft hilfreiche Antworten zu liefern.
Zugleich sollte die Forschung ihre Tugenden aber nicht aufgeben. Ihr Wert – nicht zuletzt auch in Zeiten einer Pandemie – beruht darauf, dass sie von Neutralität, Verlässlichkeit und Verbindlichkeit geprägt ist. Im Vordergrund sollte deshalb stehen, an den wissenschaftlichen Tugenden, strengen Qualitätsstandards und Arbeitsprinzipien festzuhalten, damit der Wert der Wissenschaft (auch langfristig) erhalten bleibt und Lösungsvorschläge für die Probleme unserer Zeit in Betracht gezogen werden. Gerade in diesen weltverändernden Zeiten darf das Vertrauen in die Wissenschaft nicht verspielt werden, auch wenn das zuweilen bedeutet, dass die Wissenschaft der Gesellschaft nicht alle eindeutigen Antworten auf drängende Fragen sofort liefern kann.

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2020 von DJI Impulse „Im Krisenmodus: Wie das Coronavirus den Alltag von Eltern und Kindern verändert“ (Download PDF).