Mehr als Schutz vor Diskriminierung – queeres Leben möglich machen
Diskriminierungsfreies Aufwachsen bedeutet nicht nur Schutz vor Ausgrenzung, sondern erfordert ein gesellschaftliches Klima, in dem queere Jugendliche sich selbst entfalten können und als Bereicherung wahrgenommen werden.
Von Emmie Mika Stemmer
Queere Jugendliche und junge Erwachsene sind junge Menschen, die lesbisch, schwul, bi+sexuell, trans, inter* und/oder queer sind beziehungsweise keine oder andere Worte für ihre vielfältigen Identitäten nutzen (siehe auch Glossar, S. 32). Im Diskurs zu queeren Lebensrealitäten steht häufig Diskriminierung im Fokus – und das nicht ganz ohne Grund. Trotz gestiegener Akzeptanz und Sichtbarkeit (Krell/Oldemeier 2015, Jones 2024) zeigen Studien, dass queere junge Menschen häufig dennoch Ablehnung erfahren, sei es in Familie, Schule, im öffentlichen Raum oder durch strukturelle Diskriminierung (European Union Agency for Fundamental Rights 2020).
Die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen ist wichtig, denn queere Personen sind eine Gruppe, die weiterhin vulnerabel ist und die durch gesellschaftliche, queerfeindliche Strukturen vulnerabel gemacht wird. Doch Queerness darf nicht nur als Belastung oder Risiko betrachtet werden, denn eine reine Problemfokussierung übersieht bestärkende Aspekte queeren Lebens. Es gilt, Ressourcen und Schutzfaktoren in den Fokus zu rücken, die queere Jugendliche stärken – ohne Diskriminierungserfahrungen zu vernachlässigen.
Glossar: Queer, trans, cis – wichtige Begriffe kurz erklärt
Queer ist ein Sammelbegriff für alle nicht heterosexuellen und/oder nicht cisgeschlechtlichen Identitäten, wird aber teilweise auch als individuelles Label benutzt. Die Erfahrungen queerer Jugendlicher sind vielfältig und unterscheiden sich stark voneinander, etwa zwischen lesbischen, schwulen oder bi+sexuellen Personen und trans oder nicht binären Jugendlichen. Dennoch teilen queere junge Menschen
einige gemeinsame Herausforderungen, die sie von cis-heterosexuellen Gleichaltrigen unterscheiden.
Queerfeindlichkeit bezeichnet die spezifische Form von Diskriminierung von Menschen, die Teil der queeren Communitys sind oder denen dies zugeschrieben wird. Das können Vorurteile oder Ausgrenzungen sein, aber auch Gewalterfahrungen oder Hasskriminalität.
Trans Personen identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, das ihnen bei ihrer Geburt zugewiesen wurde. Sie identifizieren sich teilweise mit einem anderen binären Geschlecht (trans Männer/trans Frauen), abseits oder zwischen diesen binären Geschlechtern (zum Beispiel nicht binär, genderfluid) oder beschreiben keine eigene Geschlechtsidentität (agender).
Cis Personen identifizieren sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Inter* Personen sind Personen, bei denen die körperlichen Geschlechtsmerkmale (unter anderem Geschlechtsorgane, Chromosomen, Hormonhaushalt) nicht den medizinisch etablierten ausschließlich weiblichen oder männlichen Erscheinungsformen entsprechen.
Queerfeindlichkeit ist weitverbreitet – und belastet die Betroffenen
Eine aktuelle qualitative Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) zeigt anschaulich die Lebenssituation von trans und nicht binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland auf: Queerfeindlichkeit begegnet jungen Queers aktuellen Forschungsdaten zufolge sehr häufig: Laut einer Studie in Bayern haben rund 90 Prozent der befragten queeren Jugendlichen bereits Diskriminierung erlebt – trans und nicht binäre Jugendliche in noch höherem Maße als ihre cisgeschlechtlichen, queeren Gleichaltrigen (Heiligers u.a. 2023). Auch deutschlandweite Studien bestätigen dies. Die Coming-out- Studie des DJI zeigte, dass Diskriminierung dabei in verschiedenen Kontexten auftritt. Am häufigsten in Schule und familiärem Umfeld, aber auch im Gesundheitswesen und im öffentlichen Raum findet sich queerfeindliche Gewalt (Krell/ Oldemeier 2015).
Die Folgen solcher Erfahrungen können gravierend sein: Wissenschaftliche Untersuchungen belegen für queere Jugendliche ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen und Suizidalität (Poteat u.a. 2011). Auch sonstige körperliche Erkrankungen und Einsamkeit treten bei ihnen überdurchschnittlich häufig auf (Berngruber/ Hasenbein/Steiner 2024, Kasprowski u.a. 2021). Aus Angst vor Ausgrenzung und Gewalt verschweigen queere Personen teilweise ihre Identität, etwa im Beruf oder in der Familie (European Union Agency for Fundamental Rights 2020) – ebenfalls eine psychische Belastung, die sich negativ auf das allgemeine Wohlbefinden auswirken kann (Meyer 2013).
Die strukturelle Dimension der Diskriminierung spielt dabei eine entscheidende Rolle: Wenn Schulen, Jugendhilfe oder das Gesundheitssystem nicht auf die spezifischen Bedarfe queerer Jugendlicher eingehen oder unsensibel agieren, sind sie keine sicheren Orte, in denen betreffende Jugendliche sich frei entfalten können. Erfahrungen von Ausschluss oder fehlender Unterstützung können queere Jugendliche davon abhalten, Hilfe zu suchen (Biele Mefebue/ Jäntschi/Müller 2020).
Queere junge Menschen erleben jedoch nicht nur Belastung und Gewalt – viele von ihnen entwickeln Strategien, um mit den Herausforderungen umzugehen und dennoch positiv besetzte Identitäten zu bilden. Studien zeigen, dass queere junge Menschen trotz oder gerade wegen gesellschaftlicher Marginalisierung – oder auch ganz unabhängig davon – Ressourcen wie etwa ein positives queeres Selbstverständnis, eine ausgeprägte Selbstreflexivität oder starke, unterstützende soziale Netzwerke aufbauen und auf diese zurückgreifen können (Gavranić/Stemmer 2024).
Es gilt, queere Jugendliche zu stärken
Damit queere Jugendliche sich entfalten können, braucht es Räume, in denen sie sich ohne Angst entwickeln und als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft erleben können. Dazu gehören unter anderem queere Jugendgruppen innerhalb und außerhalb der Schule sowie Beratungsangebote und eine Gesundheitsversorgung, die nicht nur zugänglich, sondern auch queersensibel ist. Rechtliche und medizinische Selbstbestimmung, die vor allem trans und nicht binären Jugendlichen ein sicheres Aufwachsen ermöglichen, sind besonders wichtig (ebd., Stemmer u.a. 2024). Soziale Ressourcen, wie queere Netzwerke und Safe Spaces, bieten wesentlichen Rückhalt und sind Orte von Austausch und Unterstützung. Egal ob im analogen beziehungsweise digitalen Alltag oder in medialen Darstellungen: realistische Vorbilder und Botschaften wie „Ich bin nicht allein“ und „Ich gehöre dazu“ können jungen queeren Menschen helfen, mit schwierigen Situationen und Gefühlen umzugehen, ein positives Selbstbild zu entwickeln und sich selbst zu finden. Daneben spielt auch die individuelle Entwicklung eine zentrale Rolle. Selbstreflexion und Selbstwirksamkeitserfahrungen, etwa durch soziales oder politisches Engagement, fördern eine starke queere Identität (ebd.).
Wie sehr queere Jugendliche zwischen belastenden und bestärkenden Erfahrungen schwanken, zeigt sich auch in persönlichen Erzählungen der qualitativen DJI-Studie:
Queerness als Quelle von Zugehörigkeit und Freude sichtbar machen
Queere Jugendliche brauchen mehr als nur Schutz – sie brauchen ein Umfeld, in dem sie sich frei entfalten können und in dem sie aktive und selbstbestimmte Gestalter:innen ihrer Lebenswelt sein können. Der Schutz vor Diskriminierung umfasst folglich mehr als den Abbau queerfeindlicher Strukturen: Er bedeutet auch, Räume und Bedingungen zu schaffen, in denen queere Identität ermöglicht und positiv sichtbar ist. Ein diskriminierungsfreies Aufwachsen bedeutet damit nicht nur Schutz vor Ausgrenzung, sondern auch die Möglichkeit, Queerness als Bereicherung und Quelle von Stolz, Zugehörigkeit und Freude zu erleben.
Berngruber, Anne / Hasenbein, Lisa / Steiner, Christine (2024): Sozial eingebunden, trotzdem einsam? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 74. Jg., H. 52, S. 24–30
Biele Mefebue, Astrid / Jäntschi, Katharina / Müller, Doreen (2020): Teilhabe für alle! In: deutsche jugend, H. 2, S. 66–73
European Union Agency For Fundamental Rights (FRA) (2020): A long way to go for LGBTI equality. Luxembourg
Gavranić, Maria / Stemmer, Emmie Mika (2024): Was macht junge Queers stark? Aktueller Forschungsstand zu Ressourcen von LSBTIQ+ Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München/Halle
Heiligers, Nain u.a. (2023): „How are you?“ Die Lebenssituation von LSBTIQA* Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bayern. Zusammenfassung. Bayerischer Jugendring (Hrsg.). München
Jones, Jeffrey M. (2024): LGBTQ+ Identification in U.S. Now at 7.6%. In: Gallup, 13.03.2024. https://news.gallup.com/poll/611864/ lgbtq-identification.aspx (22.05.2025).
Kasprowski, David u.a. (2021): Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen (DIW Wochenbericht). Berlin
Krell, Claudia / Oldemeier, Kerstin (2015): Coming-out – und dann …?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen. München
Meyer, Ilan H. (2013): Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: Conceptual issues and research evidence. In: Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity, 1. Jg., H. 5, S. 3–26
Poteat, V. Paul u.a. (2011): The effects of general and homophobic victimization on adolescents’ psychosocial and educational concerns: the importance of intersecting identities and parent support. In: Journal of counseling psychology, 58. Jg., H. 4, S. 597–609
Stemmer, Emmie Mika u.a. (2024): Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Zur Lebenssituation von trans und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. München

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2025 von DJI Impulse „Aufwachsen in Vielfalt – Wie gelingt in einer Realität voller Unterschiede mehr Chancengleichheit?“ (Download PDF).