„Bildung ist das Startkapital für die Zeit nach Corona“

Ein Gespräch über die Bildung der Zukunft, darüber, worauf es beim Lernen wirklich ankommt und warum die soziale Herkunft über individuelle Lebensperspektiven entscheidet – Bildungsforscher Thomas Rauschenbach im Interview.
 

Herr Professor Rauschenbach, wie steht es nach gut eineinhalb Jahren Coronapandemie um die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland?
Prof. Dr. Thomas Rauschenbach: Bislang liegen noch kaum wissenschaftlich belastbare Daten über die Corona-Auswirkungen auf die Bildungschancen der Kinder vor. Das wird sich erst genauer in naher Zukunft sagen lassen. Gleichwohl gehe ich davon aus, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus am stärksten unter den Kita- und Schulschließungen und dem Distanzunterricht gelitten haben. Dies beginnt schon damit, dass sozial privilegierte Familien über eine bessere technische Ausstattung und mehr Wohnraum – vielleicht einen Garten – verfügen. In einer engen Etagenwohnung, in der sich Geschwister zum Lernen nur ein Smartphone mit den Eltern teilen können, weil die Familie womöglich gar keinen Computer besitzt, ist dieses von vornherein deutlich erschwert. Unter solchen länger anhaltenden Umständen dürfte die Bildungskluft rasch größer werden.

Die Forschung weist spätestens seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2001 darauf hin, dass Schülerinnen und Schüler in Deutschland in ein Bildungssystem kommen, in dem soziale Ungleichheiten eher verstärkt statt kompensiert werden. Warum lässt sich so schwer gegensteuern?
Dazu zwei Punkte. Erstens: Aus meiner Sicht wird das Thema Bildungsgerechtigkeit in Deutschland zu häufig auf Basis eines schlichten Vergleichs der Daten von früher und heute diskutiert. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass beispielsweise fehlende Schulabschlüsse stark vom Ausmaß der Zuwanderung abhängen. Wenn über einen längeren Zeitraum nur wenige Zuwanderer nach Deutschland kommen, wird das Leistungsspektrum in Kitas und Schulen natürlich besser als in Zeiten, in denen kurz zuvor eine hohe Zuwanderung herrschte. In den Jahren 2015 und 2016 kamen sehr viele geflüchtete Kinder und Jugendliche nach Deutschland, die mehrheitlich vorher noch nie Berührung mit der deutschen Sprache hatten, die aus Kriegsgebieten geflohen waren und oft wenig Bildungsmöglichkeiten hatten. Diese jungen Menschen brauchen selbstverständlich ihre Zeit, sich auf die neue Sprache und Kultur einzustellen. Und dieses Auf und Ab spiegelt sich auch in den Statistiken wieder, wenn man die Schulleistungen von Zugewanderten der ersten, zweiten und dritten Generation vergleicht. Bei der Diskussion um Bildungsgerechtigkeit gilt es mithin das zu berücksichtigen, da man ansonsten Erfolge oder Misserfolge der Schule möglicherweise auf falsche Ursachen zurückführt.

Es führt aus meiner Sicht kein Weg daran vorbei, dass der Bund dauerhaft in die Finanzierung von Bildung einsteigt. Er gibt zwar schon Milliarden an die Länder, aber das reicht vorne und hinten nicht.


Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Erziehungswissenschaftler und von 2012 bis 2021 Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI). Foto: Stefan Obermeier

Der zweite Punkt, auf den wir in der Bildungsberichterstattung und in den Kinder- und Jugendberichten immer wieder hingewiesen haben, ist, dass die „andere Seite der Bildung“, also die nicht schulische, non-formale und informelle Bildung, ein vielfach unterschätzter, wichtiger Faktor ist – nicht nur in puncto Förderung von Kindern, sondern auch in puncto erfolgreiche Lebensbewältigung und Verselbstständigung, also allem, was Kinder neben der Schule auf dem Weg zum Erwachsenenwerden benötigen. Wir müssen daher unser Bildungsverständnis weiten, wenn wir Kinder erfolgreicher fördern wollen. Vor diesem Hintergrund, dass sich die Frage der Bildungskluft vielfach auch eher an den unterschiedlichen Möglichkeiten dieser anderen Seite der Bildung entscheidet, könnte man durchaus auf die Idee kommen, dass die soziale Herkunft, dass die Lebenswelten hierzulande mehr zu den Bildungsunterschieden beitragen als das hochstandardisierte schulische Bildungswesen. Wir sollten also den Blick mehr auf diese Seite richten.

Sie meinen also, der Einfluss der Schule auf die Bildungsgerechtigkeit wird überschätzt?
Zumindest gibt sich das deutsche Bildungssystem Mühe, Kinder und Jugendliche im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu fördern. Wenn aber die non-formale, informelle Bildung eine viel größere Quelle von Ungleichheit ist, dann macht es einen großen Unterschied, wenn Kinder Eltern haben, die sie in der Schule breit unterstützen können, die sie von klein auf musisch und kulturell fördern, die sie auf Reisen mitnehmen und die sie früh mit anderen Sprachen bekannt machen. Diese schulfernen Faktoren beeinflussen die Bildung eines Kindes sehr viel stärker – und wir beachten es viel zu wenig. Ich teile auch nicht die Hoffnung, dass man diese herkunftsbedingten Bildungsunterschiede allein durch Schulbildung wegbekommen kann. Jedes Bildungssystem erzeugt Gewinner und Verlierer – und es kommt darauf an, dass wir dies erkennen und die Verlierer zusätzlich fördern. Wir werden es nicht schaffen, dass alle mit gleichen Leistungen und Fähigkeiten ins Ziel kommen. Das Ziel muss vielmehr sein, alle erdenklichen Möglichkeiten zu nutzen, um Kinder dabei zu unterstützen, so gut zu werden, wie es ihrem Vermögen entspricht. Aber wir werden am Ende nicht alle auf ein Level bringen.

Werden in Deutschland die Möglichkeiten genutzt, um Kinder aus sozial schwachen oder zugewanderten Familien bestmöglich zu fördern?
Sicherlich nicht alle Möglichkeiten, aber wir sind besser geworden. Der Kita-Ausbau ist hier ein wichtiger Schritt – aber er muss dringend allen Kindern die Chance auf eine frühe Förderung eröffnen, was wir leider immer noch nicht realisiert haben. Auch haben inzwischen fast alle Bundesländer integrierte Schulformen eingeführt, die eine höhere Durchlässigkeit zwischen den Schulformen gewährleisten. Zudem zeigen die Bildungsberichte der vergangenen Jahre deutlich die Tendenz, dass immer mehr Jugendliche Schulabschlüsse nachholen, dass also jene, die möglicherweise etwas länger brauchen, weil sie als Zugewanderte erstmal Sprache und Kultur kennenlernen müssen, auch noch später die Chance erhalten, auf alternativen Bildungswegen zu besseren Schulabschlüssen zu kommen. Dass Deutschland bei der Bildungsgerechtigkeit schlechter dasteht als andere Länder, hat meines Erachtens vor allem auch damit zu tun, dass wir zuletzt deutlich höhere Zuwanderungsquoten hatten als so mancher andere Staat. Schlussendlich bin ich auch überzeugt, dass wir mit entsprechenden Ganztagsangeboten weitere Chancen hätten, Kinder auch jenseits der Unterrichtsfächer besser zu fördern – aber dazu müssten wir endlich mal auch im politischen Raum über Konzepte und Qualitätsparameter in Sachen Ganztag nachdenken.

Sind die Fach- und Lehrkräfte in Deutschland für die gewachsene Zahl an Kindern, die zu Hause vorwiegend eine nicht-deutsche Familiensprache sprechen, gut gerüstet?
Es ist eine immens große Herausforderung für Pädagoginnen und Pädagogen, mit dieser Heterogenität in den Lerngruppen angemessen umzugehen. Bundesweit jedes fünfte Kita-Kind spricht zu Hause vorwiegend eine nicht-deutsche Familiensprache, in einigen westdeutschen Ländern trifft das auf mehr als ein Drittel der Kita-Kinder zu und in westdeutschen Metropolregionen sogar auf jedes zweite Kita-Kind. Damit muss unser Bildungssystem umgehen. Das ist eine der wirklich großen Baustellen. Da geht es nicht allein um Zeugnisnoten oder Pisa-Testergebnisse, sondern um Lebenschancen und Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe. Wichtig ist, dass jede Lehrkraft und jede Erzieherin, die mit diesen Kindern arbeitet, ausreichend Unterstützung und gute Arbeitsbedingungen vorfindet. Dafür gibt es in Deutschland bereits erste mutmachende Ansätze. Beispielsweise werden Kitas mit erhöhten Migrationsanteilen mehr Mittel und Personal zur Verfügung gestellt. Manche Bundesländer schaffen durch finanzielle Zulagen zusätzlich Anreize für Fach- und Lehrkräfte, vorrangig in sozial benachteiligte Stadtteile zu gehen, um sich dort um die Kinder zu kümmern.

Die Bildungsausgaben in Deutschland betrugen zuletzt mehr als 230 Milliarden Euro. Das ist viel Geld. Ist es dennoch zu wenig oder nur falsch eingesetzt?
Das ist eine nicht ganz einfach zu beantwortende Frage. Wenn wir zusätzlichen Bedarf zum Beispiel in der Frühen Bildung haben, muss der Staat selbstredend mehr Geld investieren – sonst bewegt sich nichts. Zugleich ist es aber auch ein Fakt, dass Lehrkräfte in Deutschland im internationalen Maßstab vergleichsweise gut bezahlt werden. Verstehen Sie mich nicht falsch, es soll niemandem etwas weggenommen werden, aber die Höhe der Bildungsausgaben ist eben allein noch kein Erfolgsgarant. Oder nehmen Sie den Umstand, dass wir ausgerechnet bei den Erzieherinnen keine Bildungsoffensive starten, sprich: sie besser ausbilden und dann ähnlich wie die Grundschullehrkräfte vergüten. Wir müssen die frühe, familien- und lebensweltnahe Bildung als eine Chance betrachten. Deutschland investiert zu spät in die Bildung der Kinder. Bildungsökonomen haben wiederholt darauf hingewiesen, dass sich Förderung von Anfang an auszahlt, für die Kinder wie für die Gesellschaft.

Sie sagten einmal etwas zugespitzt, wenn ein Kind in die Schule kommt, ist die meiste Bildung schon gelaufen – da sind die Weichen schon gestellt. Wie meinen Sie das?
Der Nobelpreisträger und Bildungsökonom James Heckman betont, am Anfang sind Kinder zwar vulnerabel, aber auch sehr empfänglich für vielfältigste Lern- und Bildungsprozesse. Machen Sie sich einmal bewusst, was ein Kind vor dem Beginn der Schule schon alles gelernt hat: Es kann laufen, sprechen, beginnt sich immer differenzierter zu artikulieren, hat eine enorme motorische Entwicklung und viele andere Bereiche des Kompetenzerwerbs bereits hinter sich. Hinzu kommt eine Neugierde der Kinder, Wissbegierde, eine Lust etwas, was sie noch nicht können, auszuprobieren, zu lernen. All das sind wunderbare Gelegenheiten, ihnen in den Alltag integriert die Welt um sie herum nahezubringen, damit sie nicht von Wohl und Wehe der Familie abhängig sind. Die soziale Ungleichheit beginnt ja nicht erst in der Schule, sondern wird sozial vererbt und setzt sich in den ersten Lebensjahren fort. Wie Eltern mit ihren Kindern reden und spielen, ob sie ihnen vorlesen und welche Anregungen sie ihnen geben: All das wirkt sich auf die Entwicklung eines Kindes aus. Und wenn zu Hause kaum oder gar nicht Deutsch gesprochen wird – da Eltern auch ihre eigene Herkunftssprache an die Kinder weitergeben wollen –, ist es umso wichtiger, dass diese Kinder früh in die Kita kommen, damit sie dort die deutsche Sprache gewissermaßen nebenher intuitiv und spielerisch lernen. Wir haben in Deutschland lange gebraucht, um zu begreifen: Die Kita ist eine Chance und keine Strafe.

Insbesondere in Westdeutschland hat sich das Aufwachsen in den ersten Lebensjahren mittlerweile stark verändert. Weit mehr als die Hälfte der zweijährigen Kinder besucht heute eine Kita oder wird von einer Tagesmutter betreut – 2006 waren das gerade mal 17 Prozent. Das System steht aber immer noch vor enormen Herausforderungen – warum?
Die größte Herausforderung bleibt leider immer noch, erst einmal eine ausreichende Anzahl an Plätzen für Kinder unter drei Jahren zu schaffen. Das hat zwei Gründe: Erstens ging das Kita-Gesetz des Bundes aus dem Jahr 2008 davon aus, dass etwa ein Drittel der Eltern für ihre Kinder unter drei Jahren einen Betreuungsplatz nachfragen würde. Das war damals realistisch, inzwischen ist es das nicht mehr. Bestärkt durch die Debatten über die Kita als ersten öffentlichen Bildungsort in der Biografie eines Kindes geben inzwischen 45 Prozent der jungen Eltern an, einen Platz zu benötigen. Die neue Normalität ermuntert offenbar immer mehr junge Familien, ebenfalls einen Bedarf anzumelden. Zweitens sind aber auch die Geburtenzahlen insbesondere in den alten Bundesländern zuletzt stark angestiegen. Inzwischen kommen in Deutschland jährlich etwa 100.000 Kinder mehr zur Welt als noch im Jahr 2008. Dieser so nicht erwartete Boom ist zum Teil auch der neu ausgerichteten Familienpolitik des Aufwachsens in öffentlicher Verantwortung zuzuschreiben. Aber zugleich zeigt sich, dass dieser Erfolg auch Nebenwirkungen hat: einen weiter steigenden Platzbedarf. Denn die Kombination beider Entwicklungen – steigende Nachfrage und höhere Geburtenzahlen – setzt die Kita-Landschaft und die Kommunen viel stärker unter Druck als damals erwartet.

Manche Pädagogen und Psychologen kritisieren, dass es nicht immer nur um mehr Plätze gehen darf und fordern Qualitätsverbesserungen. Wie kann die Kita der Zukunft den Anspruch auf Frühe Bildung einlösen?
Natürlich braucht es in der Kita der Zukunft qualitätsvolle Arbeit. Notwendig sind Fachkräfte mit angemessener Qualifikation, notwendig sind kluge pädagogische Konzepte, notwendig sind auch qualitätsförderliche Leitungsstellen. Insofern benennt das Ende 2018 verabschiedete „Gute-Kita-Gesetz“ auf jeden Fall die richtigen Themen. Absehbar ist aber auch, dass die nächsten Jahre von einem grundlegenden Zielkonflikt geprägt sein werden. Einerseits steigen die Qualitätsansprüche an dem neuen Bildungsort Kita, andererseits braucht es insbesondere in Westdeutschland noch erheblich mehr Plätze als derzeit vorhanden sind. Die nach wie vor nicht abgeschlossene Kita-Ausbauphase wird uns weiterhin massive quantitative Anstrengungen abverlangen. Und hier schließt sich wieder der Kreis zur sozialen Spaltung: Solange wir nicht allen Eltern mit kleinen Kindern einen Platz bieten können, muss die Maxime „Ausbau vor Verbesserungen“ in der Frühen Bildung weiter gelten. Ansonsten entscheidet sich die Frage der Bildungskluft daran, wer einen Krippenplatz hat und wer eben keinen bekommen hat. Genau darin liegt die soziale Sprengkraft: Familien mit Migrationshintergrund haben beim Wettlauf um Kita-Plätze oft das Nachsehen. Sie können sich gegenüber deutschen Eltern nicht durchsetzen und werden bei der Suche nach einem Platzangebot zu wenig unterstützt. Wir müssen also weiter ausbauen, ausbauen, ausbauen – diese Herausforderung wird uns in den nächsten fünf Jahren noch beschäftigen.

Thomas Rauschenbach – Ausnahmeforscher und Vordenker

Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, von 2012 bis 2021 Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und Erziehungswissenschaftler, beeinflusste das deutsche Bildungssystem insbesondere mit empirisch angelegten Forschungsarbeiten. Unter anderem gehört er bis heute der Autorengruppe Bildungsberichterstattung an, die regelmäßig den nationalen Bildungsbericht für Deutschland erstellt. Den Forschungsverbund DJI/TU Dortmund leitet er weiterhin wissenschaftlich. Rauschenbach war Vorsitzender der Sachverständigenkommissionen für den 12. und 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung sowie Mitglied der Kommissionen für den 11. und 14. Bericht. Er hat zudem das Konsortium mitverantwortet, das die bundesweit größte „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG) leitete.

Der Unermüdliche – Thomas Rauschenbach im Porträt

Politik ist ein zähes Ringen. Bildungspolitische Großprojekte wären schon mehrfach beinahe am Föderalismus mit seinen komplizierten Bund-Länder-Kommunen-Abstimmungen gescheitert. Im Jahr 2021 ging es vor allem um den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder, der von 2026 an stufenweise eingeführt werden soll. Worauf kommt es jetzt an?
Es führt aus meiner Sicht kein Weg daran vorbei, dass der Bund dauerhaft in die Finanzierung von Bildung einsteigt. Er gibt zwar schon Milliarden an die Länder, aber das reicht vorne und hinten nicht. Die Politik muss das bisherige System des Föderalismus in Sachen Bildung auf den Prüfstand stellen, da dessen Spielregeln nicht mehr zum fundamental veränderten Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen passen. Und das aus zwei Gründen: Während heutzutage – erstens – fast 60 Milliarden Euro für die Kinder- und Jugendhilfe ausgegeben werden, etwa für Kitas, die Kinder- und Jugendarbeit oder die Heimerziehung, war das Ende des vergangenen Jahrhunderts nur ein Bruchteil dessen. Ich kann die Länder und die Gemeinden gut verstehen, wenn sie bei diesem Thema eine dauerhafte Beteiligung vom Bund fordern, da dies bei der Entwicklung des Grundgesetzes niemand absehen konnte. Durch den permanenten Anstieg haben die laufenden Kosten eine kritische Größe erreicht. Da müssen alle mithelfen. Und zudem muss die Zuständigkeit für die Bildung, die die Länder stets voller Inbrunst für sich allein reklamieren, neu verhandelt werden. Wenn Bildung weit mehr ist als Schule, wenn etwa die Kitas oder generell die non-formale und informelle Bildung wichtiger geworden sind, dann muss das auch in einer gemeinsamen Zuständigkeit aller föderalen Ebenen zum Ausdruck kommen.

Ein klarer Auftrag an die neue Bundesregierung. Doch hat Ihre Forderung Aussicht auf Erfolg angesichts der leeren Staatskassen durch Corona und der gewaltigen gesellschaftlichen Herausforderungen?
Ja, unbedingt. Ich glaube – hinter vorgehaltener Hand – wissen alle, dass es so nicht weitergehen kann. Dieses ständige Gezerre um Bildungsentscheidungen allein aus finanziellen Gründen bremst jede Dynamik und wegweisende Weiterentwicklung. Und Bildung ist das Startkapital für die Zeit nach Corona.

Wie muss die ideale Bildung im 21. Jahrhundert aussehen? Was ist Ihre Vision?
Wir müssen lernen, dass schulische Bildung nur die eine Seite der Medaille ist. Sie ist enorm wichtig, das können wir in der ganzen Welt beobachten. Aber sie kann dem umfassenden Bildungsauftrag nicht alleine gerecht werden. Das afrikanische Sprichwort „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“ gilt immer noch. Alle staatlichen und privaten Institutionen gehen heute bei der Erziehung der Kinder und Jugendlichen eine Partnerschaft mit den Eltern ein – nur so können wir die fragil gewordenen Sozialbeziehungen der „Dörfer“ ein Stück weit ersetzen. Wichtig dabei ist, dass Kinder an diesen frühen Bildungsorten herausfinden können, wer sie sind, was sie können, was sie wollen. Lernen wird immer noch viel zu häufig als passive Wissensaufnahme missinterpretiert. Doch das aktive, aktivierende Lernen ist demgegenüber viel entscheidender. Dazu gehört auch das soziale Lernen, die Persönlichkeitsentwicklung und das praktische Lernen, das, was ich Alltagsbildung nennen würde. Kinder müssen sich als aktive Gestalter ihres eigenen Lebensweges erleben können, die ihren Anteil an der Entwicklung der Gesellschaft leisten können. Es geht mithin auch darum, kritische und mündige Kinder und Jugendliche zu erziehen.

Interview: Birgit Taffertshofer
 

Kontakt
Prof. Dr. Thomas Rauschenbach
rauschenbach@dji.de

Birgit Taffertshofer
Abteilung Medien und Kommunikation
089/62306-180
taffertshofer@dji.de

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2021 von DJI Impulse „Familie, Kindheit, Jugend 2030 – Lösungsansätze für eine lebenswerte Zukunft“ (Download PDF).

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