„Es fällt ihnen mitunter schwer, grenzverletzendes Verhalten zu erkennen und Beziehungen zu beenden“

Warum es wichtig ist, Mädchen und junge Frauen nicht nur vor (erneuter) Gewalt in der stationären Kinder- und Jugendhilfe zu schützen, sondern auch ihre Beziehungskompetenzen zu stärken – ein Gespräch mit DJI-Wissenschaftlerin Dr. Susanne Witte und Prof. Dr. Sabina Schutter von SOS-Kinderdorf.

DJI Redaktion: Frau Professor Schutter, das Forschungsprojekt am Deutschen Jugendinstitut entstand aus Ihrer Kampagne #Mädchenperspektiven, mit der Sie auf die besonderen Bedarfe und Perspektive von Mädchen hinweisen und das Empowerment, vor allem von benachteiligten Mädchen, in den Mittelpunkt stellen. Was war die Idee dahinter?


Prof. Dr. Sabina Schutter: In unseren 39 Kinderdörfern wachsen Jungen und Mädchen auf, die nicht bei ihren leiblichen Eltern bleiben können. Für mich ist eine wichtige Prämisse: Ein Aufwachsen in stationären Erziehungshilfen darf kein Nachteil für das Erwachsenenleben sein. Gelingende Beziehungen gehören zu einem glücklichen Leben dazu. Daher müssen wir gerade Mädchen in den Erziehungshilfen gezielt stärken und unterstützen, damit sie dazu die Kompetenz entwickeln; damit sie positive, gesunde Partnerschaftskonzepte aufbauen und toxische Beziehungsmuster erkennen können. Frauen sind häufiger von schwerer Partnerschaftsgewalt betroffen – daher ist es wichtig, Mädchen früh zu sensibilisieren und stark zu machen. Das gilt insbesondere für Mädchen, denen vielleicht keine guten Beziehungen vorgelebt wurden, die selbst Gewalt erlebt haben oder Partnerschafsgewalt miterleben mussten.  Die strukturellen Benachteiligungen von Mädchen und Frauen sind vielfältig – und werden politisch und gesellschaftlich oftmals achselzuckend hingenommen, wenn sie denn überhaupt auffallen. Mädchen sind Bildungsgewinnerinnen - aber sind sie auch die Gewinnerinnen im Erwachsenenleben?  Für diesen Missstand wollen wir Awareness schaffen.

Frau Dr. Witte, welche Gründe gibt es für das erhöhte Risiko von Mädchen und jungen Frauen in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, von Gewalt und Grenzüberschreitungen in intimen Beziehungen betroffen zu sein?

Dr. Susanne Witte: Man kann drei Hauptfaktoren festhalten, die den Zusammenhang am besten erklären können: Erstens haben Mädchen und junge Frauen in stationären Erziehungshilfen meist negative Erfahrungen in ihrer Herkunftsfamilie gemacht. Dazu gehört in vielen Fällen auch, dass sie selbst durch ihre Eltern Gewalt erfahren haben oder dass sie Gewalt zwischen ihren Eltern miterleben mussten. Dadurch fehlen Erfahrungen mit positiven und durch Respekt geprägten Beziehungen. In der Folge fällt es ihnen mitunter schwerer, grenzverletzendes Verhalten zu erkennen und Beziehungen zu beenden. Ein zweiter Punkt ist, dass die Unterbringung von Mädchen und jungen Frauen zwar ihrem Schutz dient, möglicherweise aber auch dazu führt, dass unterstützende Kontakte zu Familie sowie Freundinnen und Freunde teilweise wegbrechen – und damit auch potenzielle Anlaufstellen, an die sich die Mädchen und jungen Frauen bei erlebten Grenzverletzungen und Gewalt wenden würden. In den Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe gelingt es den Mädchen und jungen Frauen zwar meist, neue Freundinnen und Freunde zu gewinnen. Diese haben aber in ihren Herkunftsfamilien oft ähnliches erlebt und stellen häufig grenzverletzende Beziehungsdynamiken nicht in Frage.

Mädchen und junge Frauen in der stationären Erziehungshilfe können insgesamt weniger auf soziale Ressourcen und Wissen zurückgreifen, die sie bei der Gestaltung von Liebesbeziehungen unterstützen.

Fachkräfte in den Einrichtungen tendieren dazu, Themen rund um Sexualität und Partnerschaft eher nicht anzusprechen. Mädchen und junge Frauen können somit insgesamt weniger auf soziale Ressourcen und Wissen zurückgreifen, die sie bei der Gestaltung von Liebesbeziehungen unterstützen. Ein höheres Risiko Grenzverletzungen zu erleben ergibt sich auch dadurch, dass für Mädchen und junge Frauen in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfe Partnerschaften einen besonders hohen Stellenwert einnehmen, eben gerade weil die Beziehung zu den eigenen Eltern belastet ist und eine Liebesbeziehung ein Stück weit die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich akzeptierten Form der Familie darstellt. Weil sie negative Erfahrungen in ihren Familien gemacht haben, schätzen sie aber gleichzeitig ihre Chancen auf eine gute Partnerschaft als gering ein. Dies kann dazu führen, dass grenzverletzende Verhaltensweisen des Partners oder der Partnerin eher akzeptiert werden.

Frau Prof. Schutter, welche Problematiken sind Ihnen aus der Praxis bei SOS-Kinderdorf und der stationären Kinder- und Jugendhilfe im Hinblick auf Mädchen und junge Frauen bekannt?

Prof. Dr. Sabina Schutter:  Ich reise viel in unsere Einrichtungen deutschlandweit, der Austausch mit den Fachkräften vor Ort aber auch mit den Betreuten liegt mir sehr am Herzen. Was mir immer wieder begegnet ist die Problematik, dass Mädchen aus der stationären Erziehungshilfe und mit entsprechenden Vorgeschichten, ungesunde Kompromisse in Sachen Beziehung eingehen oder sich generell auf Partnerschaften einlassen, die nicht förderlich sind. Woher kommt das? Der Wunsch nach einer Beziehung ist bei diesen Mädchen und jungen Frauen logischerweise besonders ausgeprägt, weil ja weniger sonstige Angebote an Bindung und Beziehung vorhanden sind. Es fehlt und fehlte diesen jungen Frauen oft an stabiler langfristiger Bindung. Sicherlich kennen wir alle Situationen, in der wir auf einen Anruf oder eine SMS vergeblich gewartet haben, das gehört dazu. Die Frage ist, wie gehen Mädchen langfristig damit um, abhängig zu sein, wie erkennen sie dies, wie lernen sie Grenzen zu setzen? Das fällt jungen Frauen in den Erziehungshilfen oft schwer – und da müssen wir ansetzen.

Der Wunsch nach einer Beziehung ist bei diesen Mädchen und jungen Frauen besonders ausgeprägt, weil weniger sonstige Angebote an Bindung und Beziehung vorhanden sind.

Frau Witte, was kann insbesondere junge Frauen hemmen, ihre Wünsche in Bezug auf Partnerschaft und Sexualität zu äußern und ihre Grenzen durchzusetzen?

Witte: In Beziehungen haben Mädchen und junge Frauen meist mehr Angst den Partner zu verlieren als Jungen und junge Männer. Sie messen auch Liebesbeziehungen an sich eine größere Bedeutung bei. Das begünstigt Abhängigkeiten beziehungsweise, dass die Liebesbeziehung weniger partnerschaftlich gestaltet wird. Gleichzeitig gibt es nach wie vor geschlechtsstereotype Vorstellungen, wie Beziehungen gestaltet und Sexualität ausgelebt werden sollten. Diese lassen Mädchen und jungen Frauen wenig Raum, Grenzen zu setzen und anzusprechen, wenn sie etwas stört oder sie beispielsweise bestimmte sexuelle Handlungen nicht mögen. Dabei ist oft die Angst groß, den Partner zu verletzen und ihn dadurch zu verlieren.


Ein Risiko für sexuelle Gewalt besteht auch in sozialen Medien. Wie können Mädchen und Frauen im digitalen Raum besser geschützt werden?

Witte: Ja, tatsächlich besteht gerade für Mädchen und junge Frauen ein hohes Risiko, dass ihr – meist ehemaliger – Partner intime Fotos von ihnen teilt oder ihnen damit droht. Aber auch stark kontrollierendes Verhalten, Stalking oder das Empfangen von intimen Fotos kann zur Belastung werden. Neben diesen Gefahren sind soziale Medien außerdem ein wichtiger Teil der Lebenswelt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und bieten auch positive Aspekte wie die Anbahnung von Gesprächen über Wünsche an Beziehungen. Auch ist es beispielsweise für LGBTQ+ Jugendliche im Coming-Out-Prozess eine wichtige Informationsquelle. Ein Verbot sozialer Medien ist deswegen nicht sinnvoll. Vielmehr würde dies dazu führen, dass Mädchen und junge Frauen sich im Falle von erlebter Gewalt in sozialen Medien Fachkräften nicht anvertrauen können, weil sie alleine schon negative Konsequenzen für den Regelbruch fürchten müssten. In diesem Sinne ist es wichtig, Mädchen und junge Frauen im Umgang mit sozialen Medien grundlegende Kompetenzen zu vermitteln, aber auch die Tür offen zu halten, so dass sie sich bei Problemen an die Fachkräfte wenden können.
 

Wie sollten Fachkräfte reagieren, wenn sie Hinweise auf grenzverletzende oder gewaltbelastete Beziehungen bei Mädchen in ihren Einrichtungen wahrnehmen?

Witte: Das wichtigste ist erst einmal, dass Fachkräfte überhaupt erkennen, dass es in einer Beziehung zu Grenzverletzungen und Gewalt kommt. Dafür brauchen sie ein offenes Ohr für alle Jugendlichen in der Einrichtung, die sich häufig eher Gleichaltrigen anvertrauen. Haben Fachkräfte den Verdacht, dass es einem Mädchen oder einer jungen Frau in einer Beziehung nicht gut geht, sollten sie einen wertschätzenden Kontakt zu ihr aufrechterhalten. Denn wenn sie das Gefühl hat, dass Fachkräfte ihr den Freund oder die Freundin ausreden wollen und das großes Bedürfnis nach einer Beziehung nicht verstehen, kann dies zum Rückzug führen. Von den Fachkräften ist deshalb viel Fingerspitzengefühl dabei gefragt, Alternativen zur aktuellen Partnerschaft aufzuzeigen. Hat sich ein Mädchen für eine Trennung entschieden, so ist es wichtig, mit ihr einen Plan zu entwickeln, wie sie auf mögliche Rückholversuche oder Drohungen des ehemaligen Partners oder der ehemaligen Partnerin reagieren kann. Idealerweise unterstützen Fachkräfte und andere wichtige Bezugspersonen sie dabei, eine dysfunktionale Beziehung selbst zu beenden. Es gibt aber gerade bei Minderjährigen auch Konstellationen, bei denen die Fachkräfte den Kontakt unterbinden müssen, um sie zu schützen. Gerade bei Mädchen und jungen Frauen, die bereits Gewalt in Beziehungen erlebt haben, kann die Teilnahme an einem Präventionsprogramm, das sie in ihren Beziehungskompetenzen stärkt, sinnvoll sein. Internationale Untersuchungen in diesem Feld zeigen, dass diese Zielgruppe stark von Präventionsangeboten profitiert.

Von den Fachkräften ist viel Fingerspitzengefühl dabei gefragt, Alternativen zur aktuellen Partnerschaft aufzuzeigen.
Dr. Susanne Witte

Präventionsprogramme, die sich direkt an Mädchen und junge Frauen richten, können dabei unterstützen, Gewalt in Liebes­beziehungen vorzubeugen. Sie haben in Ihrem Forschungs­projekt ein solches Programm weiterentwickelt und wollen dieses in Workshops bei SOS Kinderdorf umsetzen und evaluieren. Wie gehen Sie dabei vor?

Witte:  Wir haben auf der Grundlage der Erfahrungen in einem Projekt unserer Fachgruppe am DJI zur Prävention von Reviktimisierung bei sexuell missbrauchten Jugendlichen in Fremdunterbringung (PRÄVIK) und anhand der Auswertung des Forschungsstands zum Beziehungslernen und Gewalt ein Workshop­konzept entwickelt. Die Workshops umfassen zwei Tage und werden aktuell in SOS Kinderdörfern vor Ort erprobt. Ausgebildete Sexualpädagoginnen arbeiten hierbei anhand von drei Modulen, nämlich „Beziehungen“, „Sexualität“ und „Grenzen setzen“, mit den Mädchen und jungen Frauen in interaktiven Formaten. Ziel ist es, die jungen Frauen in ihren Beziehungskompetenzen zu stärken. Hierzu gehört vor allem das Äußern der eigenen Wünsche und Bedürfnisse, das Aushandeln darüber mit dem Partner bzw. der Partnerin und das Setzen von Grenzen, aber auch die Akzeptanz der Grenzen des Anderen. Die Workshops sind so konzipiert, dass neben einem festen Rahmen die Teilnehmerinnen ihre eigenen Fragen und Themen einbringen können. Für die Evaluation befragen wir sie einmal vor und einmal nach den Workshops zu ihren Erfahrungen und Einstellungen zu Liebesbeziehungen. Wir gehen davon aus, dass sich gerade im Bereich der Einstellungen schnell Veränderungen zeigen werden, während Verhaltens­änderungen erst nach einem längeren Zeitraum zu erwarten sind.

Ziel der Workshops ist es, die Beziehungskompetenzen zu stärken: das Äußern der eigenen Wünsche und Bedürfnisse, das Aushandeln darüber mit dem Partner und das Setzen von Grenzen, aber auch die Akzeptanz der Grenzen des Anderen.
Dr. Susanne Witte

Frau Schutter, wie stellen Sie sicher, dass die Empfehlungen aus dem Forschungsprojekt bei den Fachkräften in den Kinderdörfern ankommen und dort auch aufgegriffen werden?


Schutter: Wir sind sehr dankbar für die Forschungsergebnisse – und freuen uns schon auf die Workshops. Ich bin mir sicher, die werden für viele junge Frauen in unseren Kinderdorf-Familien sehr wertvoll sein. Die Empfehlungen aus dem Forschungsprojekt werden wir vereinsweit ausrollen. Es ist ein guter Start, nicht „nur“ Awareness zu schaffen, sondern die Mädchen und jungen Frauen in der Praxis zu stützen und zu stärken – für selbstbestimmte, glücklichmachende Beziehungen. Denn die wollen wir doch alle.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Uta Hofele

Expertise und Veranstaltung für die Fachpraxis

Eine Übersicht über den Forschungsstand haben die DJI-Wissenschaftlerinnen Susanne Witte, Fabienne Hornfeck, Jasmin Müller, Teresa Schlossbach und Birgit Jentsch als Expertise mit dem Titel "Beziehungen, Sexualität und Partnerschaftsgewalt bei Mädchen und jungen Frauen in der stationären Erziehungshilfe" veröffentlicht. Sie kann im PDF-Format kostenlos heruntergeladen werden.

Bei einem Fachtag mit dem Titel „Liebe, Sex und Beziehungen ohne Grenzen!? am 5. Dezember 2024 wurden der aktuellen Forschungsstand zum Themenfeld sowie Ergebnisse aus einem Pilotprojekt an vier Standorten von SOS Kinderdorf vorgestellt.