Kinderschutz: Auftrag an alle
Ein wirksamer Kinderschutz muss früh ansetzen, um Gewalt und Vernachlässigung möglichst zu vermeiden und junge Menschen in ihren Entwicklungspotenzialen zu stärken. Warum dies trotz der gewachsenen Sensibilität eine große Herausforderung bleibt und eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung erfordert.
Von Susanne Witte
Gewalt gegen und Vernachlässigung von Kindern ist weiterhin ein großes gesellschaftliches Problem. In bevölkerungsrepräsentativen Befragungen berichten zwischen 31 und 35 Prozent der Erwachsenen, dass sie mindestens eine Form von körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt und/oder Vernachlässigung in ihrer Kindheit oder Jugend erlebt haben (Jarczok u.a. 2023, Witt u.a. 2018). Jüngere Altersgruppen geben weniger häufig Erfahrungen von Gewalt und Vernachlässigung an. Dennoch sind in etwa ein Viertel der jüngeren Befragten betroffen (Kasinger u.a. 2024, Witt u.a. 2017).
Körperliche und emotionale Gewalt sowie Vernachlässigung kommen am häufigsten innerhalb der Familie vor. Aber auch in anderen Kontexten, wie in Schulen oder Vereinen, erleben Kinder und Jugendliche Gewalt durch Erwachsene oder Gleichaltrige. Eine Sonderstellung nimmt sexuelle Gewalt ein: Hier sind, anders als bei anderen Formen, nicht Eltern und Geschwister am häufigsten die Täter:innen, sondern Bekannte, andere Verwandte und Gleichaltrige (Jarczok u.a. 2023).
Auch wenn Befragungen von Erwachsenen nur verzögert die Bedingungen des Aufwachsens widerspiegeln, so geben sie doch einen Einblick in das Ausmaß der Gewalt gegen junge Menschen. Eine Möglichkeit, stärker an die aktuelle Situation von Kindern und Jugendlichen anzuknüpfen, sind Studien mit Eltern (Calvano u.a. 2023, Liel u.a. 2019) und die Befragung von Schüler:innen (Hofherr 2017). Auch hier müssen jedoch Verzerrungseffekte – eine geringere Studienteilnahme bestimmter sozialer Gruppen an Studien und sozial erwünschtes Antworten – bei der Interpretation berücksichtigt werden. Um das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bundesweit repräsentativ durch die Befragung von Jugendlichen wiederholt zu erforschen, startete am Deutschen Jugendinstitut (DJI) zuletzt das „Zentrum für Forschung zu sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen“.
Überlastung der Eltern erhöht das Risiko für Gewalt und Vernachlässigung
Dass sich die Bedingungen des Aufwachsens schnell ändern können und damit auch das Risiko für Gewalt und Vernachlässigung in Familien, zeigte die Coronapandemie deutlich: Befragungen von Eltern verweisen auf eine Zunahme von Gewalterfahrungen der Kinder und Jugendlichen (Calvano u.a. 2023, Geprägs u.a. 2023). Bemerkenswert erscheint hierbei, dass es in einigen Familien zu einem Rückgang von Gewalt und Vernachlässigung kam, während in anderen Familien zumindest leichte Formen von beidem zunahmen (Calvano u.a. 2022). Empirische Studien liefern aber bisher nur wenig Hinweise, welche Faktoren zu einer entsprechenden Veränderung in Familien beitrugen. Bekannt ist hingegen, dass elterliche Belastungen und Überforderungen Gewalt und Vernachlässigung innerhalb von Familien begünstigten (Milner u.a. 2022, Mulder u.a. 2018).
Dies entspricht den Ergebnissen aus Studien zu Risiko- und Schutzfaktoren für Gewalt und Vernachlässigung vor der Coronapandemie: In großen Metaanalysen wurden Risikofaktoren im Bereich der elterlichen Überforderung durch herausfordernde Lebensumstände bestätigt, wie Armutslagen oder eigene Belastungen (etwa psychische Erkrankungen und soziale Isolation) (Younas/Gutman 2023, Milner u.a. 2022, Assink u.a. 2019, Mulder u.a. 2018). Darüber hinaus begünstigten Haltungen, die Gewalt als Erziehungsmittel befürworten, unzureichende Fähigkeiten zur Emotionsregulation, eine negative Haltung gegenüber dem Kind sowie mangelnde Erziehungsfähigkeiten körperliche und emotionale Gewalt (Younas/Gutman 2023; Milner u.a. 2022). Bei sexuellem Missbrauch stellt das Geschlecht einen bedeutsamen Risikofaktor dar: Hier sind Mädchen deutlich häufiger betroffen als Jungen (Assink u.a. 2019). Ein zentraler Schutzfaktor vor Gewalt und Vernachlässigung ist soziale Unterstützung (Younas/Gutman 2023).
Sind Kinder und Jugendliche von Gewalt und Vernachlässigung betroffen, so steigt das Risiko, dass sie entweder im gleichen Kontext erneut Gewalt und Vernachlässigung erleben (Lino u.a. 2025, Assink u.a. 2019) oder dass sie in einem anderen Kontext durch andere Personen Gewalt erfahren (Assink u.a. 2019). So sind Kinder und Jugendliche, die in ihrer Familie Gewalt erlebt haben, beispielsweise häufiger von Gewalt durch Gleichaltrige betroffen (Jarczok u.a. 2023). Dies ist auch dann der Fall, wenn Kinder und Jugendliche in Einrichtungen leben, in denen sie eigentlich geschützt werden sollen (Helfferich u.a. 2017). Noch im Erwachsenenalter kommt es bei Betroffenen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Gewalt in Partnerschaften (Zhu u.a. 2024).
Gewalt ist folgenreich – für Betroffene, aber auch für die Gesellschaft
Neben unmittelbaren körperlichen und psychischen Auswirkungen erhöht das Erleben von Gewalt und Vernachlässigung auch langfristig die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Vielzahl von körperlichen, psychischen und interpersonellen Problemen (Carr u.a. 2020). In einigen Studien konnte ein Zusammenhang zwischen Schwere und Dauer der erlebten Gewalt und Vernachlässigung und dem Ausmaß solcher Probleme belegt werden (Jarczok u.a. 2023, Carr u.a. 2020). Außerdem bestehen Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen: So können psychische Probleme Bildungsmisserfolg begünstigen und auf diese Weise dazu beitragen, dass von Gewalt und Vernachlässigung Betroffene später möglicherweise ein geringeres Einkommen haben (Carr u.a. 2020).
Auf individueller Ebene führen Gewalt und Vernachlässigung bei der Mehrzahl der Betroffenen zu negativen Folgen, die aber auch für die Gesellschaft als Ganzes Kosten haben (zum Beispiel höhere Ausgaben im Gesundheitswesen, geringere Steuereinnahmen durch mangelnde Erwerbsbeteiligung). Die gesamtgesellschaftlichen Kosten von Gewalt und Vernachlässigung an Kindern und Jugendlichen werden als hoch eingeschätzt (Habetha u.a. 2012).
Die neuen Gesetze und Bemühungen um Kinderschutz sind vielfältig
Vor dem Hintergrund der individuellen und gesamtgesellschaftlichen Folgen, aber auch im Hinblick auf den Rechtsanspruch von Kindern, ohne Gewalt aufzuwachsen (seit 1992 Art. 19 UN-Kinderrechtskonvention, seit 2001 § 1631 BGB), ist es gesellschaftlich unerlässlich, Kinder und Jugendliche vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in Europa ein zunehmendes Verständnis davon, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen eine gesellschaftliche und vor allem eine wichtige staatliche Aufgabe ist.
In den vergangenen Jahrzehnten haben dann die staatlichen und fachlichen Bemühungen rund um Kinderschutz in Deutschland deutlich zugenommen, wie sich beispielhaft an einer Vielzahl neuer Gesetze zum Kinderschutz, der Entwicklung von Schutzkonzepten in Einrichtungen, der Etablierung von Kinderschutzgruppen und -konzepten im Gesundheitswesen und der zunehmenden Zahl an Fachkräften in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Jugendämter (Mühlmann 2020) zeigt. Auch bei der Anzahl der Forschungsprojekte und Fachpublikationen im Bereich Kinderschutz ist ein Anstieg zu verzeichnen.
Das Verständnis von Kinderschutz hat sich zunehmend dahingehend erweitert, dass das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen – in Familien und Einrichtungen – so gestaltet sein soll, dass es erst gar nicht zu Gewalt und Vernachlässigung kommt (Kindler 2013). Diese präventiven Maßnahmen und Angebote haben darüber hinaus zum Ziel, Kinder in ihren Entwicklungspotenzialen und Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe zu stärken. Ein Teil dieser Angebote, wie die Frühen Hilfen, richtet sich an Familien. Die Frühen Hilfen sollen durch die möglichst frühe Unterstützung von (werdenden) Familien bereits im Vorfeld Belastungen abfangen und Eltern dabei unterstützen, dass Kinder unter guten bis optimalen Bedingungen aufwachsen.
Schutzkonzepte sollen Achtsamkeit gegenüber Grenzverletzungen schaffen
Ein anderer Teil der präventiven Angebote und Maßnahmen dient der Vorbeugung von Gewalt in Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche betreut werden, wie beispielsweise Schulen und Vereinen. Hintergrund sind die im Jahr 2010 einer breiten Öffentlichkeit bekannt gewordenen Fälle von schwerem und wiederholtem sexuellem Missbrauch in Internaten, auf die von Fachkräften nicht angemessen reagiert wurde, sodass Kinder und Jugendliche über lange Zeit keine Hilfe erhielten. In der Folge wurde die Einführung von Schutzkonzepten in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung, der stationären Kinder- und Jugendhilfe und Schulen eine wichtige Maßnahme, um Kinder und Jugendliche vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Ziel ist es, durch ein möglichst offenes und respektvolles Klima, das achtsam gegenüber möglichen Grenzverletzungen ist, Kinder und Jugendliche zu schützen.
Das Jugendamt ist zentrale Anlaufstelle im Falle eines Verdachts
Ein wesentlicher Bestandteil präventiver Maßnahmen für Familien und in Institutionen sind das Erkennen möglicher Anzeichen von Gewalt und Vernachlässigung und die angemessene Reaktion auf einen Verdacht. So soll verhindert werden, dass Kinder und Jugendliche wiederholt von Gewalt und Vernachlässigung betroffen sind. Für viele Berufsgruppen wurden mittlerweile Fortbildungen, Konzepte und Leitlinien entwickelt, um angemessen auf einen Verdacht reagieren zu können. Gesetzliche Änderungen sollen dazu beitragen, Unsicherheiten und Herausforderungen bei der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt zu verringern.
Das Jugendamt geht gemäß gesetzlichem Auftrag einem Verdacht weiter nach, klärt die Notwendigkeit von Schutz- und Hilfsmaßnahmen ab und leitet diese ein (Witte u.a. 2019). Im Vergleich zu anderen Ländern ist besonders der Beratungsanspruch durch eine insoweit erfahrene Fachkraft bei einem Verdacht auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung hervorzuheben: Die Beratung ermöglicht eine fachlich fundierte Abklärung und Unterstützung von Fachkräften im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen im Hinblick auf das weitere Vorgehen sowie die Entscheidung, ob eine Mitteilung an das Jugendamt notwendig ist (Witte u.a. 2019).
Das Jugendamt übernimmt eine Kernaufgabe im Kinderschutz, nämlich abzuklären, inwieweit eine Gefährdung des Kindeswohls (§ 1666 BGB) vorliegt oder droht. Ziel ist es, Kinder und Jugendliche vor Gewalt und Vernachlässigung zu schützen, indem durch spezifische Unterstützungsangebote für belastete Familien eine Gefährdung des Kindeswohls vermieden oder möglichst rasch beendet wird (Kindler 2013). Weiterführende Maßnahmen sollen die negativen Auswirkungen bereits erlebter Gewalt und Vernachlässigung abmildern (Kindler 2013).
Bei knapp einem Drittel der Verfahren werden Kinder als gefährdet eingeschätzt
Seit Beginn der statistischen Erhebung werden jedes Jahr mehr Verfahren zur Abklärung einer Kindeswohlgefährdung verzeichnet (Statistisches Bundesamt 2024), wobei die Zunahme nicht vorschnell als eine Verschlechterung der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen interpretiert werden sollte. Sie ist möglicherweise viel mehr ein Indikator der gewachsenen Sensibilität und damit einer verbesserten Reaktion auf Verdachtsfälle. Im Jahr 2023 wurden insgesamt 211.695 Verfahren in Jugendämtern durchgeführt (Statistisches Bundesamt 2024). Der Anteil, bei dem eine akute oder latente Gefährdung des Kindeswohls festgestellt wurde, liegt über die Jahre relativ gleichbleibend bei einem knappen Drittel der Verfahren (Statistisches Bundesamt 2024). Bei einem weiteren Drittel wurde ein Unterstützungsbedarf, jedoch keine Kindeswohlgefährdung festgestellt (Statistisches Bundesamt 2024).
Zentrale Bestandteile der Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung sind in Deutschland der möglichst frühzeitige Einbezug der Eltern und das Hinwirken auf die freiwillige Annahme von Hilfen sowie die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen. Systematische Auswertungen von Fallakten zeigen aber, dass es vornehmlich gelingt, die Mutter, nicht aber den Vater in die Abklärung einzubeziehen (Witte/Miehlbradt 2022). Auch die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wird – trotz entsprechender gesetzlicher Vorgaben – in einer Vielzahl der Gefährdungseinschätzungen nicht oder nur unzureichend umgesetzt (Witte u.a. 2021).
Die Hürde für Eingriffe in die elterliche Sorge ist in Deutschland hoch
Der Umgang mit sexueller Gewalt innerhalb von Familien ist für Jugendämter schwierig (Meysen u.a. 2023). Fachkräfte in Jugendämtern und im Kontakt mit Kindern stehen dabei immer wieder auch aufgrund von sich verändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten vor Herausforderungen. Dies sind beispielsweise der Umgang mit extremen Weltanschauungen in Familien (Meysen u.a. 2023) und mit digitaler Gewalt.
Ist die Gefahr für das Kindeswohl so dringend so müssen vorläufige Schutzmaßnahmen eingeleitet werden (§ 42 SGB VIII). So wurden beispielsweise im Jahr 2023 26.916 Inobhutnahmen aufgrund einer dringenden Kindeswohlgefährdung durch Jugendämter durchgeführt (Statistisches Bundesamt 2024). Während Jugendämter im Rahmen einer Inobhutnahme kurzfristig in das Sorgerecht der Eltern eingreifen können, bedarf es für die Einschränkung und den Entzug der elterlichen Sorge auf der Grundlage einer Kindeswohlgefährdung einer Entscheidung des Familiengerichts (Witte u.a. 2019).
Die Schwelle für solche Eingriffe in die elterliche Sorge ist im Vergleich zu anderen Ländern, wie beispielsweise England, hoch: Erst wenn Eltern nicht bereit oder in Lage, Unterstützung zur Verbesserung der Situation anzunehmen, und mit hoher Wahrscheinlichkeit das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet ist (§ 1666 BGB), ist dies möglich. Damit umfasst die Definition von Kindeswohlgefährdung einen deutlich kleineren Bereich an Phänomenen elterlichen Tuns oder Unterlassens als die Definitionen von Gewalt und Vernachlässigung bei Befragungen von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen.
Eine vergleichsweise hohe Hürde für staatliche Eingriffe ist hauptsächlich dahingehend zu verstehen, dass solch drastische Schritte – auch wenn Eltern ihre Kinder gefährden – dennoch für Kinder und Jugendliche negative Konsequenzen haben (Zimmermann/Kindler 2023): Sie gehen häufig mit einem Wechsel der Lebens- und Wohnsituation des Kindes einher und mit dem Aufwachsen in einem Umfeld, welches unter Umständen als belastend erlebt wird oder ein erhöhtes Risiko für erneutes Erleben von Gewalt birgt (Helfferich u.a. 2017).
Trotz professioneller Hilfe bleiben die Belastungen oft bestehen
Fachkräfte können bei der Einleitung von Hilfs- und Schutzmaßnahmen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Leistungen zurückgreifen. Diese reichen von zugehenden Angeboten, wie sozialpädagogischen Familienhilfen, bis zu stationären Einrichtungen mit spezialisierten Angeboten (Witte u.a. 2019). Die Verfügbarkeit bestimmter Angebote ist aber nach Einschätzung vieler Fachkräfte aus den Jugendämtern nicht immer gegeben, was dazu führt, dass Fachkräfte lange nach passenden Angeboten suchen und Kinder sowie Jugendliche erst verzögert bedarfsgerechte Hilfen erhalten (Witte u.a, 2025, im Erscheinen).
In welcher Art und Weise die Hilfs- und Schutzmaßnahmen, welche im Rahmen des Kinderschutzes eingeleitet werden, zu einer Verbesserung der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen beitragen, ist in Deutschland bisher nur wenig erforscht. Die aktuelle Studienlage verweist auf ein deutlich erhöhtes Risiko für eine erneute Gefährdung von Kindern und Jugendlichen und wiederholte Wechsel von Wohn- und Lebenssituation. Denn ein erheblicher Anteil von Kindern und Jugendlichen hat in verschiedenen Lebensbereichen deutliche Belastungen, die trotz Hilfsmaßnahmen bestehen bleiben (Witte u.a. 2025, im Erscheinen). Gerade der Übergang in das Erwachsenenalter stellt für junge Erwachsene, die in stationären Einrichtungen aufwuchsen, eine Herausforderung dar (Riedl 2021).
Studien mit standardisierten Interventionen, wie zum Beispiel bindungsorientierte Trainingsprogramme für Pflegeeltern oder Präventionsangebote für Väter, zeigen jedoch vielversprechende Befunde: Sie reduzieren Risikofaktoren und verbessern die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen (Liel u.a. 2021, Zimmermann u.a. 2021).
Gemeinsam Erreichtes aufrechterhalten und weiterentwickeln
Insgesamt kann Deutschland bei der Einrichtung von Hilfsangeboten auf eine Vielzahl von Angeboten und einen Sozialstaat, der diese finanziert, zurückgreifen. Eltern haben, bereits bevor die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung überschritten ist, ein Recht auf Unterstützung (Witte u.a. 2019). Viele Angebote zielen darauf ab, Familien so zu unterstützen, dass keine Kindeswohlgefährdung entsteht und Kinder sowie Jugendliche in ihrer Entwicklung gefördert werden.
Gerade die in den vergangenen Jahrzehnten verstärkten gesetzgeberischen und fachlichen Bemühungen haben zu Veränderungen der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Gewalt und Vernachlässigung beigetragen. In vielen Berufsgruppen, gerade in pädagogischen Arbeitsfeldern und im Gesundheitswesen, wurde ein weitreichendes Verständnis von fachlich angemessenem Umgang mit einem Verdacht und der Betroffenheit von Kindern und Jugendlichen von Gewalt und Vernachlässigung geschaffen. Ein Teil dieser Maßnahmen wurde wissenschaftlich begleitet und/oder evaluiert. Dennoch steht Kinderschutzhandeln in Deutschland vor neuen Herausforderungen, wie etwa Gewalt im digitalen Raum und dem Umgang mit Fachkräftemangel in Jugendämtern.
Für die Zukunft ist es wichtig, die in den vergangenen Jahren ausgebauten Strukturen und Wissensbestände im Feld weiter aufrechtzuerhalten und zu aktualisieren. In Zusammenarbeit zwischen Politik, Praxis und Forschung ist es notwendig, Strategien zu entwickeln, um mit neuen Herausforderungen umzugehen. Denn ein gelingendes und gewaltfreies Aufwachsen von Kindern, insbesondere aus Familien in belastenden Lebenslagen, kann nur durch gesamtgesellschaftliche Anstrengungen in gemeinsamer Verantwortung sichergestellt werden.
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Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2025 von DJI Impulse „Kinder und Jugendliche wirksam schützen - Wie sich Gewalt und Vernachlässigung eindämmen lassen“ (Download PDF).