Die Schwächsten stärken

Schutzkonzepte gegen Gewalt haben sich in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe zwar verbessert, doch noch profitieren nicht alle jungen Menschen davon. Wie Kinder und Jugendliche mit Behinderung sowie Mädchen und junge Frauen noch besser geschützt werden können, zeigen neue Forschungsergebnisse. 

Von Johann Hartl und Fabienne Hornfeck

Für viele Kinder und Jugendliche in Heim­einrichtungen waren Erfahrungen von Vernach­lässigung, körperlicher oder emotionaler Miss­handlung oder sexueller Gewalt Gründe für die Inobhut­nahme und die dauerhafte Unter­bringung in einer stationären Wohn­form (Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2024). Im Bereich sexualisierter Gewalt zeigte sich in einer Unter­suchung des Kinder- und Jugendpsychiaters Marc Allroggen und Kolleg:innen (2017), dass junge Menschen vor der Fremd­unterbringung zu 24 Prozent eine Vergewaltigung erlebt haben, 49 Prozent mindestens einen sexuellen Übergriff ohne Penetration und 26 Prozent sexuelle Belästigung. Gleichwohl konnte international wie auch für Deutschland empirisch gezeigt werden, dass in stationären Einrichtungen für Kinder und Jugendliche selbst ein erhöhtes Gefährdungs­risiko für das Erleben von emotionaler, körperlicher und sexueller Gewalt besteht (Leloux-Opmeer u.a. 2016, Derr 2022, Hartl 2024). Gründe dafür sind beispiels­weise eine teilweise fehlende Privatsphäre, ein Mangel an vertrauensvollen Beziehungen zu erwachsenen Ansprech­personen und verschwimmende Grenzen zwischen Arbeitskontext und Privatbereich (Helfferich/Kavemann 2016). In diesem Spannungsfeld steht die Kinder- und Jugendhilfe vor der Herausforderung, dem an sie gerichteten Schutzauftrag und den Erwartungen an einen „schützenden Ort“ („safe space“) für dort lebende Kinder und Jugendliche gerecht zu werden. 

(Fach-)öffentlich artikuliert wurde ein Handlungs­bedarf insbesondere in Reaktion auf die Erkenntnisse aus den Runden Tischen „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ sowie „Sexueller Kindesmissbrauch“, die das Risiko sexueller Gewalt in Einrichtungen und in der Familie untersucht hatten. Mit der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) wurde im Jahr 2010 auf Regierungsebene ein offizielles Amt geschaffen, das sich politisch für die Prävention sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen engagiert. 

Gesetzliche Reformen fordern eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe

Im Januar 2025 wurde dieses zentrale Amt im Rahmen des UBSKM-Gesetzes dauerhaft gesetzlich verankert. Auch der Betroffenen­rat und die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wurden damit auf eine gesetzliche Grund­lage gestellt. Bereits in den vergangenen Jahren gab es mehrere Etappen gesetzlicher Anpassungen im Achten Sozial­gesetzbuch (SGB VIII). Zentrales Ziel war dabei, den Kinder­schutz wirksam zu stärken und den Aufgaben­bereich der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne einer inklusiven Weiter­entwicklung des SGB VIII zu konkretisieren (Deutscher Verein 2024, Hartl/Schönecker 2025, im Erscheinen). Das inklusive Verständnis des im Jahr 2021 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungs­gesetz (KJSG) greift ausdrücklich eine intersektionale Perspektive auf. Das heißt, für die Ausgestaltung von Leistungen wird explizit auch eine Perspektive der geschlechtlichen Vielfalt eingefordert, welche „die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen sowie transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen“ berücksichtigt und Benachteiligungen abbaut beziehungsweise geschlechtliche Gleich­berechtigung fordert (SGB VIII, § 9, Abs. 3).  

Wie dies bei einer vielfältigen Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe gelingen kann und ob es spezifische Konzepte braucht, wurde am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in zwei spezifischen Forschungs­projekten untersucht. Sie beschäftigten sich zum einen mit dem Schutz von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen und zum anderen mit den besonderen Schutz­bedürfnissen von Mädchen und jungen Frauen in stationären Einrichtungen. 

Es gilt, die Balance zwischen Schutz und Selbstbestimmung zu finden

Sogenannte Schutz­konzepte zur Prävention und Reaktion auf sexuelle Gewalt an und unter Kindern und Jugendlichen bieten eine wichtige Orientierung gerade auf institutioneller Ebene. Die Bestandteile umfassen beispiels­weise kinderschutz­sensible Personal­gewinnung und -entwicklung, Ansätze zur Gestaltung von Organisations­klima und -strukturen (Verhaltenskodizes und Leitbild) sowie von kindgerechten Beteiligungs- und Beschwerde­formen. In Bezug auf den Umsetzungs­stand dieser Schutz­konzepte in stationären Einrichtungen in Deutschland kam das vom DJI durchgeführte „Monitoring zum Stand der Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich neun von zehn Bestandteilen in den befragten Einrichtungen vorhanden waren, jedoch nur etwa ein Drittel von diesen über ein umfassendes Präventionskonzept verfügte (Kappler u.a. 2019). 

In den vergangenen Jahren ist ein großes Bewusstsein für das Risiko für sexuelle Gewalt in stationären Einrichtungen entstanden, dennoch bestehen nach wie vor Entwicklungs­bedarfe, beispielsweise im Bereich von Informations­angeboten für die Kinder und Jugendlichen selbst oder mit Blick auf spezifische Zielgruppen. Aber auch ganzheitliche (medien-, sexual- oder trauma-) pädagogische Konzepte und eine Förderung fachlicher Kompetenzen bei den Fachkräften sind entscheidende Stell­schrauben, um den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen in dem Spannungs­feld zwischen Schutz­auftrag und einem selbstbestimmten Ausleben von Beziehungen und Sexualität gerecht zu werden.

Bystander riskieren bei Interventionen unter anderem ihren sozialen Status und ihre Zugehörigkeit innerhalb der Peerbeziehungen.

Junge Menschen mit Behinderung erleben besonders oft Gewalt

Bislang gibt es nur wenig differenzierte empirische Angaben dazu, inwieweit in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugend­hilfe junge Menschen mit und ohne Behinderungen leben. In einer bundesweiten Befragung des DJI gaben 63 Prozent dieser Einrichtungen an, Bewohner:innen mit einer Behinderung zu betreuen (Pluto u.a. 2024). In Relation zur Gesamt­zahl der jungen Menschen in der Einrichtung liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung bei 20 Prozent. Von den jungen Menschen mit einer Behinderung, die in den Einrichtungen leben, haben 52 Prozent eine seelische, 28 Prozent eine Lern-, 10 Prozent eine geistige, 5 Prozent eine Sinnes- und je 2 Prozent eine Mehrfach-, Körper- oder sonstige Behinderung (ebd.). Ergänzend zeigen vorläufige, noch nicht publizierte Ergebnisse der DJI-Studie „Schutzinklusiv“, dass circa die Hälfte der insgesamt 135 befragten Kinder und Jugendlichen Schwierig­keiten in ihrem Sozial­verhalten hat, circa ein Drittel Einschränkungen im Bereich Sinnes­wahrnehmung (Sehen/Hören) und ein Fünftel Probleme im senso­motorischen Bereich. 

Mit Blick auf die Frage besonderer Schutz­bedarfe für junge Menschen zeigen die Daten, dass Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen seit Aufnahme in die betreffende Einrichtung zu je drei Viertel psychische wie auch körperliche Gewalt erlebt haben. Sexuelle Gewalt­erfahrungen mit Körper­kontakt erlebten im gleichen Zeit­raum etwas mehr als ein Viertel der befragten Kinder und Jugendlichen (siehe Abbildung oben; Hartl/Schönecker 2025, im Erscheinen). Während emotionale Gewalt überwiegend intern und kaum außerhalb erlebt wird, scheint körperliche Gewalt in annähernd gleichem Ausmaß in beiden Settings aufzutreten. Sexuelle Gewalt mit Körper­kontakt erlebten die befragten Kinder und Jugendlichen häufiger durch Personen, die nicht innerhalb der stationären Einrichtung leben. Insgesamt gingen Übergriffe aller drei Formen zu einem über­wiegenden Teil beziehungs­weise im Fall von sexueller Gewalt fast ausschließlich von anderen Jugendlichen aus, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohngruppen.  

Ein Vergleich zwischen jungen Menschen mit und ohne Behinderungen zeigt, dass Kinder und Jugendliche mit selbst­berichteten mindestens leicht ausgeprägten Beeinträchtigungen im sozio­emotionalen Bereich (Stimmungen, Konzentration und Verhalten gegenüber anderen) zu einem deutlich höheren Anteil von emotionaler Gewalt (90,3 Prozent) beziehungsweise sexueller Gewalt mit Körper­kontakt (41,9 Prozent) betroffen sind als Kinder und Jugendliche ohne Auffälligkeiten (62,1 beziehungsweise 58,6 Prozent, siehe Abbildung). Ebenfalls sind Kinder und Jugendliche mit mindestens leicht ausgeprägten Sinnes­beeinträchtigungen beim Sehen oder Hören deutlich häufiger von körperlicher oder sexueller Gewalt mit Körper­kontakt betroffen als Kinder und Jugendliche ohne eine Einschränkung. 

Neu entwickeltes inklusives Programm fördert gewaltfreies Miteinander

Das angepasste Präventionsprogramm „PräviKIBS inklusiv“ wurde für den (teil-)stationären Jugend­hilfekontext konzipiert und zielt neben der Prävention verschiedener Gewalt­formen an und zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen insgesamt auf die Förderung eines guten Miteinanders ab. Dabei schließt es auch die Einrichtungs­mitarbeitenden ein. Es kann an unterschiedliche Altersstufen angepasst werden. 

Das Programm besteht aus sieben Modulen, die jeweils in mehrere Kurs­einheiten unterteilt sind. Diese zeichnen sich inhaltlich durch einen diversitäts­sensiblen Methodenmix aus, welcher unter anderem aus theater­pädagogischen Elementen, Fallvignetten, Illustrationen, Ton- und Video­material besteht. 

Da die Umsetzung des Programms insgesamt als längerfristiger, begleitender pädagogischer Prozess angelegt ist, bedarf es grundlegend einer Anbindung an und Unter­stützung durch die gesamte Institution (Leitungs- und Trägerebene) und der Verfügbarkeit entsprechender Ressourcen. Insbesondere ist es von Bedeutung, dass nicht nur die betreuten Mädchen und Jungen „mit ins Boot geholt“ werden, sondern auch die Betreuer:innen in den Gruppen, die ja selbst auch Adressat:innen des Programms sind. 

Erste vorläufige Analysen deuten darauf hin, dass das Programm von jungen Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen positiv und mit hoher Teilnahme­motivation angenommen wird. Allerdings signalisieren hoch­belastete Kinder und Jugendliche sowie jene mit emotionalen und verhaltens­bezogenen Beeinträchtigungen mehr Zurückhaltung, sich zu sensiblen, persönlichen Themen zu äußern und befürchten negative Reaktionen anderer, wie etwa ausgelacht zu werden. Zugleich zeigten sich im Rahmen von Wirkungs­analysen positive Effekte sowohl auf die Reduzierung von Gewalt, auf das Sprechen über Gewalt­erleben (Disclosure) sowie auf die Förderung einer positiven Entwicklung des wahr­genommenen Gruppen­klimas. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen profitieren besonders dann von dem Programm, wenn die Kurs­inhalte mit Blick auf Besonder­heiten der Teilnehmenden angepasst wurden (Hartl/Schönecker 2025).

Sexualisierte Gewalt betrifft häufig Mädchen und junge Frauen

Das Risiko, Gewalt zu erleben, ist nicht nur für Menschen mit Behinderung erhöht, sondern auch geschlechts­spezifisch für Mädchen und junge Frauen. Das betrifft insbesondere sexuelle Gewalt, wie Kriminal­statistiken und wissenschaftliche Unter­suchungen immer wieder belegen (Kliem/ Baier/Bergmann 2018, Miller/Jones/McCauley 2018, Wincentak/ Connolly/Card 2017). Ungewollte oder erzwungene sexuelle Handlungen bis hin zu Vergewaltigungen können dabei sowohl innerhalb wie außerhalb von Liebes­beziehungen stattfinden. In dem von SOS-Kinderdorf beauftragten DJI-Forschungsprojekt „Beziehungslernen und Prävention sexueller Gewalt bei Mädchen und jungen Frauen in Wohngruppen der stationären Erziehungshilfe“ wurde der aktuelle Forschungsstand zu den Themen Liebesbeziehungen, Sexualität und Gewalterfahrungen mit einem besonderen Fokus auf Mädchen und junge Frauen in stationären Wohngruppen zusammenfassend dargestellt (Witte u.a. 2024).

Dabei zeigte sich, dass Mädchen und junge Frauen in Einrichtungen der stationären Erziehungshilfen insbesondere bei negativen Vorerfahrungen (in der Herkunfts­familie und/oder früheren Liebes­beziehungen) und dem starken Wunsch nach einer Beziehung beziehungsweise der Angst vor Beziehungs­losigkeit ein erhöhtes Risiko haben, Gewalt in einer Liebes­beziehung zu erfahren. Auch können mangelndes Wissen über Körper­themen und Sexualität sowie individuelle Vorstellungen und Überzeugungen zu Beziehungen und Sexualität eine selbst­bestimmte Gestaltung in diesem Bereich verhindern und Gewalt begünstigen. So kann es passieren, dass beispielsweise grenz­überschreitende Verhaltens­weisen, die aus Eifersucht geschehen, geduldet werden und eigene Bedürfnisse und Wünsche nicht angemessen kommuniziert werden können. Auch umweltbezogene Faktoren, wie ein von Kriminalität und Gewalt geprägtes Lebensumfeld oder der Mangel an kompetenten Ansprech­personen in solchen Notlagen, erhöhen (nicht nur) für Mädchen und junge Frauen die Wahrscheinlichkeit, (erneut) sexuelle Gewalt zu erfahren. 

Unsicherheit entsteht, wenn Werte und Normen in konkreten Situationen infrage stehen, was Handlungs­einschränkungen begünstigt. Jugendliche müssen daher befähigt werden, solchen Norm­verstößen entgegenzutreten, ohne ihre Gruppen­identität oder Sicherheit zu gefährden. Das entwickelte Präventions­konzept kombiniert ein gemeinsames Grundmodell mit arbeitsfeld­spezifischen Anpassungen, um gruppen­spezifische Dynamiken und Vulnerabilitäten angemessen zu adressieren. Um die Jugendlichen handlungs(!)sicherer zu machen, wurde zudem ein besonderer Schwerpunkt auf theaterpädagogische Einheiten gelegt. Diese ermöglichen es, sich mit den Herausforderungen, Dilemmata und Handlungsmöglichkeiten für Bystander interaktiv auseinanderzusetzen und Vorstellungen und Überzeugungen in einem konsequenz­reduzierten Raum mit Gleichaltrigen zu reflektieren und zu kritisieren. 

Zudem wurde ein Fortbildungs­curriculum für pädagogische Fachkräfte konzipiert. Auch hier spielen theater­pädagogische Methoden eine wesentliche Rolle, um praxisnah Handlungs­optionen zu erarbeiten und eine Sensibilisierung zu fördern. Die Präventions­workshops und Fortbildungen wurden in inhaltlicher und methodischer Aufbereitung positiv evaluiert. Die Jugendlichen schätzten in einem Prä-Post-Vergleich ihr Wissen über Handlungs­möglichkeiten bei sexualisierter Peergewalt nach den Workshops deutlich höher ein (Gulowski/Holz 2024). Auch die Handlungs­sicherheit sowie das selbst eingeschätzte Wissen der Teilnehmenden der Fortbildungen hat sich im Prä-Post-Vergleich in allen abgefragten Aspekten, insbesondere dem Wissen zu Bystandern, signifikant erhöht. 

Beziehungskompetenzen fördern, um sexuellen Übergriffen vorzubeugen

Präventions­angebote sind eine Möglichkeit, um verschiedene Gewalt­formen in Liebes­beziehungen insbesondere bei Jugendlichen mit belastenden Vorerfahrungen vorzubeugen, und unterstützen die Entwicklung eines selbst­bestimmten Verhaltens bei Mädchen und jungen Frauen. Es gibt international eine Reihe von wirksamen Präventions­programmen, die Beziehungs­kompetenzen bei Mädchen und jungen Frauen fördern, um Gewalt in Liebes­beziehungen vorzubeugen. Sexual­pädagogische Programme, die Mädchen proaktiv Kompetenzen und Wissen vermitteln, sind auch in Deutschland weitverbreitet. Die Wirksamkeit dieser Programme wurde aber für den deutschsprachigen Raum bisher kaum untersucht. 

Dies war die Motivation, im Jahr 2024 in vier SOS-Kinderdörfern in Deutschland zweitägige Workshops mit Mädchen und jungen Frauen im Alter von 12 bis 19 Jahren durchzuführen, in denen sich die Teilnehmenden intensiv mit den Themen Liebe, Beziehungen und Sexualität beschäftigten. Die meisten Mädchen gaben in der Vorab­befragung an, bereits Erfahrungen in Liebes­beziehungen gesammelt zu haben, und ein großer Teil hat in diesem Kontext auch emotionale und verbale Gewalt erlebt. Für mehr als die Hälfte der Teilnehmenden waren das auch Erfahrungen, die sie in ihren Familien erlebt haben, wobei sich solche Muster von Grenz­überschreitungen zu wiederholen scheinen und sich auf die psychische Gesundheit auswirken. 

Erste Analysen weisen darauf hin, dass der Workshop den teil­nehmenden Mädchen geholfen hat, ihr Wissen über Sexualität und Liebes­beziehungen zu erweitern sowie Verhalten in schwierigen Situationen zu erlernen. Dabei war es auch wichtig, über Themen wie Schönheits­ideale und Eifersucht zu sprechen und darüber, wann ein Verhalten überhaupt als grenz­überschreitend wahrgenommen wird. Die flexible Gestaltung der Workshops war förderlich, um auf die unterschiedlichen Bedarfe der Teilnehmenden eingehen zu können und einen vertrauens­vollen Raum zu schaffen, in dem es keine „blöden Fragen“ gibt. Weitere Auswertungen zur Wirksam­keit dieser Intervention sind aktuell noch nicht abgeschlossen und fließen in den für das Jahr 2025 geplanten Abschlussbericht des Projekts ein. 

Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben von Risikogruppen berücksichtigen

In der (teil-)stationären Erziehungshilfe gibt es bei den dort lebenden Kindern und Jugendlichen eine Vielzahl an verschiedenen Bedarfen und Bedürfnissen aufgrund unterschiedlicher Formen und des jeweiligen Ausmaßes an Vorbelastungen, Viktimisierungs­erfahrungen, körperlichen und psychischen Einschränkungen sowie anderen belastenden Lebens­lagen. Die Auseinander­setzung mit Liebes­beziehungen und der eigenen Sexualität spielt aber unabhängig von diesen individuellen Unter­schieden für fast alle Jugendlichen eine bedeutende Rolle und stellt eine wichtige Entwicklungs­aufgabe dar. Welche Herausforderungen und Schwierigkeiten sich daraus ergeben, kann allerdings individuell sehr unterschiedlich sein. 

Während sich beispielsweise Mädchen und junge Frauen zusätzlich zu eventuell früher erlebten Grenz­überschreitungen auch mit stereotypen Geschlechter­vorstellungen auseinandersetzen müssen (Witte u.a. 2024), kommen für Jugendliche mit einer Behinderung häufig eine Konfrontation mit diskriminierenden Annahmen zu einem „Anderssein“ und weitere Formen von Mikro­aggressionen hinzu (Gartner/Sterzing 2016). Damit sind die beiden Gruppen einem höheren Risiko ausgesetzt, Grenz­überschreitungen im sexualisierten Bereich zu erfahren oder haben bei solchen Erlebnissen eine größere Zurück­haltung, sich einer Person anzuvertrauen. 

Als ein geschützter Lebens­ort, in dem sich Kinder und Jugendliche weiter­entwickeln können, müssen Jugendhilfe­einrichtungen somit der Prävention sexualisierter Gewalt und der Förderung von gesunden Liebes­beziehungen sowie einer selbst­bestimmten Sexualität besondere Aufmerksamkeit schenken. Schutz­konzepte und deren einzelne Bestand­teile bieten dabei eine erste gute Orientierung, reichen aber nicht aus. Inklusive, intersektional gedachte Ansätze brauchen gut etablierte, evidenz­basierte pädagogische Konzepte, die zwar die Entwicklungs­aufgaben von Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen berücksichtigen, sich aber gleichzeitig ebenso an die individuellen Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Heraus­forderungen anpassen lassen. 

Allroggen, Marc u.a. (2017): Lifetime prevalence and incidence of sexual victimization of adolescents in institutional care. In: Child abuse & neglect, 66. Jg., S. 23–30

Autorengruppe Kinder- Und Jugendhilfestatistik (2024): Kinder- und Jugendhilfereport 2024. Leverkusen

Derr, Regine (2022): Gewalt in Einrichtungen der Heimerziehung. Einflussfaktoren der Organisation auf Gewalt durch Mitarbeitende und unter Jugendlichen. Dissertation, Freie Universität Berlin

Deutscher Verein Für Öffentliche Und Private Fürsorge e.V. (2024): Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zur Weiterentwicklung eines inklusiven Kinderschutzes (DV 17/23). Berlin

Gartner, Rachel E. / Sterzing, Paul R. (2016): Gender Microaggressions as a Gateway to Sexual Harassment and Sexual Assault. In: Affilia, 31. Jg., H. 4, S. 491–503

Hartl, Johann (2024): Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung – Einblicke zu Schutz- und Risikofaktoren mit Blick auf stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. In: Kieslinger, Daniel/Owsianowski, Judith (Hrsg.): Inklusiver Kinderschutz. Anforderungen, Herausforderungen, Perspektiven. Freiburg, S. 23–44

Hartl, Johann / Schönecker, Lydia (2025, im Erscheinen): Inklusive Schutzkonzepte in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Erkenntnisse aus dem Projekt „Schutzinklusiv“. Weinheim 

Hartl, Johann / Derr, Regine / Mosser, Peter (2020): Prävention von sexualisierter Gewalt in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluation des Programms PräviKIBS. In: Dekker, Arne u.a. (Hrsg.): Perspektiven auf sexualisierte Gewalt. Einsichten aus Forschung und Praxis. Wiesbaden, S. 241–259

Helfferich, Cornelia / Kavemann, Barbara (2016): „Kein Sex im Kinderheim?“. Prävention sexueller Gewalt in der stationären Jugendhilfe. In: sozialmagazin, 41. Jg., H. 7, S. 52–59 

Kappler, Selina u.a. (2019): Kinder und Jugendliche besser schützen – der Anfang ist gemacht. Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt in den Bereichen: Bildung und Erziehung, Gesundheit, Freizeit. Abschlussbericht. Berlin/München

Kliem, Sören / Baier, Dirk / Bergmann, Marie Christine (2018): Prävalenz grenzüberschreitender Verhaltensweisen in romantischen Beziehungen unter Jugendlichen (Teen-Dating-Violence). In: Kindheit und Entwicklung, 27. Jg., H. 2, S. 110–125

Leloux-Opmeer, Harmke u.a. (2016): Characteristics of Children in Foster Care, Family-Style Group Care, and Residential Care: A Scoping Review. In: Journal of Child and Family Studies, 25. Jg., S. 2357–2371

Miller, Elizabeth / Jones, Kelley A. / Mccauley, Heather L. (2018): Updates on adolescent dating and sexual violence prevention and intervention. In: Current opinion in pediatrics, 30. Jg., H. 4, S. 466–471 

Pluto, Liane u.a. (2024): Einrichtungen stationärer Hilfen zur Erziehung. Empirische Analyse zu Organisationsmerkmalen, Adressat:innen und Herausforderungen. Weinheim

Wincentak, Katherine / Connolly, Jennifer / Card, Noel (2017): Teen dating violence: A meta-analytic review of prevalence rates. In: Psychology of violence, 7. Jg., H. 2, S. 224–241 

WITTE, SUSANNE u.a. (2024): Beziehungen, Sexualität und Partnerschaftsgewalt bei Mädchen und jungen Frauen in der stationären Erziehungshilfe. München

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2025 von DJI Impulse „Kinder und Jugendliche wirksam schützen - Wie sich Gewalt und Vernachlässigung eindämmen lassen“ (Download PDF).

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