Diskriminierung an der Schwelle zum Berufsleben
Junge Menschen mit Behinderung werden im beruflichen Bildungssystem in Deutschland besonders oft ausgegrenzt und erleben häufiger als Gleichaltrige Mobbing, machen Studien des DJI deutlich. Warum Inklusion mehr Entscheidungsfreiheit und individuelle Unterstützung erfordert.
Von Philipp Reimann und Shih-cheng Lien
Der Übergang von der Schule in den Beruf ist eine prägende Phase im Lebensverlauf junger Menschen. In diesem Zeitraum erfolgen Prozesse der beruflichen Orientierung, Bildung und Beratung, die den Grundstein für die weitere Berufslaufbahn legen (Reißig 2018). Es handelt sich damit um einen sehr anforderungsreichen Lebensabschnitt, in dem allen jungen Menschen dieselben Chancen offenstehen sollten. Umso wichtiger ist es, diese entscheidende Übergangsphase inklusiv zu gestalten (Enggruber u.a. 2021).
Auch wenn berufliche Bildungsprozesse aktuell viel Aufmerksamkeit in der Forschung erhalten, wie der jährlich erscheinende Berufsbildungsbericht zeigt, sind Fragen der Inklusion in diesem Kontext bisher kaum untersucht worden. Das gilt besonders für den Übergangsbereich mit vielfältigen Programmen und Maßnahmen für junge Menschen, die noch keinen vollqualifizierenden Ausbildungsplatz gefunden haben (beispielsweise Oehme, 2017, Blanck, 2020, Nepomyashca 2021). Auch in diesem Sektor des beruflichen Bildungssystems ist es jedoch wichtig, die Perspektiven der subjektorientierten Übergangsforschung stärker zu berücksichtigen, um Diskriminierungen zu vermeiden (Schröer 2013).
Die Klassifikationspraxis im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen kann diskriminierend wirken
Die Ausbildungschancen für Jugendliche hängen unter anderem vom Niveau der vorherigen Schulbildung ab. Vor allem Schulabgänger:innen ohne Hauptschulabschluss, unter denen viele Förderschüler:innen sind, münden überwiegend in den Übergangssektor ein (Bildungsbericht 2022, S. 167). Vor diesem Hintergrund untersuchte das mehr als dreijährige Verbundprojekt der Universität Hildesheim und des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit dem Titel „Inklusion in der beruflichen Bildung. Bildungsteilhabe in regionalen Übergangsstrukturen (InBiT)“ die Gestaltung inklusiver Strukturen. Ein Fokus lag dabei auf der Perspektive junger Menschen mit Behinderung im Übergangssektor. Denn für sie existieren häufig separate sonderpädagogische Strukturen. Durch sie besteht das Risiko, dass diese Jugendlichen dauerhaft vom regulären Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben, da ihnen der Übergang in eine Ausbildung erschwert wird (Blanck 2020, S. 30).
Das ist insbesondere der Fall in den sogenannten Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM). Dort werden in der Regel Menschen mit einer geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung aufgenommen, denen eine volle Erwerbsminderung bescheinigt wird. Ein entsprechendes Gutachten wird im Rahmen einer Reha-Beratung der Agentur für Arbeit erstellt. Arbeitsgrundlage dieser Beratung sind Klassifikationsprozesse des hausinternen ärztlichen Dienstes und weiterer Fachdienste, die im Wesentlichen das Leistungsvermögen, die Belastungsfähigkeit und andere Aspekte beurteilen. Die Barrieren und individuellen Unterstützungsbedarfe, die bei der Teilnahme junger Menschen mit Behinderung an Übergangsangeboten bestehen können, werden jedoch kaum in den Blick genommen. Die Ergebnisse solcher hochgradig standardisierten Begutachtungsverfahren bestimmen maßgeblich, welche Möglichkeiten beziehungsweise Angebote den jungen Menschen vermittelt werden. Im Jahr 2023 waren insgesamt rund 310.000 Menschen mit Behinderung in den WfbM beschäftigt. Davon befanden sich circa 260.000 im Arbeitsbereich und etwa 28.000 zu ihrer beruflichen Bildung im Berufsbildungsbereich (BAG WfbM 2023, S. 42).
Die Integration von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen im Betrieb wird häufig als undurchschaubar empfunden
Die Interviews mit Mitarbeitenden der Arbeitsagenturen im Rahmen des InBiT-Forschungsprojekts geben Hinweise darauf, dass die Aussichten von Menschen mit Behinderung, im Rahmen einer Ausbildung oder Maßnahme in Betriebe vermittelt zu werden, nicht nur mit der Schwere der Beeinträchtigung, sondern auch mit deren Form zusammenhängen (Reimann/Lemke 2024). Die besten Chancen werden tendenziell Menschen mit ausschließlich körperlichen Beeinträchtigungen und uneingeschränkter „kognitiver Leistungsfähigkeit“ zugesprochen. An zweiter Stelle stehen Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung. Die geringsten Aussichten auf Vermittelbarkeit werden Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zugesprochen, da Merkmale wie „Durchhaltevermögen“ oder die Einhaltung einer „Tagesstruktur“ vergleichsweise häufig infrage gestellt werden. Nach Einschätzung der interviewten Mitarbeitenden empfinden Arbeitgeber:innen die Integration von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen im Betrieb nicht selten als undurchschaubar. Sie wissen oft nicht genau, was auf sie zukommt und welche Schritte notwendig sind, um eine erfolgreiche Aufnahme in den Betrieb zu ermöglichen.
Die Verzahnung aus Testverfahren, Klassifizierung, Beratung sowie letztlich der Vermittlung wirkt demnach als eine diskriminierende Praxis, der sich junge Menschen mit Behinderung kaum entziehen können (Reimann/Schmidt/ Ullrich 2025, Ullrich/Wiesner/Metzner 2024). Darauf verweisen auch Ergebnisse einer Studie zu Ausbildungschancen von Förderschüler:innen (Blanck 2020, S. 186). Als diskriminierend ist diese Praxis zu bewerten, weil einseitige Zuordnungen zu Angeboten des Übergangssektors, ohne individuelle berufliche Aspirationen zu berücksichtigen, nicht mit einer bedarfsgerechten oder passgenauen Besetzung von Ausbildungsplätzen gleichgesetzt werden können. Junge Menschen mit Behinderungen haben eben oftmals nicht, wie andere Gleichaltrige ohne Behinderung, die Möglichkeit, das zu tun, was sie ursprünglich möchten. Stattdessen zielt die Klaviatur aus Testverfahren, Klassifizierung, Beratung und Vermittlung darauf ab, sie im Übergangssektor in vorgehaltene Angebote im Rahmen von Parallelstrukturen zu platzieren. Parallelstrukturen sind im Sinne einer gleichberechtigten Teilhabe deshalb nicht inklusiv, weil sie die Teilhabe- und beruflichen Entscheidungsmöglichkeiten junger Menschen begrenzen.
Im Übergangssektor ist Mobbing weitverbreitet – und bleibt oft unbemerkt
Auch abseits der ausgrenzenden Parallelstrukturen ist der Übergangssektor von diskriminierenden Beziehungen gekennzeichnet. Die InBiT-Online-Befragung, an der junge Menschen mit und ohne Behinderung im Übergangssektor teilnahmen, weist darauf hin, dass Mobbing durch andere Teilnehmende in Übergangsangeboten weitverbreitet ist. Auch einige der interviewten jungen Menschen erzählten von einschneidenden Erfahrungen mit Mobbing in Übergangsangeboten, insbesondere in Berufsschulen. Mobbing in berufsbildenden Schulen ist kein neues Phänomen und kann verschiedene Formen aufweisen. Junge Menschen werden unter anderem auf dem Schulgelände von Mitschüler:innen bedroht, geschlagen oder verspottet. Auch spielen dabei digitale Medien eine bedeutende Rolle (Mögling u.a. 2018).
Obwohl Mobbing schwerwiegende negative Folgen für die Betroffenen haben kann (Moore u.a. 2017), ist dessen Bekämpfung oft erschwert. Wie aus den aktuellen Interviews mit jungen Menschen am Übergang hervorgeht, wird Mobbing oft weder von Fachkräften beobachtet noch von Betroffenen oder Zeug:innen gemeldet. Es wird also weder aufgedeckt noch geahndet. Und selbst wenn Mobbingvorfälle offengelegt werden, gelingt es Lehrkräften oder der Schulleitung häufig nicht, diesen dauerhaft entgegenzuwirken. Auch kommt es den Interviews zufolge vor, dass manche Vertrauenspersonen die Ängste und die Gefährdung von Schüler:innen nicht ernst genug nehmen und dadurch eine weitere Ausgrenzung befördern.
Wie eine Datenauswertung des DJI-Surveys „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“, kurz AID:A, ergibt, sind unter jungen Menschen im Alter zwischen 12 und 21 Jahren Personen mit Behinderung in ihrem Lebensalltag deutlich häufiger von Mobbing betroffen als die Vergleichsgruppe ohne Behinderung (Lien/Hasenbein 2025). Dieser Befund verweist auf einen hohen Präventionsbedarf zum Schutz junger Menschen mit Behinderung im (Aus-)Bildungsbereich.
Bildungsbarrieren abbauen und wirksame Schutzkonzepte etablieren
Die aktuellen Studienergebnisse des DJI machen deutlich, dass Diskriminierung an der Schwelle zwischen Schule und Beruf ein bedeutsames Thema darstellt – insbesondere für junge Menschen mit Behinderung. Um strukturellen Benachteiligungen entgegenzuwirken, ist der Abbau von Bildungsbarrieren in Organisationen am Übergang in die berufliche Bildung wesentlich (Lemke u.a. 2024). Jungen Menschen sollten freie Entscheidungsmöglichkeiten geboten werden, auch um einen einmal eingeschlagenen Bildungspfad wieder verlassen oder um beispielsweise Übergangsmaßnahmen wieder abbrechen zu können. Dabei geht es vordergründig um die Berücksichtigung von beruflichen Aspirationen junger Menschen und die Frage, wie sie dabei unterstützt werden können, diese umzusetzen. Insbesondere die bestehenden Klassifizierungsprozesse in der Vermittlung junger Menschen mit Behinderung sollten zurückgebaut werden, mit dem Ziel, den Zugang zu Bildung und Arbeit inklusiv zu öffnen. Zum Abbau bestehender Bildungsbarrieren gehört aber auch, Menschen mit Behinderung vor Gewalt zu schützen, beispielsweise mithilfe von Schutzkonzepten in den Institutionen am Übergang zwischen Schule und Beruf. Erfahren junge Menschen Mobbing, fühlen sie sich nur dann unterstützt, wenn Fachkräfte handeln und die Anfeindungen aufhören.
Junge Menschen auf dem Weg in den Beruf individell und vorbehaltslos unterstützen
Vermutlich wird die Entwicklung immer wieder neuer (pauschaler) Übergangsmaßnahmen, -angebote oder -programme nicht ausreichen, um Diskriminierung beim Start ins Berufsleben zu vermeiden. Stattdessen geht es darum, institutionelle Regelungen und Selbstverpflichtungen zum Schutz vor Diskriminierung zu implementieren und gleichzeitig die Begleitung junger Menschen individuell zu gestalten sowie ihre Interessen und ihren Unterstützungsbedarf in dieser Lebensphase stärker als bisher gezielt zu berücksichtigen. Diese individuelle Unterstützung kann beispielsweise in Form einer Übergangsassistenz erfolgen, wie im bereits bewährten Konzept der „Unterstützten Beschäftigung“ (Arbeitsassistenz), das sich an Menschen mit Behinderung richtet. Das Konzept dient dazu, Menschen mit Behinderung dabei zu unterstützen, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dabei erfolgt von Beginn an eine individuelle Qualifizierung und Berufsbegleitung im Betrieb. Inklusion bedeutet in diesem Zusammenhang, junge Menschen als aktive Gestalter:innen ihres Übergangs von der Schule in den Beruf zu begreifen, ihre Bedarfe entsprechend anzuerkennen und sie vorbehaltlos dabei zu unterstützen, diese umzusetzen.
Autor:Innengruppe Bildungsbericht (2022): Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal. Bielefeld
Bag WfbM (2023): Jahresbericht der BAG WfbM 2023. Berlin
Blanck, Jonna M. (2020): Übergänge nach der Schule als „zweite Chance“? Eine quantitative und qualitative Analyse der Ausbildungschancen von Schülerinnen und Schülern aus Förderschulen „Lernen“. Weinheim
Enggruber, Ruth u.a. (2021): Übergang zwischen Schule und Beruf neu denken: Für ein inklusives Ausbildungssystem aus menschenrechtlicher Perspektive. Expertise im Auftrag des Paritätischen Gesamtverbandes. Berlin: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband
Lemke, Vera u.a. (2024): Inklusion am Übergang Schule – Beruf. Aus Perspektive junger Menschen Barrieren abbauen und Experimentierräume für alle schaffen. Eine Praxisbroschüre. Hildesheim
Lien, Shih-Cheng / Hasenbein, Lisa (2025): Alltagswelten von Jugendlichen mit Behinderung. In: Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis, 70. Jg, H. 1, S. 5–10
Mögling, Tatjana / Tillmann, Frank / Wisniewski, Anna (2018): Mobbing an beruflichen Schulen: Ein Praxishandbuch zu Präventions- und Interventionsansätzen. Basel
Moore, Sophie E. u.a. (2017): Consequences of bullying victimization in childhood and adolescence: A systematic review and meta-analysis. In: World Journal of Psychiatry, Jg. 7, H. 1, S. 60–76
Nepomyashcha, Yuliya (2021): Schulisch-berufliche Übergänge im Kontext von Inklusion. Studie zu Unterstützungsstrategien für förderbedürftige junge Menschen. Bielefeld
Oehme, Andreas (2017): Inclusiveness als regionale Strukturqualität – eine empirische Untersuchung zu Übergängen zwischen Schule, Ausbildung und Arbeitswelt in Regionen. In: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 12 (1), S. 19–34
Reimann, Philipp / Lemke, Vera (2024): „Ich kann nicht jedem alles anbieten.“ Inklusionsbestrebungen in Reha-Teams der Bundesagentur für Arbeit. In: Buck, Pia/Ixmeier, Sebastian/Münk, Dieter (Hrsg.): Chancen für Alle durch (berufliche) Bildung: Inklusion und Teilhabe für Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung. Bielefeld. S. 51–65
Reimann, Philipp / Schmidt, Kristina / Ullrich, Stephan (2025, im Erscheinen): Differenzherstellung am Übergang Schule – Beruf. Eine relationale Perspektive auf Barrieren und Unterstützungsfaktoren in der beruflichen Bildung. In: Autor:innengruppe des Metavorhaben ABIBA | Meta – Abbau von Bildungsbarrieren
Reissig, Birgit (2018): Übergänge in die Arbeitswelt und soziale Ungleichheit. Neue Normalitäten und alte Barrieren. In: Sozial extra, 42 Jg., H. 3, S. 46–49
Schröer, Wolfgang u.a. (Hrsg.) (2013): Handbuch Übergänge. Weinheim
Ullrich, Stephan / Wiesner, Tina / Metzner, Katharina (2024): Inclusiveness am Übergang Schule – Beruf. Erste Befunde aus dem Forschungsprojekt InBiT – Inklusion in der beruflichen Bildung. In: Ixmeier, Sebastian/Buck, Pia/Münk, Dieter (Hrsg.): Chancen für Alle durch (berufliche) Bildung. Inklusion und Teilhabe für Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung. Bielefeld, S. 33–49

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2025 von DJI Impulse „Aufwachsen in Vielfalt – Wie gelingt in einer Realität voller Unterschiede mehr Chancengleichheit?“ (Download PDF).