Kinder und Jugendliche stark machen
Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz schafft wichtige Voraussetzungen, um auch in Zukunft das Aufwachsen junger Menschen institutionell zu begleiten und zu unterstützen. Doch die rechtliche Reform der Kinder- und Jugendhilfe ist erst der Anfang. Für Politik, Praxis und Wissenschaft bleibt viel zu tun
Von Jens Pothmann
In einem Interview im Sozialmagazin stellte Thomas Rauschenbach 2021 rückblickend fest: „Es stimmt, die Kinder- und Jugendhilfe musste sich immer wieder mit neuen Situationen beschäftigen, seien es die neuen gesetzlichen Grundlagen und die Folgen der deutschen Einheit in den 1990er-Jahren, seien es die verschiedenen Perioden der Zuwanderung der letzten Jahrzehnte und die damit einhergehenden Herausforderungen der sozialen Integration, seien es die Anforderungen einer inklusiven Gesellschaft“ (Böwer/Rauschenbach 2021). Die Kinder- und Jugendhilfe ist dabei in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur gewachsen, sondern hat durch notwendige Ausdifferenzierungen eine beachtliche Breite und Vielfalt erreicht. Wie aber wird sich die Kinder- und Jugendhilfe in den nächsten Jahren weiterentwickeln, welche thematischen Schwerpunkte werden gesetzt, und welche Herausforderungen ergeben sich für die Forschung?
Die gesellschaftliche Bedeutung der Kinder- und Jugendhilfe nimmt zu
Die Kinder- und Jugendhilfe als sozialstaatlich regulierte soziale Infrastruktur für junge Menschen und ihre Familien expandiert und differenziert sich aus (Böllert 2018). Dies galt für die vergangenen Jahrzehnte, ist aktuell zu beobachten, und es spricht viel dafür, dass sich das auch in den nächsten Jahren weiter fortsetzen wird, sofern nicht insbesondere infolge der Coronapandemie fiskalische Argumente in den politischen Arenen dominieren werden. Die gesellschaftliche Notwendigkeit aber, das Aufwachsen junger Menschen institutionell zu begleiten und zu unterstützen sowie selbstbestimmte Lebensentwürfe und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, wird weiterhin hoch bleiben.
In den 2010er-Jahren hat dieser Bedarf zu einem erheblichen Ressourcenwachstum für die Kinder- und Jugendhilfe geführt. So haben sich allein die finanziellen Aufwendungen der öffentlichen Gebietskörperschaften, insbesondere der Kommunen, bis zum Jahr 2019 laut Zahlen der amtlichen Statistik auf 54,9 Milliarden Euro erhöht – ein mehr als doppelt so hohes Ausgabenvolumen im Vergleich zum Jahr 2009 mit damals 26,2 Milliarden Euro (Olszenka/Meiner-Teubner 2021). Die Jugendämter sowie die überwiegend gemeinnützigen, zivilgesellschaftlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe stellen auf dieser fiskalischen Grundlage einerseits Betreuungs-, Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche bereit, andererseits bieten sie auch gezielte Unterstützung für Familien sowie Schutz für Kinder und Jugendliche in Notsituationen.
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Die Kinder- und Jugendhilfe hat in diesem Zeitraum an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Mit der Ausweitung der öffentlichen Verantwortung für das Aufwachsen junger Menschen (Deutscher Bundestag 2013) geht einher, dass die Kinder- und Jugendhilfe nach wie vor Antworten finden muss auf die sich ausdifferenzierenden Biografie-, Sozialisations- und Erwerbsverläufe sowie auf die sich verändernden Familienstrukturen. Für die Arbeits- und Handlungsfelder sind Anpassungsleistungen an die sich verändernden Rahmenbedingungen notwendig, beispielsweise mit Blick auf Organisationsformen und Prozessabläufe oder auch konzeptionelle Ansätze. Nicht selten führen diese Entwicklungen zu Unübersichtlichkeiten, und zwar sowohl innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe als auch in der Außenwahrnehmung.
Trotz der SARS-CoV-2-Pandemie, der in diesem Zusammenhang ergriffenen Maßnahmen zur Einschränkung sozialer Kontakte sowie der daraus resultierenden Entwicklungen einer Responsibilisierung der Familien für Bildung, Erziehung, Förderung und Sorge (Richter 2020) ist für die aktuelle Dekade nicht von einem Bedeutungsverlust der Kinder- und Jugendhilfe auszugehen. Vielmehr wird die öffentliche Verantwortung für das Aufwachsen junger Menschen bedeutend bleiben. Dies zeigt sich beispielsweise durch das Vorhaben, ganztätige Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsangebote bis in Grundschulalter weiter auszubauen. Hierüber sollen zukünftig auch die Arbeits- und Kooperationsbezüge von Jugendhilfe und Schule gestärkt werden. Offen scheint derzeit noch die Frage, welche Bedeutung dabei der pädagogischen und strukturellen Qualitätsentwicklung zukommen wird.
Gesetzesreform setzt Impulse für Kinderschutz, Inklusion und Mitsprache
Entscheidende Impulse für die Kinder- und Jugendhilfe der 2020er-Jahre werden von einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen erwartet: dem kürzlich in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) im Juni 2021. Dadurch wurden Schwerpunkte für die nächsten Jahre gesetzt (Deutscher Bundestag 2021), insbesondere bei der Weiterentwicklung des institutionellen Kinderschutzes sowie der inklusiven Ausgestaltung der Infrastruktur- und Regelangebote der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch – in zeitlichen Etappen bis 2024 bzw. 2028 – bei der Organisation und Durchführung von Einzelfallhilfen.
Zudem verlangt das neue Gesetz Verbesserungen für junge Menschen, die außerhalb ihrer Herkunftsfamilie in Pflegefamilien und in der Heimerziehung aufwachsen, einschließlich der Gruppe der Care Leaver. Und nicht zuletzt fordert das Gesetz die Ausgestaltung sozialräumlicher Angebotsstrukturen, die Ausweitung von Beteiligungsmöglichkeiten sowie eine Stärkung von Beratungs- und Beschwerderechten für junge Menschen.
Mit dem KJSG wird sich aller Voraussicht nach einmal mehr zeigen, dass Veränderungen der rechtlichen Grundlagen ein entscheidender Auslöser für Entwicklungen und damit auch für Fortschritte in der Kinder- und Jugendhilfe sein können (Rauschenbach 2004). Allerdings bleibt abzuwarten, in welcher Qualität die Gesetzesänderungen und -ergänzungen insbesondere vor Ort umgesetzt werden und welche regionalen Disparitäten dadurch entstehen.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Impulsgeber für die Kinder- und Jugendhilfe sind die Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung. Die unabhängige Sachverständigenkommission des zuletzt erschienenen 16. Kinder- und Jugendberichts hat sich nicht nur ausführlich mit den Themen Demokratieförderung und Demokratiebildung auseinandergesetzt, sondern diese zentralen Aspekte gesellschaftlichen Zusammenlebens auch in der Öffentlichkeit profiliert. Die Kommission hat dabei die Notwendigkeit herausgearbeitet, verlässliche und dauerhafte Rahmenbedingungen für Programme und Angebote in Bereichen der Demokratieförderung, Vielfaltsgestaltung und Extremismusprävention zu schaffen. Zudem werden Überlegungen für ein zukünftiges Demokratiefördergesetz angestellt (Deutscher Bundestag 2020). Es bleibt abzuwarten, wie nachhaltig die formulierten Empfehlungen für Arbeitsfelder der Kinder- und Jugendhilfe sein werden: etwa der Kinder- und Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit, der Kindertagesbetreuung oder der außerunterrichtlichen Ganztagsbildung an Schulen.
Kinder- und Jugendhilfeforschung liefert notwendiges Orientierungswissen
Die skizzierten zentralen Entwicklungen für die Kinder- und Jugendhilfe sind nicht nur mit vielfältigen Herausforderungen für Politikgestaltung und Praxisentwicklung insbesondere auf der kommunalen Ebene verbunden, sondern auch die Forschung wird hierbei gefordert sein. Sie wird in den kommenden Jahren den Blick auf die verschiedenen Arbeits- und Handlungsfelder und auf deren Fachkräfte, Organisationen und Adressaten im Horizont individueller Lebenslagen und Bewältigungsformen junger Menschen immer wieder (neu) schärfen müssen.
Damit ist ein breites Spektrum an Forschungsthemen verbunden, beispielsweise im Bereich der non-formalen und informellen Bildung, der Ausgestaltung einer vielfaltssensiblen Pädagogik sowie der Umsetzung einer inklusiven Öffnung von Institutionen. Die Forschenden werden sich zudem vermehrt mit einer Digitalisierung der Lebenswelten und deren institutionellen Bezügen beschäftigen müssen oder nicht zuletzt auch weiterhin mit den konkreten Beurteilungskriterien für das Erkennen und Einschätzen akuter Kindeswohlgefährdungen. Und zumindest für die nächsten Jahre wird sich die Kinder- und Jugendhilfeforschung weiter mit den Auswirkungen der Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens während der anhaltenden Coronapandemie auseinandersetzen müssen.
Vor diesem Hintergrund wäre es wünschenswert, wenn die Intensität und Breite empirischer Kinder- und Jugendhilfeforschung genauso weiter zunimmt wie die Etablierung und Anerkennung einzelner Forschungsaktivitäten und -formate. Die Ergebnisse der Kinder- und Jugendhilfeforschung werden auch in den 2020er-Jahren in Anlehnung an die Überlegungen von Karin Böllert und Werner Thole (2013) Beiträge für ein besseres Verständnis einschlägiger Praxiskontexte leisten, werden notwendig für Theoriebildung und vergewisserung bezüglich des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft sein und weiterhin wichtige Erkenntnisse für Handlungs- und Erklärungswissen zur Verfügung stellen.
Böllert, Karin (2018): Einleitung: Kinder- und Jugendhilfe – Entwicklungen und Herausforderungen einer unübersichtlichen sozialen Infrastruktur. In: Böllert, Karin (Hrsg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden, S. 3–62
Böllert, Karin / Thole, Werner (2013): Zur theoretischen Architektur Sozialer Arbeit – zwischen disziplinaren Grenzüberschreitungen und -markierungen. In: Soziale Passagen, 2/2013, S. 195–210
Böwer, Michael / Rauschenbach, Thomas (2021): „Die Soziale Arbeit war lange Zeit nicht forschungsaffin“ – aber das hat sich deutlich geändert! Ein Interview. In: Sozialmagazin, H. 3–4, S. 89–96
Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Bundestagsdrucksache 17/12200. Berlin
Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2020): 16. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Bundestagsdrucksache 19/24200. Berlin
Olszenka, Ninja / Meiner-Teubner, Christiane (2021): Erneuter Höchstwert – Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe weiter gestiegen. In: KomDat Jugendhilfe, 24 (1), S. 1–5.
Rauschenbach, Thomas (2004): Das Recht – Schubkraft der Sozialen Arbeit? In: Kreft, Dieter/Mielenz, Ingrid/Trauernicht, Gitta/Jordan, Erwin (Hrsg.): Fortschritt durch Recht. Festschrift für Johannes Münder. München, S. 95–116.
Richter, Martina (2020): (Un-)Sichtbare familiale Realitäten in der Corona-Pandemie. In: Böhmer, Anselm (Hrsg.): Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. (aufgerufen am 31.08.2020 unter: https://sozpaed-corona.de/un-sichtbare-familiale-realitaeten-in-der-corona-pandemie/)

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2021 von DJI Impulse „Familie, Kindheit, Jugend 2030 – Lösungsansätze für eine lebenswerte Zukunft“ (Download PDF).