Wissenschaftliche Politikberatung: differenzierter, schneller, flexibler
Die Surveys des Deutschen Jugendinstituts liefern der Politik Informationen über die Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und Eltern. Erhebungstechniken sowie Auswertungs- und Aufbereitungsroutinen entwickeln sich rasant weiter und profitieren von der Digitalisierung.
Von Susanne Kuger
Die Sozial- und Bildungsberichterstattung versteht sich selbst als wissenschaftliche und unabhängige Informationsinstanz. Sie richtet ihren Blick auf gesellschaftlich oder politisch relevante Themen, identifiziert berichtsrelevante Aspekte, untermauert eine Konstruktdefinition theoretisch und nutzt aktuelle, repräsentative Daten, um eine Situationsbeschreibung abzugeben. Dabei wird einerseits eine Deskription des zu beschreibenden Phänomens vorgenommen, andererseits werden, wenn möglich, theoretisch angenommene Ursachen, relevante Mechanismen und Einflussfaktoren sowie potenzielle Konsequenzen oder Ergebnisse in Zusammenhang gebracht. Mit diesem Selbstverständnis möchte die Sozial- und Bildungsberichterstattung Entscheidungsträgern Informationen an die Hand geben, mithilfe derer Entscheidungsvorlagen vorbereitet, Handlungsalternativen abgewogen, Umsetzungen begleitend beobachtet und abschließend bewertend eingeordnet werden können. All dies geschieht ganz im Sinne des Soziologen Max Weber: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur was er kann und – unter Umständen – was er will“ (Weber 1904).
Wie dieses mehr als 100 Jahre alte Zitat zeigt, ist das Ansinnen der Sozial- und Bildungsberichterstattung damit nichts Neues. Im Gegenteil existiert der entsprechende Anspruch an empirische Sozialwissenschaften schon seit einem ganzen Jahrhundert. Sozial- und Bildungsberichterstattung muss sich jedoch aufgrund der schnellen Veränderungen des Berichtsgegenstands (des Sozialwesens, der Gesellschaft und des Bildungswesens) sowie aufgrund neuer Entwicklungen in den Erfassungsmethoden, der Informationsverarbeitung und der Berichtsformate stetig weiterentwickeln. Globale Megatrends des 21. Jahrhunderts (Globalisierung, Urbanisierung, Mobilität, Individualisierung und Digitalisierung) beeinflussen auch die Sozial- und Bildungsberichterstattung – wobei die Coronapandemie manche Trends be-, andere entschleunigt hat. Und eines verdeutlichte sie ganz besonders: den immensen Stellenwert von verlässlichen, aktuellen, transparenten und verständlich aufbereiteten empirischen Daten (Lenz/Hubmann 2020).
Das Deutsche Jugendinstitut setzt Impulse für wichtige Entwicklungen in der Sozial- und Bildungsberichterstattung
Als Resultat aktueller Trends differenzieren sich Lebensformen und -wege stärker aus, die Vielfalt der Gestaltungs- und Wahlmöglichkeiten nimmt regional zu oder ab – und vor allem erhöhen sich die Geschwindigkeit von Kommunikation und die Verfügbarkeit von Information. Sozial- und Bildungsberichterstattung muss daher zukünftig noch stärker ihre oben definierten Ziele und Vorgehensweisen kontextualisieren und regionalisieren sowie, bei gleichbleibender Berichtsqualität, an Geschwindigkeit und Flexibilität zulegen. Die während der Zeit von Thomas Rauschenbach als Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI) etablierte Sozial- und Bildungsberichterstattung folgt diesen Trends schon seit vielen Jahren und ist darüber hinaus, wie die folgenden Beispiele zeigen, Impulsgeberin für wichtige Entwicklungen im Berichtswesen.
Vor allem mit dem integrierten DJI-Survey „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“, kurz AID:A, liefert das Forschungsinstitut regelmäßig aktuelle und qualitativ hochwertige Daten zu den Lebenswelten und der Lebensführung von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Familien. Daraus lassen sich Informationen zur Situationsbeschreibung ableiten, wie zum Beispiel im neuen Sammelband zu ersten Befunden aus AID:A 2019 (Kuger/Walper/Rauschenbach 2021). Darüber hinaus ist – bei entsprechender Modellierung – auch die Entwicklung von Erklärungswissen zu für das Aufwachsen relevanten Prozessen und Mechanismen sowie zu Ursachen und Konsequenzen möglich. So können durch die Auswertungen der AID:A-Längsschnittdaten Kinder und Jugendliche anhand ihres Freizeitverhaltens verschiedenen zeitstabilen und -instabilen Typen zugeordnet werden, die mit Hintergrundmerkmalen der Zielpersonen korrespondieren (Gniewosz u.a. 2018). Die Autorinnen identifizieren zwischen mittlerer Kindheit und Jugendalter die Typen „stabil bildungsorientiert“, „stabil medienorientiert“, „stabil aktiv“, „Wechseltyp zu Bildung“ und „Wechseltyp zu Medien“ und finden dabei wichtige Zusammenhänge mit individuellen und herkunftsbezogenen Merkmalen der Zielpersonen und deren Selbstwirksamkeit.
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AID:A belegt die Komplexität der Lebenslagen junger Menschen
Ein weiteres Beispiel betrachtet die wechselseitigen Abhängigkeiten der Entwicklung politischer Einstellungen und des ehrenamtlichen Engagements von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (Kuger/Gille 2020). Es zeigen sich ungleiche und unstete Entwicklungsverläufe sowie relevante Zusammenhänge: Personen mit stärker ausgeprägten politischen Einstellungen (höhere Wichtigkeit des Lebensbereichs und höheres Interesse) im Jugendalter engagieren sich demnach im jungen Erwachsenenalter etwas mehr ehrenamtlich; solche Erwachsene mit einst höherem Engagement im Jugendalter zeigen später etwas stärker ausgeprägte politische Einstellungen.
AID:A bemüht sich zudem, die Komplexität der jeweiligen Lebenslagen der Befragten möglichst umfassend zu erheben. So können die Daten Ähnlichkeiten und Unterschiede sowohl zwischen Familien beziehungsweise Haushalten beschreiben als auch das differenzielle Erleben und Verhalten innerhalb dieser Kontexte. Dazu gehören Unterschiede im Erziehungsverhalten innerhalb der Familie ebenso wie Unterschiede in der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in den jeweiligen Erwerbskonstellationen von Müttern und Vätern. Analysen von Ruth Festl und Gabriela Gniewosz (2018) belegen beispielsweise, dass Väter und Mütter unterschiedlich häufig Regeln für die Mediennutzung (durch-)setzen, sich selbst aber auch unterschiedlich sicher im Umgang mit bestimmten Medien einschätzen. Die Exploration solcher Befunde ist dabei nur ein erster Schritt. Im Anschluss daran muss daraus ein berichtsrelevantes Konstrukt definiert und für die zukünftige Erhebung einschlägiger Daten spezifiziert werden.
Beim Ausbau der Betreuungsangebote ist die regionale Differenzierung entscheidend
Durch deutlich größere Stichproben oder die gezielte Berücksichtigung regionaler Besonderheiten gehen andere DJI-Studien auf die Notwendigkeit zur Regionalisierung und Kontextualisierung der Sozial- und Bildungsberichterstattung ein. So berichtet die DJI-Kinderbetreuungsstudie (KiBS) seit vielen Jahren sowohl auf Bundesebene als auch für alle 16 Bundesländer einerseits zu den elterlichen Bedarfen, andererseits zum Fortschritt des Betreuungsausbaus bis zum Ende der Grundschulzeit. Differenziert kann so dargestellt werden, in welchen Bundesländern der Betreuungsbedarf der Eltern wie hoch ist, wie gut dieser Bedarf gedeckt werden kann, wie zufrieden Eltern mit dem genutzten Angebot sind, welche Kosten sie dafür aufbringen, welche Strecken sie zurücklegen, welchen Betreuungsumfang sie sich wünschen etc. Insbesondere in derartigen Themengebieten ist die Differenzierung nach Bundesländern wichtig, da die Bevölkerungsentwicklung, die administrativen Vorgaben und fachliche Traditionen sowie die Präferenzen und das Nutzungsverhalten der Eltern regional sehr unterschiedlich ausfallen (Anton/Hubert/Kuger 2021, Hüsken/Lippert/Kuger 2021).
In der Vorbereitung des Gesetzesentwurfs für einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz im Grundschulalter sind die Befunde auch insofern interessant, weil sie nachweisen, dass Eltern für jedes sechste Grundschulkind in Deutschland einen nicht (ausreichend) gedeckten Betreuungsbedarf haben. Zugleich zeigt KiBS, dass nicht alle Eltern, die für ihr Kind eine Betreuung nach der Schule wünschen, tatsächlich einen Ganztagsplatz suchen. Ganz im Gegenteil ist die Palette gewünschter Formate und Betreuungsumfänge relativ heterogen – und vielfältiger, als beispielsweise aus der amtlichen Statistik abzulesen ist.
Die Coronapandemie erfordert eine schnelle, aber zugleich hochwertige Berichterstattung
Eine andere Rolle nehmen regionale Rahmenbedingungen in der Corona-KiTa-Studie des DJI und des Robert Koch-Instituts (RKI) ein. Die im Rahmen dieses Projekts erhobenen Daten zu Kindern, Familien und zur Kinderbetreuung werden jeweils vor dem Hintergrund des lokal und regional sehr unterschiedlichen Infektionsgeschehens berichtet. Vor allem die enge Verknüpfung zwischen dem Infektionsgeschehen vor Ort, der Reaktion unterschiedlicher Steuerungsebenen auf das lokale Geschehen (Bundes- und Landespolitik, Gesundheitsämter, Träger) und die Konsequenzen für Akteure im Feld (Fachkräfte, Eltern, Kinder) machen hier eine regional differenzierte Betrachtung notwendig (siehe Abbildungen).
Die Corona-KiTa-Studie illustriert zudem in vortrefflicher Weise, wie wichtig eine schnelle, flexible und zugleich qualitativ hochwertige Berichterstattung ist. Im Dilemma der Balancierung aller Interessen der Beteiligten (Infektionsschutz, Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder, zuverlässiges Angebot für Eltern sowie sichere Ausübung des Berufs für Fachkräfte) sind Politik und Fachpraxis darauf angewiesen, schnell und differenziert Informationen über das Geschehen zu erhalten. Im Kooperationsprojekt wurde dem begegnet – mit einem Forschungsansatz aus kontinuierlichen und dynamischen Erhebungskomponenten sowie breit angelegten Monitoring- und Surveillance-Bausteinen als auch gezielten Vertiefungserhebungen an kleinen Stichproben. Die Empfehlungen zur Implementation von Hygienemaßnahmen in Kindertageseinrichtungen konnten so empirisch begleitet und die immer stärkere Umsetzung in den Daten der Erhebungen nachgezeichnet werden (Autorengruppe Corona-KiTa-Studie 2021a).
Ein wesentlicher Teil des Projekterfolgs waren zudem die neue digitale Art der Berichterstattung in Quartals- und Monatsberichten sowie die transparente Darstellung der Ergebnisse des bundesweiten KiTa-Registers auf einem Dashboard, das für alle Interessierten frei im Internet verfügbar gemacht wurde. Somit wurden die Ergebnisse (beispielsweise zur Umsetzung von Schutzmaßnahmen in Kindertageseinrichtungen und bei der Tagespflege) nicht nur in die wissenschaftlichen Fachdisziplinen hinein, sondern auch verständlich für die Fachpraxis und interessierte Laien kommuniziert. Dieser Forschungsansatz macht sich explizit die Digitalisierung (von der Teilnahme an der Datenerhebung in einem Citizen-Science-Ansatz über die halbautomatisierte Auswertung und Aufbereitung bis hin zur Online-Darstellung) zunutze.
Digitale Datenerhebung und -verwertung sind zentrale Herausforderungen der Zukunft
Die eben genannten Beispiele stellen nur einen Ausschnitt der Perspektiven dar, die für die Sozial- und Bildungsberichterstattung in den kommenden Jahren relevant werden. Sowohl in der Erhebungstechnik (zum Beispiel durch Forschungs-Apps, mit denen sich Bewegungsdaten oder Sozialkontakte von Personen identifizieren lassen, durch Onlineerhebungen oder die Auswertung von Stimmaufnahmen oder Videografien) als auch in der Auswertungs- und Aufbereitungsroutine (Einhaltung internationaler Aufbereitungsstandards, halb- und vollständig automatisierte Auswertungen, Darstellungsformate mittels eines Dashboards etc.) sowie schließlich in der Wissenschaftskommunikation wird es wichtige Weiterentwicklungen geben. So werden die Befunde des DJI zwar weiterhin in den bewährten schriftlichen Formaten und Fachvorträgen veröffentlicht, zunehmend jedoch auch im Internet, auf Social-Media-Plattformen wie Twitter (@CoronaKita), in Onlineveranstaltungen oder als Podcast. All diese Innovationen entbinden die Wissenschaft jedoch nicht von der Aufgabe, auch in Zukunft berichtsrelevante Themen zu identifizieren und mit Theoriebezug zu definieren sowie anschließend die Befunde in ein Gesamtbild zu integrieren.
Anton, Jeffrey / Hubert, Sandra / Kuger, Susanne (2021): Der Betreuungsbedarf bei U3- und U6-Kindern. DJI-Kinderbetreuungsreport 2020. Studie 1 von 8. München
Autorengruppe Corona-KiTa-Studie (2021a): 3. Quartalsbericht der Corona-KiTa-Studie (I/2021). Deutsches Jugendinstitut München
Autorengruppe Corona-KiTa-Studie (2021b): 4. Quartalsbericht der Corona-KiTa-Studie (II/2021). Deutsches Jugendinstitut München
Festl, Ruth / Gniewosz, Gabriela (2018): Role of mothers’ and fathers’ Internet parenting for family climate. In: Journal of Social and Personal Relationships, Jg. 36, H. 6, S. 1764–1784
Gniewosz, Gabriela u.a. (2018): Frei(e)zeit zwischen Kindheit und Jugend: Ein Blick auf Veränderungen und Stabilitäten im Freizeitverhalten. In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, Jg. 38, H. 3, S. 302–319
Hüsken, Katrin / Lippert, Kerstin / Kuger, Susanne (2021): Der Betreuungsbedarf bei Grundschulkindern. DJI-Kinderbetreuungsreport 2020. Studie 2 von 8. München
Kuger, Susanne / Gille, Martina (2020): Entwicklung des zivilgesellschaftlichen Engagements im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Jg. 23, S. 1103–1123
Kuger, Susanne / Walper, Sabine / Rauschenbach, Thomas (Hrsg.) (2021): Aufwachsen in Deutschland 2019. Alltagswelten von Kindern, Jugendlichen und Familien. Bielefeld
Lenz, Hansrudi / Hubmann, Maximilian (2020): Wissenschaft und Politik: Max Weber ist auch in der Corona-Krise aktuell. In: Forschung & Lehre, 7/2020
Weber, Max (1904): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 19, H. 1, S. 22–87
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2021 von DJI Impulse „Familie, Kindheit, Jugend 2030 – Lösungsansätze für eine lebenswerte Zukunft“ (Download PDF).