Jugendliche gegen sexualisierte Gewalt wappnen

Vielen jungen Menschen fällt es schwer, bei sexualisierten Übergriffen in der Peergruppe hilfreich einzugreifen. Das zeigen bislang unveröffent­lichte Forschungsergebnisse eines Verbundprojekts des DJI. Doch kompetentes Handeln lässt sich üben.

Von Rebecca Gulowski

Im Jugendalter gehen sexualisierte Grenzverletzungen, Übergriffe und Gewalt häufig von ungefähr Gleichaltrigen in sozialen Gruppen aus (Maschke/Stecher 2018) – sei es auf Partys, in der Schule oder Wohngruppen, in Paarbeziehungen oder zunehmend auch im digitalen Raum, zum Beispiel durch die nicht einvernehmliche Weitergabe von Fotos und Videos. Gruppendynamiken spielen dabei eine zentrale Rolle: Während sie einerseits eine schützende Wirkung haben und ein Eingreifen fördern können, können sie andererseits auch dazu beitragen, dass Übergriffe verharmlost, verstärkt oder ignoriert werden.

International knüpften hier bereits Forschende an und erarbeiteten einen zentralen Faktor zur Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt, insbesondere im Jugendalter: das Bystander-Verhalten (Banyard 2011). Dieses beschreibt das Verhalten von Dritten, die entweder eine sich anbahnende Gefahrensituation beobachten beziehungsweise miterleben. Im deutschsprachigen Raum wurde das Thema bislang aber kaum aufgegriffen und theoretisch weiterentwickelt.

Anwesende fühlen sich häufig mitverantwortlich – und zugleich verunsichert

Das Verbundprojekt „Checken, Abklären und Entscheiden, Tun“ (CHAT), an dem das Deutsche Jugendinstitut (DJI) mitwirkt, wollte diese Forschungslücke schließen und untersuchte, wie Prävention sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen im sozialen Umfeld gestärkt werden kann. Im Fokus stand die Rolle von Bystandern. Diese sind sich oft der Risiken von Übergriffen bewusst und sehen sich in kritischen Situationen auch mitverantwortlich. Gleichzeitig besteht eine große Unsicherheit darüber, wann und wie sie eingreifen können. Dabei hat die Dynamik unter den Beteiligten in den jeweiligen sozialen Kontexten eine wesentliche Bedeutung. Diese muss entsprechend in der Forschung und Prävention stärker berücksichtigt werden, auch mit Blick auf besonders vulnerable Gruppen wie etwa junge Menschen mit Beeinträchtigungen (Kavemann u.a. 2016). 

Auf wissenschaftlicher Ebene verfolgte das Projekt daher das Ziel, ein Präventionsparadigma der Kompetenzorientierung zu entwickeln, das für das Jugendalter auch in unterschiedlichen Kontexten und vor dem Hintergrund besonderer Vulnerabilitäten geeignet ist. Die Forschenden fokussierten auf vier Arbeitsfelder, die Eingliederungshilfe, (stationäre) Jugendhilfe, Jugendverbandsarbeit und Schule sowie auf besonders vulnerable (beispielsweise queere Jugendliche, Jugendliche mit kognitiver Beeinträchtigung oder Behinderung) und bei diesem Thema schwer erreichbare Zielgruppen (cis-männliche Jugendliche). 

Damit ging der Verbund über eine defizitorientierte Perspektive hinaus, die nur auf das Negative fokussiert, indem er die Kompetenzen der Jugendlichen als handlungsfähige Akteur:innen einbindet, die Verantwortung für den Schutz ihrer Peers übernehmen können. Ein zentrales und durchaus innovatives Merkmal des Ansatzes bestand darin, das Geschehen zwischen (potenziell) Übergriffigen und Betroffenen nicht isoliert zu betrachten, sondern es – unter Berücksichtigung der Rolle Dritter als Bystander – auch in den Kontext jugendlicher Interaktionen und Gruppendynamiken einzubetten. Das heißt, sexualisierte Peergewalt als ein soziales Geschehen zu begreifen, in dem auch sexuelle Interaktionsstile und Geschlechtervorstellungen ausgehandelt und gruppenspezifisch normiert werden (Helfferich/Doll/Kavemann 2019). 

Übergriffe unter Jugendlichen werden teils verharmlost oder sogar ignoriert

Erhoben wurden dafür qualitative Daten durch Interviews und Gruppendiskussionen mit Jugendlichen und Interviews mit pädagogischen Fachkräften aus den vier Arbeitsfeldern. Hinzu kam die Reanalyse von Sekundärdaten aus Vorgängerprojekten. Insgesamt konnten so vier zentrale Ergebnisbereiche für die Erhebungen bei den Jugendlichen herausgearbeitet werden: 1) subjektive Schutzlogiken, 2) interpersonale Hürden effektiven Eingreifens, 3) Relativierungsprozesse in Gruppeninteraktionen und 4) kollektive Schutzmechanismen und -mythen. 

Zu 1): Bei der Rekonstruktion subjektiver Schutzlogiken von Mädchen in der stationären Jugendhilfe im Kontext sexualisierter Peergewalt konnten drei Muster identifiziert werden: eine fehlende Schutzlogik (sexualisierte Peergewalt wird nicht problematisiert), eine dualistische Schutzlogik (Prinzip der Eigenverantwortung, das heißt, jeder ist für den eigenen Schutz verantwortlich) sowie eine relationale Schutzlogik (Prinzip der wechselseitigen Zuständigkeit füreinander).

Bystander riskieren bei Interventionen unter anderem ihren sozialen Status und ihre Zugehörigkeit innerhalb der Peerbeziehungen.

Diese Logiken zeigen, dass die häufig bei sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen anwesenden Peers auch, aber nicht immer als schützende Ressource wahrgenommen und einbezogen werden beziehungsweise sich selber als solche verstehen. Vielmehr wird die Frage, von wem Schutz erwartet werden kann, sehr unterschiedlich beantwortet, sofern die Erfahrungen überhaupt als sexualisierte Gewalt interpretiert werden.

Zudem wurden 2) auch fünf Hürden für ein effektives Bystander- Verhalten zwischen den Jugendlichen identifiziert; denn sie riskieren als Bystander bei Interventionen unter anderem ihren sozialen Status und ihre Zugehörigkeit innerhalb der Peerbeziehungen. Auch um dieses Risiko zu umgehen, kann es zur Normalisierung („Männer sind halt so“) oder zur Verharmlosung („Das war jetzt auch nicht so krass“) der sexualisierten Peergewalt kommen, aber ebenso zur Billigung („Ich war kurz peinlich berührt, dann war’s mir schnell egal, hab mich angepasst“) oder Distanzierung („Müssen die wissen, ich hab nix mitbekommen“). Es zeigten sich auch Formen der Selbstgefährdung, wenn sich Bystander stellvertretend für die Betroffenen den Übergriffen aussetzten („Ich hab versucht, dass ich das abbekomme, ich beschütze meine Freundin“). 

Ein weiterer zentraler Befund betrifft 3) die Analyse von Relativierungs­prozessen in Gruppen­interaktionen vulnerabler und schwer erreichbarer Gruppen, die zeigt, dass Jugendliche mit widersprüchlichen Normen aus ihren Peerkontexten konfrontiert werden. Relativierungsprozesse dienen dann zugleich als Bewältigungsstrategie und potenzielle Barriere für präventives Handeln: Dies zeigt sich beispielsweise, wenn unter Peers gewaltvolle Motive und Tatpersonen­strategien nicht als solche gedeutet werden oder wenn Freundschaft per se als Garantie für Sicherheit angesehen wird, wenn auf Mythen sexualisierter Gewalt zurückgegriffen oder wenn männliche Betroffenheit relativiert wird und schützende Handlungs­konzepte jenseits geschlechterstereotyper Vorstellungen fehlen. Die Relativierungs­prozesse machen deutlich, dass Jugendliche grundsätzlich bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Dabei stoßen sie jedoch auf Grenzen, die aus spezifischen Gruppen­dynamiken, sozialen Abhängigkeiten und Unsicherheiten oder Erfahrungen mit sozialer Isolation und Ausgrenzung oder Diskriminierung resultieren. Diese Prozesse stellen Handlungs­barrieren für Bystander dar und adressieren noch einmal mehr die Erwachsenen hinsichtlich der Etablierung und Gestaltung sicherer Räume. 

Soziale Zugehörigkeit fördert Resilienz, birgt aber auch die Gefahr von Schutzmythen

Bei queeren Jugendlichen konnten 4) kollektive Schutzmechanismen und Schutzmythen herausgearbeitet werden, die sowohl eine besondere Vulnerabilität als auch eine ausgeprägte Resilienz im Umgang mit sexualisierter Peergewalt aufzeigen. In Abgrenzung zu scheinbar alltäglichen queerfeindlichen Erfahrungen zeigen die Jugendlichen auch unabhängig von konkreten Erfahrungen sexualisierter Gewalt ein starkes Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit. Aufeinander zu achten sowie die Reflexion und Kommunikation über Grenzen und patriarchale Strukturen gelten ihnen als wichtige Aufgaben und Prinzipien. Diese soziale Verbundenheit und ihr kritisches Reflexionsvermögen fördern die Resilienz gegenüber sexualisierter Peergewalt. 

Gleichzeitig werden teils Schutzannahmen im Zusammenhang mit der queeren Community entwickelt, die sich in der Konsequenz als Schutzmythen erweisen, wie zum Beispiel „In der Gruppe bin ich sicher“, „Erkennbar lesbische Frauen haben keine Übergriffe von Männern zu befürchten“ oder „In queeren Beziehungen gibt es keine sexualisierte Gewalt“. Die ausgeprägte kollektive Orientierung queerer Peers ist eine wichtige Schutzressource bei sexualisierter Peergewalt, sie entbindet Erwachsene aber nicht von ihrer Verantwortung. 

Präventionsarbeit darf sich nicht auf reine Wissensvermittlung beschränken

Auf Basis dieser empirischen Ergebnisse wurde ein praxisnaher Präventions­workshop entwickelt, erprobt und evaluiert, der sich an jugendlichen Lebens­realitäten orientiert und gezielt die Handlungs­kompetenzen der Jugendlichen im Umgang mit sexualisierter Peergewalt stärken soll. Die Analysen zeigen, dass Präventions­arbeit sich nicht auf Wissens­erweiterung beschränken darf, sondern auch die Handlungs­fähigkeit unter sozialen Dynamiken bei Peers berücksichtigen muss. Erwachsene und pädagogische Fachkräfte spielen eine zentrale Rolle, indem sie sichere Strukturen schaffen und alternative Handlungs­modelle aufzeigen.

Unsicherheit entsteht, wenn Werte und Normen in konkreten Situationen infrage stehen, was Handlungs­einschränkungen begünstigt. Jugendliche müssen daher befähigt werden, solchen Norm­verstößen entgegenzutreten, ohne ihre Gruppen­identität oder Sicherheit zu gefährden. Das entwickelte Präventions­konzept kombiniert ein gemeinsames Grundmodell mit arbeitsfeld­spezifischen Anpassungen, um gruppen­spezifische Dynamiken und Vulnerabilitäten angemessen zu adressieren. Um die Jugendlichen handlungs(!)sicherer zu machen, wurde zudem ein besonderer Schwerpunkt auf theaterpädagogische Einheiten gelegt. Diese ermöglichen es, sich mit den Herausforderungen, Dilemmata und Handlungsmöglichkeiten für Bystander interaktiv auseinanderzusetzen und Vorstellungen und Überzeugungen in einem konsequenz­reduzierten Raum mit Gleichaltrigen zu reflektieren und zu kritisieren. 

Zudem wurde ein Fortbildungs­curriculum für pädagogische Fachkräfte konzipiert. Auch hier spielen theater­pädagogische Methoden eine wesentliche Rolle, um praxisnah Handlungs­optionen zu erarbeiten und eine Sensibilisierung zu fördern. Die Präventions­workshops und Fortbildungen wurden in inhaltlicher und methodischer Aufbereitung positiv evaluiert. Die Jugendlichen schätzten in einem Prä-Post-Vergleich ihr Wissen über Handlungs­möglichkeiten bei sexualisierter Peergewalt nach den Workshops deutlich höher ein (Gulowski/Holz 2024). Auch die Handlungs­sicherheit sowie das selbst eingeschätzte Wissen der Teilnehmenden der Fortbildungen hat sich im Prä-Post-Vergleich in allen abgefragten Aspekten, insbesondere dem Wissen zu Bystandern, signifikant erhöht. 

Banyard, Victoria. L. (2011): Who will help prevent sexual violence: Creating an ecological model of bystander intervention. Psychology of Violence, Band 1 (3), S. 216–229

Gulowski, Rebecca / Holz, Magdalena (2024): Jugendliche gegen sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen stark machen. Erprobung und Evaluierung des „CHAT“-Präventionsworkshops. In: Forum Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), H. 1, S. 99–102

Helfferich, Cornelia / Doll, Daniel / Kavemann, Barbara (2019): Prävention sexueller Übergriffe auf Partys: Interventionen Dritter aus der Sicht Jugendlicher. In: Kindesmisshandlung und Vernachlässigung, 1/2019, S. 26–44

Kavemann, Barbara u.a. (2016): Sexualpädagogik mit Mädchen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben? Konzept für einen zweitägigen Workshop mit jugendlichen Mädchen in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe. Freiburg/Berlin/München

Maschke, Sabine / Stecher, Ludwig (2018): Sexuelle Gewalt: Erfahrungen Jugendlicher heute. Weinheim

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2025 von DJI Impulse „Kinder und Jugendliche wirksam schützen - Wie sich Gewalt und Vernachlässigung eindämmen lassen“ (Download PDF).

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