Gewalt erkennen und handeln
Das Jugendamt übernimmt eine zentrale Rolle im Kinderschutz: Es schätzt das Risiko ein, inwieweit Kinder oder Jugendliche in ihren Familien gefährdet sind – und hilft Betroffenen. Welche Stärken und Schwächen die Kinderschutzarbeit in Deutschland hat, zeigen Studien des Deutschen Jugendinstituts.
Von Heinz Kindler, Mareike Paulus und Christoph Liel
Zusammen mit den Familiengerichten bilden die Jugendämter den Kern des deutschen Kinderschutzsystems (Witte u.a. 2019). Die Kernaufgaben der Jugendämter im Kinderschutz bestehen (a) zunächst einmal darin, möglichst häufig durch freiwillige Unterstützung von Eltern und Kindern das Entstehen von Kindeswohlgefährdung zu verhindern. (b) Weiterhin nehmen Jugendämter unter Einbezug von Eltern und Kindern Gefährdungseinschätzungen vor, vor allem wenn Mitteilungen zu einer möglichen Gefährdung eingehen. (c) Zeigt sich dabei eine Kindeswohlgefährdung, so ist es schließlich Aufgabe der Jugendämter, möglichst im Einvernehmen mit der Familie die Gefährdung abzuwenden. Notfalls können Jugendämter aber auch das Familiengericht anrufen oder, unter bestimmten Voraussetzungen, selbst vorläufige Schutzmaßnahmen (Inobhutnahmen) ergreifen.
Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung mitgeteilt werden.
Die Jugendämter übernehmen damit Aufgaben, die in § 1 Abs. 3 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) sowie in § 1 Abs. 3 Ziff. 3 und 4 im Achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) niedergelegt sind. Der bereits mehrfach erwähnte Rechtsbegriff der Kindeswohlgefährdung beschreibt eine gegenwärtige, so deutliche Gefahrensituation, dass mit ziemlicher Sicherheit eine erhebliche Schädigung betroffener Kinder vorherzusehen ist. Bereits eingetretene Schädigungen können dabei natürlich berücksichtigt werden. Neben ihrer Fallverantwortung haben Jugendämter in ihrem Zuständigkeitsbereich noch eine Gesamtverantwortung dafür, dass die erforderlichen Hilfen in ausreichendem Umfang zur Verfügung stehen und eine kontinuierliche Qualitätsentwicklung stattfindet (§ 79 SGB VIII).
Noch zu erwähnen ist, dass es einige für den Kinderschutz wichtige Punkte gibt, für die Jugendämter nicht oder nicht alleine zuständig sind. Dies betrifft etwa Konzepte in Einrichtungen zum Schutz von Kindern beziehungsweise Jugendlichen vor Gewalt oder die Rehabilitation und Entschädigung nach Vernachlässigung, Misshandlung oder sexueller Gewalt. Zudem sind Jugendämter wesentlich darauf angewiesen, dass ihnen aus Institutionen und aus der Gesellschaft heraus gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung mitgeteilt werden.
Häufig mangelt es an Personal und Berufserfahrung
Jedes Bundesland bestimmt die örtlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe, die dann jeweils ein Jugendamt als Fachbehörde in der Kommunalverwaltung betreiben (§ 69 Abs. 1 SGB VIII). Meist sind dies Landkreise und kreisfreie Städte. Insbesondere in Nordrhein-Westfalen können aber auch kreisangehörige Gemeinden ein Jugendamt gründen (§ 1a Abs. 3 „Erstes Gesetz zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes NRW“). Auf diese Weise gibt es in Deutschland derzeit circa 600 Jugendämter (Mühlmann 2024a).
Als Teil kommunaler Selbstverwaltung entscheiden die Kommunen selbst, wie ihre Jugendämter aufgebaut sind und wie sie ihre verpflichtenden sowie freiwilligen Aufgaben wahrnehmen (für eine aufgabenbezogene Einführung siehe Beckmann 2024). Meist sind die Aufgaben im Kinderschutz in den Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) verortet. Es gibt aber auch Kommunen, die bestimmte Aufgaben im Kinderschutz in spezialisierten Diensten zusammengefasst haben, etwa die Gefährdungseinschätzung nach eingegangenen Mitteilungen. Deshalb lässt sich nicht genau sagen, wie viele Fachkräfte in den Jugendämtern Kinderschutzaufgaben übernehmen.
In den ASD der Jugendämter arbeiten derzeit jedenfalls circa 17.000 Fachkräfte (Mühlmann 2024b). Das Personal in den ASD hat sich seit dem Jahr 2006, unter anderem aufgrund der gewachsenen gesellschaftlichen Sensibilität bezüglich Gewalt gegenüber Kindern und gestiegener Zahlen bei Gefährdungsmitteilungen und Hilfen zur Erziehung, mehr als verdoppelt und ist zugleich jünger und weiblicher geworden. Daten zum Ausmaß der Personalfluktuation, zu unbesetzten Stellen beziehungsweise durch längerfristige Krankheit ausfallenden Fachkräften liegen nur vereinzelt vor (zum Beispiel Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 2018, S. 41 ff.). Klar ist allerdings, dass viele ASD Fachkräfte keine lange Berufserfahrung im Kinderschutz haben. Bei der bundesweit derzeit größten Befragung von ASD-Fachkräften, die das Deutsche Jugendinstitut (DJI) im Bundesland Baden-Württemberg durchgeführt hat, hatten 48 Prozent der Fachkräfte fünf oder weniger Jahre Erfahrung im Kinderschutz (Eppinger u.a. 2021).
Es besteht zudem weitgehend Einigkeit, dass es in einem erheblichen Teil der Jugendämter einen Personalmangel bei der Wahrnehmung der Kinderschutzaufgaben gibt. So haben in Baden-Württemberg 25 Prozent der Fachkräfte im ASD mit Kinderschutzaufgaben angegeben, das Verhältnis von Personal zur Anzahl der Fälle sei völlig oder eher unangemessen. In Nordrhein-Westfalen sahen nach einer Recherche des Westdeutschen Rundfunks (WDR) 22 Prozent der Jugendamtsleitungen einen großen Personalmangel im ASD (WDR 2025).
Weniger klar ist hingegen, welche Gründe für die Unterschiede zwischen Jugendämtern im Ausmaß von Personalnot ausschlaggebend sind und welche Strategien am ehesten für Abhilfe sorgen. In der Diskussion befinden sich (a) eine langfristiger angelegte Personalplanung mit regelmäßiger Personalbemessung, (b) eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, (c) eine qualifiziertere Vorbereitung während des Studiums und ein ausführlicheres Onboarding, (d) eine Anwerbung von Fachkräften im Ausland sowie (e) eine stärkere Entlastung der Fachkräfte durch Assistenzstellen und künstliche Intelligenz (Witte u.a. 2025, im Erscheinen).
Jugendamtlicher Kinderschutz im internationalen Vergleich
Bei einer ländervergleichenden Aktenanalyse von 1.207 Kinderschutzfällen aus Deutschland, den Niederlanden und England im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts HESTIA, bei dem das DJI mitwirkte, betrug der Zeitabstand zwischen eingehender Gefährdungsmitteilung und einer vom Gesetz geforderten Gefährdungseinschätzung im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte im Jugendamt in Deutschland 23 Tage, in England 38 und in den Niederlanden 72. Die für alle Beteiligten belastende Zeit der Unsicherheit war in Deutschland also am kürzesten. Weiterhin war das Werben bei den Eltern um eine freiwillige Zusammenarbeit in Deutschland am erfolgreichsten, und nur in 29 Prozent der Fälle mit Kindeswohlgefährdung kamen Fachkräfte zu der Einschätzung, die Gefährdung durch Zwangsmaßnahmen abzuwenden, während die Vergleichswerte für die Niederlande und England bei 46 beziehungsweise 90 Prozent lagen.
Probleme im jugendamtlichen Kinderschutz in Deutschland aus einer international vergleichenden Sicht bestanden dagegen in einer häufig unsystematischen Risikoanalyse. Informationen über zentrale Risikofaktoren für wiederholte Gefährdung, wie etwa Misshandlung beziehungsweise Vernachlässigung in der Kindheit der Eltern oder eine soziale Isolation der Familie, waren nur in einer Minderheit der Akten und damit seltener als in den Niederlanden und England vorhanden (Witte u.a. 2025, im Erscheinen).
Zudem wurden bei der Gefährdungseinschätzung in Deutschland am seltensten andere Institutionen einbezogen, wie etwa Schulen oder pädiatrische Praxen. Eine unsystematische Risikoanalyse sowie der fehlende Einbezug anderer Institutionen begünstigen Fehleinschätzungen. Schließlich wurde zwar die Mehrheit der Kinder in den Kinderschutzfällen aus Deutschland von einer Fachkraft gesehen, aber nur in 22 Prozent waren die dokumentieren Gespräche ausführlich genug, dass tatsächlich von einem Einbezug der Kinder in den Entscheidungsprozess gesprochen werden konnte (Witte u.a. 2021).
Mehr als die Hälfte der Fachkräfte sieht Fortbildungsbedarf bei sich selbst
Ein anderer Zugang zu den Stärken und Schwächen der Kinderschutzarbeit in den Jugendämtern läuft über die Sichtweisen der Fachkräfte auf ihre Arbeit. Hier ergeben jugendamtsweite DJI-Befragungen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, dass Arbeitsklima und die Gesprächskultur zwischen Fachkräften und der Leitung in der Regel positiv bewertet werden. Mehr als die Hälfte der Fachkräfte sieht aber bei sich selbst Qualifikationsbedarfe zu Themen wie schwierige Elterngespräche und Argumentation beim Familiengericht. Weitere Kritikpunkte sind teilweise wenig hilfreiche Instrumente zur Gefährdungseinschätzung sowie fehlende oder für Gefährdungsfälle nicht ausreichend qualifizierte Hilfen zur Erziehung.
Fühlen sich Fachkräfte aufgrund solcher Umstände im Kinderschutz nicht ausreichend handlungsfähig, erhöht dies die empfundene Belastung durch die Arbeit deutlich (Kadera u.a. 2024). Da eine hohe Arbeitsbelastung die Personalbindung erschwert, kann Qualitätsentwicklung im Kinderschutz entsprechend zu einer stabilen Personalbasis beitragen.
Qualitätsverbesserung mittels Fallanalysen und Aufarbeitungsstudien
Ein weiterer Zugang zur qualitativen Bewertung der Kinderschutzarbeit in Jugendämtern führt über rückblickende Fallanalysen (Witte u.a. 2024) und Aufarbeitungsstudien (Meysen u.a. 2023). Beide Zugänge können für Qualitätsentwicklung genutzt werden und erlauben es prinzipiell, Stärken und Schwächen zu beschreiben. Vielfach geht es jedoch um kritische Verläufe oder Erfahrungen. Werden etwa Anhörungen und Berichte bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs danach ausgewertet, wie Betroffene die Arbeit des Jugendamtes erlebt haben, zeigen sich drei Hauptprobleme: Junge Menschen, die sich selbst an das Jugendamt gewandt und nicht sofort von sexueller Gewalt berichtet haben, fühlten sich oft nicht ernst genommen. Schutzmaßnahmen, die ohne Beteiligung der jungen Menschen und nicht missbrauchenden Elternteile geplant wurden, sind häufig gescheitert. Eine langfristig angelegte Unterstützung und Begleitung war selten, wäre aber oft nötig gewesen.
Noch ausstehend sind bislang Verlaufsanalysen an größeren Stichproben, die darauf eingehen, wie häufig Kinder und Jugendliche nach einer Kinderschutzintervention gut und sicher aufwachsen, einen guten Schulabschluss erreichen und ein produktives Leben führen können (Witte/ Kindler/Heene 2025, im Erscheinen). Befunde an kleineren Stichproben deuten darauf hin, dass wiederholte Gefährdungsereignisse und ungünstige Entwicklungsverläufe bislang bei einem Teil der betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht verhindert werden können (zum Beispiel Rauschenbach/Kindler 2022).
Entwicklungsaufgaben für die Kinderschutzarbeit in den Jugendämtern
Eine stabile und ausreichende Personalbasis, aussagekräftige Einschätzungsinstrumente sowie wirksame Hilfen für Gefährdungsfälle sind Grundlagen für einen gelingenden Kinderschutz. Bei allen drei Punkten, die nicht auseinanderdividiert werden sollten, lassen sich im Zusammenspiel von Praxis und Forschung noch Verbesserungen erreichen. Ein Teil der Fachbasis benötigt mehr Unterstützung, um weithin befürwortete Beteiligungsrechte von Kindern und Eltern tatsächlich umsetzen zu können. Als Organisationen stehen Jugendämter zudem durch eine Gesetzesänderung (Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen) vorhersehbar vor der Herausforderung, ehemaligen Klient:innen vermehrt Akteneinsicht zu gewähren und Versäumnisse in der Vergangenheit für Lernprozesse zu nutzen. In Zusammenarbeit mit Schulen und Gesundheitswesen muss es auch darum gehen, Bildungsverläufe und Gesundheit nach Gefährdungsereignissen in Kindheit und Jugend zu fördern.

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2025 von DJI Impulse „Kinder und Jugendliche wirksam schützen - Wie sich Gewalt und Vernachlässigung eindämmen lassen“ (Download PDF).
Beckmann, Kathinka (2024): Mehr als Kinderschutz: der ASD als Teil der Kommunalverwaltung. In: Brettschneider, Antonio/Grohs, Stephan/Jehles, Nora (Hrsg.): Handbuch Kommunale Sozialpolitik. Wiesbaden
Bürgerschaft Der Freien Und Hansestadt Hamburg (2018): Bericht der Enquete-Kommission „Kinderschutz und Kinderrechte weiter stärken“. Drucksache 21/16000
Eppinger, Sabeth u.a. (2021): Qualitätsentwicklung im Kinderschutz in Baden-Württemberg. Abschlussbericht. München
Kadera, Stephanka u.a. (2024): Belastungserleben im Kinderschutz. Soziale Arbeit, Jahrgang 73 (Ausgabe 11), S. 411–421
Meysen, Thomas / Paulus, Mareike / Kindler, Heinz (2023): Sexueller Kindesmissbrauch und die Arbeit der Jugendämter. Berlin
Mühlmann, Thomas (2024a): Jugendämter. In: Autor:innengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport 2024. Opladen, S. 223–233
Mühlmann, Thomas (2024b): Allgemeiner Sozialer Dienst. In: Autor:innengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport 2024. Opladen, S. 235–241
Rauschenbach, Thomas / Kindler, Heinz (2022): Auf dem Weg zu Qualitätsindikatoren für das Kinderschutzsystem in Deutschland. In: Deutsches Kinderhilfswerk (Hrsg.): Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Deutschen Kinderhilfswerks. Berlin, S. 91–103
Westdeutscher Rundfunk (WDR) (2025): WDR-Recherche zu Jugendämtern: So überlastet ist der Kinderschutz in NRW. https://www1.wdr.de/nachrichten/jugendaemter-in-not-wdr-befragung- 100. html
Witte, Susanne u.a. (2019): Preventing child endangerment – Child protection in Germany. In: Merkel-Holguin, Lisa / Fluke, John D. / Krugman, Richard D. (Hrsg.): National systems of child protection. Understanding the international variability and context for developing policy and practice. Cham
Witte, Susanne / López López, Mónica / Baldwin, Helen (2021): The voice of the child in child protection decision-making. A cross-country comparison of policy and practice in England, Germany, and the Netherlands. In: Fluke, John D. u.a. (Hrsg.): Decision Making and Judgement in Child Welfare and Protection. Theory, Research and Practice. New York, S. 263–280
Witte, Susanne u.a. (2024): Abschlussbericht des Projektes QUEK pilot „Pilotprojekt Fallanalysen im jugendamtlichen Kinderschutz Nordrhein-Westfalen“. Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 18/2967
Witte, Susanne / Kindler, Heinz / Heene, Sabine (2025, im Erscheinen): Schutz- und Hilfsmaßnahmen, Reviktimisierung und kindliches Wohlergehen nach der Vorstellung in der Kinderschutzambulanz: Ergebnisse aus der kombinierten Auswertung mit Jugendamtsakten. In: Schrapper, Christian/Kindler, Heinz (Hrsg.): Kinderschutzkarrieren. Rekonstruktion von organisationalen Entwicklungen, Gefährdungserfahrungen, diagnostischen Vorgehensweisen, Interventionen und biographischen Verläufen in einer westdeutschen Großstadt 1985–2014. Weinheim
Witte, Susanne u.a. (2025, im Erscheinen): Decisions at the end of child protection investigations: Varying thresholds for support need and risk of significant harm.
Witte, Susanne u.a. (2025, im Erscheinen): Personalknappheit im jugendamtlichen Kinderschutz. Situation, Folgen und mögliche Gegenmaßnahmen. München