„Allein Verbote und Filter schützen nicht vor sexualisierter Gewalt im Netz“


Fast jede:r dritte Jugendliche war online bereits Opfer von sexueller Belästigung. Warum Kommunikationswissenschaftlerin Ruth Wendt in der digitalen Mediennutzung dennoch Chancen für die sexuelle Entwicklung sieht, was Schulen und Eltern ändern müssen und welche Kompetenzen junge Menschen brauchen, um Risiken zu verringern. 

DJI Impulse: Frau Professorin Wendt, wie hat sich die Bedrohung durch sexualisierte Gewalt mittels digitaler Medien in den vergangenen Jahren verändert?

Prof. Dr. Ruth Wendt: Es ist immer schwierig zu sagen, ob bestimmte Phänomene wie Cybermobbing oder sexuelle Online-Belästigung extrem zugenommen haben, weil uns dazu häufig die für den Vergleich zentralen längsschnittlichen Daten fehlen. Was wir aber beobachten können, ist eine Veränderung des Auftretens bestimmter Phänomene durch technische Entwicklungen beziehungsweise neue Plattformen, die auf den Markt gekommen sind. So haben sich beispielsweise durch das Aufkommen von Dating-Plattformen wie Tinder neue Möglichkeiten zur Anbahnung und Ausgestaltung von romantischen Beziehungen ergeben. Aber auch Formen von sexueller Belästigung werden immer wieder in Zusammenhang mit entsprechenden Plattformen beobachtet. Auch wenn digitale Medien gerade für Jugendliche die Chance bieten, autonom und unter dem Radar von Autoritätspersonen romantische und auch sexuelle Kontakte auszugestalten und somit zu ihrer sexuellen Entwicklung beitragen, gehen damit gerade auch aufgrund der Privatheit der Nutzung gewisse Risiken einher.

Prof. Dr. Ruth Wendt ist Professorin am Institut für Kommunikations­wissenschaft und Medien­forschung der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) mit Schwerpunkt auf „Digital Literacy in Algorithmic Spaces“. In ihrer Forschung beschäftigt sich die Kommunikations­wissenschaftlerin mit der digitalen Medien­kompetenz, generell mit der Nutzung und den Wirkungen von digitalen Medien sowie mit Fragen der Medien­sozialisation und -erziehung. Foto: Jan Greune

Welche Risiken beobachten Sie besonders häufig in Ihren Forschungen?

Phänomene, die uns in unserer Zusammenarbeit mit Jugendlichen häufig begegnen, sind Cybermobbing sowie generell Online-Hass, also sämtliche Formen hasserfüllter und gezielt verletzender Kommunikation. Auch wenn zumeist nur ein kleinerer Prozentsatz der Jugendlichen angibt, selbst entsprechende Erfahrungen gemacht zu haben, wie etwa auch im Survey des Deutschen Jugendinstituts (Anm. der Redaktion: siehe S. XX in dieser Ausgabe), berichten viele davon, dass sie solche Vorfälle im Umfeld beobachten oder bereits beobachtet haben. Auch die Ergebnisse der aktuellen JIM-Studie, die den Medienumgang der 12- bis 19-Jährigen in Deutschland regelmäßig untersucht, legen nahe, dass viele Jugendliche neben Beleidigungen und Hass online auch mit einer Reihe an problematischen Inhalten in Kontakt kommen. Dazu gehören Fake News und Verschwörungstheorien genauso wie pornografische Inhalte. Gerade auch der ungewollte Kontakt mit sexuellen Online-Inhalten beschäftigt uns in unserer Forschung. 

Wie kommt es zu diesem ungewollten Kontakt mit Pornografie?

Jugendliche stoßen bei ihrer alltäglichen Online-Nutzung immer wieder ungewollt auf Inhalte, die sie stark beunruhigen können. Wir haben in einer kürzlich durchgeführten Befragungsstudie mit Jugendlichen in Kanada gesehen, dass vor allem diejenigen Jugendlichen ungewollt mit bestimmten pornografischen Online-Inhalten konfrontiert werden, die gleichzeitig angeben, hin und wieder auch gezielt nach entsprechenden sexualisierten Online-Materialien zu suchen. Hier zeigen sich also auch nachgelagerte Gefahren, die mit einer intendierten Suche nach pornografischem Material online einhergehen können, nämlich dass im Zuge dieser Suche später auch ungewollt Inhalte auftauchen, die Jugendliche nachhaltig verstören können. 

Nicht selten versenden Jugendliche selbst Nacktaufnahmen von sich. Die Kriminalstatistik zeigt, dass etwa 40 Prozent der Tatverdächtigen im Bereich der Kinder- und Jugendpornografie selbst minderjährig sind. 

Der Austausch intimer Bilder oder Videos ist durch die hohe Verbreitung von Smartphones unter Jugendlichen einfach und jederzeit möglich. Häufig werden entsprechende Inhalte innerhalb von romantischen Beziehungen geteilt und dienen demnach erst mal einer funktionalen sexuellen Entwicklung im Jugendalter. Kommt es jedoch zum Bruch in der Beziehung, können entsprechende Inhalte beispielsweise aus Rache unmittelbar an ein großes Publikum weiterverbreitet werden. Hier scheint somit eine Sensibilisierung notwendig zu sein, dass auch in vertrauten Beziehungen Vorsicht beim Versenden von intimen Inhalten geboten ist, beziehungsweise gilt es, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Intimität unter Jugendlichen auch auf anderen Wegen oder unter bestimmten festgelegten Bedingungen ausgetauscht werden kann. 

Es ist davon auszugehen, dass strafrechtliche Vergehen regelmäßig stattfinden und zum Teil auch von den Betroffenen selbst unbemerkt bleiben oder aus Scham verschwiegen werden.

Soziale Medien, Chats oder Online-Spiele machen es potenziellen erwachsenen Straftätern besonders einfach, unerkannt Kontakt mit Minderjährigen aufzunehmen. Oft bleibt diese gezielte Anbahnung von sexuellem Missbrauch, auch Cybergrooming genannt, unentdeckt. Wie hoch schätzen Sie das tatsächliche Ausmaß ein?

Insgesamt sind mir nur wenig empirische Daten bekannt, die sich gezielt mit dem Phänomen des Cybergroomings auseinandersetzen. Eine Studie der Psychologin Halina Sklenarova und Kolleg:innen aus dem Jahr 2018 hat gezeigt, dass die meisten der befragten Jugendlichen in Deutschland online sexuelle Kontakte mit anderen Gleichaltrigen pflegen, wobei auch circa ein Fünftel der Befragten angab, bereits online sexuelle Erfahrungen mit einem Erwachsenen gehabt zu haben. Insgesamt sind entsprechende Einschätzungen schwierig, da sich Erwachsene online leicht als Minderjährige tarnen können. Es ist also davon auszugehen, dass entsprechende strafrechtliche Vergehen regelmäßig stattfinden und zum Teil auch von den Betroffenen selbst unbemerkt bleiben oder aus Scham verschwiegen werden. Unabhängig von der Frage, wer die sexuelle Belästigung ausübt, zeigen Daten der JIM-Studie 2024, dass fast ein Drittel der Jugendlichen bereits sexuelle Belästigung online erlebt hat.

Wie gehen junge Menschen mit Hass oder sexueller Belästigung um?

Erstaunlicherweise sind auch empirische Daten zum Umgang Jugendlicher mit Hass und Belästigung im Netz bislang eher rar. Ergebnisse der JIMplus-Studie aus dem Jahr 2022 legen nahe, dass sich ein Großteil der Jugendlichen eher passiv verhält, wenn ihnen online Hass begegnet: Demnach ignorieren sie den Vorfall häufig, oder aber sie blockieren den entsprechenden Absender. Dennoch gaben auch viele Jugendliche an, über entsprechende Vorfälle insbesondere mit ihren Freund:innen, aber auch ihren Eltern zu sprechen. Zur „Gegenrede“ und somit zu einer aktiven Unterstützung der betroffenen Person kommt es dagegen seltener. Trotz dieser ersten Befunde bedarf es weiterer systematischer Forschung, die insbesondere die Reaktion und das Coping-Verhalten von direkt betroffenen Jugendlichen stärker in den Blick nimmt, also wie sie Hass oder sexuelle Belästigung bewältigen. 

Wie kann man Kinder und Jugendliche stärker für die Risiken sensibilisieren, ohne ihnen Angst zu machen?

Zunächst gilt es festzuhalten, dass digitale Medien die alltägliche Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen entscheidend prägen. In der Auseinandersetzung mit Eltern oder anderen Autoritätspersonen sind diese jedoch oftmals Gegenstand von Konflikten oder Verbotsdiskussionen. Insgesamt scheint es daher wichtig zu sein, die positiven wie auch negativen Erfahrungen, die Heranwachsende in ihren digitalen Lebenswelten sammeln, stärker in den Mittelpunkt von Gesprächen und Diskussionen zu rücken. Die Forschung zur elterlichen Medienerziehung hat wiederholt gezeigt, dass gerade ein offener und aktiver Austausch über kindliche Medienerfahrungen dazu beiträgt, dass Kinder stärker von der Mediennutzung profitieren und weniger schädliche Erfahrungen machen, selbst wenn sie gewissen Online-Risiken ausgesetzt sind. Ein entscheidender Faktor kann also sein, offene und wertschätzende Kommunikationsräume zu schaffen, in denen mögliche Risiken mit den Heranwachsenden diskutiert und sie zur Reflexion eigener Erfahrungen angeregt werden. 

 

Eltern oder auch Lehrkräfte müssen nicht unbedingt Expert:innen für sämtliche Online-Spiele oder Ähnliches
sein. Oftmals ist es bereits ausreichend, dem Kind Interesse zu signalisieren.

Viele Lehr- und Fachkräfte und nicht zuletzt die Eltern fühlen sich damit allerdings überfordert. Sie bauen stattdessen auf Jugendschutzfilter.

Die Anwendung von Jugendschutzfiltern ist ein wichtiger und zentraler Bestandteil einer umfangreichen Medienerziehung. Allerdings deuten Daten eher darauf hin, dass dieses leicht anzuwendende technische Monitoring von nur vergleichsweise wenigen Eltern eingesetzt wird und somit hier noch nicht genutztes Potenzial vorliegt. Entsprechende Maßnahmen sollten außerdem im Sinne einer vielfältigen Medienerziehung um andere Ansätze ergänzt werden, beispielsweise offene Gespräche über Medieninhalte. Dabei müssen Eltern oder auch Lehrkräfte nicht unbedingt Expert:innen für sämtliche Online-Spiele oder Ähnliches sein. Oftmals ist es bereits ausreichend, dem Kind Interesse zu signalisieren, sich bestimmte Dinge zeigen und erklären zu lassen und so auch ins Gespräch über Medieninhalte zu kommen. Es ist also nicht zwingend erforderlich, als Eltern über sämtliche Online-Phänomene immer auf dem aktuellsten Stand zu sein – auch wenn es natürlich nicht schadet, sich hin und wieder zu informieren. 


Sie betonen die Rolle von „Digital Literacy“ als Schutzfaktor. Wie lässt sich diese digitale Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen gezielt stärken? 

Das ist eine schwierige Frage, denn bevor wir uns damit beschäftigen können, wie eine digitale Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen gezielt gefördert werden kann, müssen wir zunächst klären, welche Komponenten von Digital Literacy in den heutigen digitalen Medienumgebungen entscheidend sind und ob diese tatsächlich als Schutzfaktoren für eine autonome, kompetente und sozial verantwortliche Mediennutzung fungieren. 

Ihre neuen Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass gerade soziale Kompetenzen wichtig sind, um sich vor Hass, Belästigung und sexueller Gewalt im Netz zu schützen. 

Das stimmt, unsere ersten Forschungsergebnisse zeigen, dass jene Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer höheren sozialen Medienkompetenz Vorfälle von Online-Hass eher meldeten oder negativ kommentierten. Soziale Kompetenzen sind also zum einen wichtig, damit Jugendliche sich selbst online vor negativen Inhalten schützen können. Zum anderen können solche Kompetenzen auch dazu beitragen, dass sich Jugendliche aktiv für den Schutz anderer, beispielsweise von Hass oder Belästigung betroffener Jugendlicher einsetzen. Derzeit beschäftigen wir uns auch intensiv mit dem Thema Algorithmen und der Frage, was einen kompetenten Umgang mit algorithmisch selektierten Inhalten insbesondere im Kontext von sozialen Medien ausmacht. Gerade vor dem Hintergrund, dass Jugendliche einen Großteil ihrer Informationen aus sozialen Medien beziehen, ist diese Forschungsfrage sehr wichtig. Algorithmen steuern, welche Inhalte Jugendliche zu sehen bekommen, und bedingen oftmals eine wiederholte Konfrontation mit sehr ähnlichen Inhalten, wodurch das Risiko von Desinformation oder einer Übersensibilisierung für bestimmte Themenfelder erhöht wird.  

Der Opferschutz im Netz ist bislang vergleichsweise gering. Warum?

Generell macht die schiere Menge an Kommunikationsinhalten online es bislang noch unmöglich, alles zu prüfen und zu moderieren. Hinzu kommen aktuelle Entwicklungen wie in den USA, wo Plattformbetreiber bereits existierende Einrichtungen zur Prüfung und Moderation von Inhalten wieder außer Kraft setzen und somit auch Bestrebungen hin zu mehr Schutz von vulnerablen Gruppen im Internet aktiv unterlaufen. Neben dieser Problematik und den erst anlaufenden technischen Möglichkeiten zur Unterstützung von Opfern im Netz, beispielsweise durch sogenannte Social Bots, liegt ein weiteres Problem auch darin, dass gerade viele Jugendliche bei ihrer Online-Nutzung – positiv formuliert – autonom, – negativ formuliert – auf sich allein gestellt handeln. Relevante Sozialisationskontexte wie Familie oder Schule, die bei anderen Entwicklungsaufgaben durchaus einen zentralen Stellenwert einnehmen, spielen hier oftmals eher eine untergeordnete Rolle. So bleiben negative Erfahrungen möglicherweise unentdeckt, werden ignoriert und nur vergleichsweise selten an das soziale Umfeld gemeldet – gerade, wenn Jugendliche von Beleidigungen und Belästigungen direkt betroffen sind.


Welche konkreten ersten Schritte sind aus Ihrer Sicht nötig, um junge Menschen online besser vor sexueller Belästigung und Gewalt zu schützen?

Fest steht, allein Verbote und Filter schützen Kinder und Jugendliche nicht vor sexualisierter Gewalt im Netz. Generell greifen solche Maßnahmen beim Thema Gewalt zu kurz, da sie auch die digitale Teilhabe von Heranwachsenden limitieren und nicht dazu beitragen, dass ein kompetenter Umgang mit digitalen Medien erlernt werden kann. So besteht beim Online-Dating natürlich die Gefahr, dass es zu Formen von sexueller Belästigung kommt. Andererseits trägt der Austausch von intimen Inhalten auch zu einem selbstbestimmten Umgang Jugendlicher mit Sexualität bei. Entscheidend scheint hier die Förderung eines autonomen und sozial verantwortlichen Umgangs mit digitalen Medienangeboten. Das Ziel einer entsprechenden digitalen Medienkompetenz ist qua Definition nicht nur die Minimierung von schädlichen Effekten, die bei einer Konfrontation mit gewissen Online-Risiken entstehen, sondern auch die Maximierung von positiven Effekten, die sich aus der individuellen Mediennutzung ergeben. Nichtsdestotrotz kann die Verantwortung dafür nicht nur bei den Nutzenden selbst liegen. Vielmehr erfordert die Sicherung der digitalen Teilhabe ein Zusammenspiel einer aktiven elterlichen und schulischen Medienerziehung sowie die technische Unterstützung und Regulation seitens der Plattformen selbst.


Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Birgit Lindner

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2025 von DJI Impulse „Kinder und Jugendliche wirksam schützen - Wie sich Gewalt und Vernachlässigung eindämmen lassen“ (Download PDF).

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