DJI-Studie „Coming-out – und dann...?!“
Das Forschungsprojekt lieferte erstmals Erkenntnisse über die Coming-out-Verläufe und Diskriminierungserfahrungen von LSBT*Q Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. Die Studie, bei der bundesweit etwa 5.000 15- bis 27-Jährige online befragt und 40 persönliche Interviews mit nicht-heterosexuellen und nicht-cisgeschlechtlichen Jugendlichen geführt wurden, wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) finanziert.
Anfangs ist die Furcht vor negativen Konsequenzen groß
Während junge Menschen sich ihrer transgeschlechtlichen Zugehörigkeit häufig bereits in der Kindheit bewusst werden, stellen sie ihre nicht-heterosexuelle Orientierung oft erst mit Einsetzen der Pubertät fest (inneres Coming-out), zeigt die DJI-Studie. Die Unsicherheit über das vor allem zu Beginn des inneren Coming-outs als unpassend wahrgenommene sexuelle oder geschlechtliche Erleben führt demnach häufig zu Belastungen und Entbehrungen. Teilweise bewältigen LSBT*Q Jugendliche diese Situation, indem sie Peer-Kontakte meiden, um sich vorherrschenden Verhaltensnormen zu entziehen. Während sich die einen zurückziehen, versuchen die anderen, die von heterosexuellen oder cisgeschlechtlichen Menschen erwartete Rolle zu spielen. Charakteristisch für beide Strategien ist, dass Jugendliche dabei ihre wahren Gefühle über einen längeren Zeitraum unterdrücken.
Bei der DJI-Befragung berichten Jugendliche häufig darüber, dass sie sich während der Zeit der Bewusstwerdung Sorgen darüber machten, dass eine Bekanntgabe ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Zugehörigkeit negative Konsequenzen hat. Große Ängste sind hierbei, von der Familie oder von Freund_innen abgelehnt oder nicht ernst genommen zu werden. Viele junge LSBT*Q Menschen befürchten Schwierigkeiten im Bildungs- oder Arbeitskontext oder verletzende Bemerkungen oder Blicke infolge eines äußeren Coming-outs, also des Öffentlich-Machens.
Spezifische Informationen zu LSBT*Q Lebensweisen helfen, das eigene Empfinden einordnen und Aktivitäten planen zu können. Nicht-cisgeschlechtliche Jugendliche und junge Erwachsene setzen sich beispielsweise mit den Voraussetzungen für die Legitimierung ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit auseinander. Lesbische, schwule, bisexuelle und orientierungs*diverse junge Menschen informieren sich z. B. in YouTube-Videos über das Führen einer gleichgeschlechtlichen Beziehung oder darüber, wie sie sich ihrer nicht-heterosexuellen Empfindungen sicher sein können.

Oft vergehen mehrere Jahre bis zum ersten offenen Gespräch
Zwischen der Bewusstwerdung und dem äußeren Coming-out vergehen meist mehrere Jahre. Im Durchschnitt sind es bei den nicht-heterosexuellen Teilnehmenden der DJI-Studie etwa drei Jahre. Bei trans* und gender*diversen Jugendlichen, die vor spezifischen und komplexen Herausforderungen stehen, dauert es durchschnittlich etwa fünf Jahre.
Bürokratie, intime Fragen und fehlende Begriffe
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Wenn junge LSBT*Q Menschen ihre sexuelle und/oder geschlechtliche Zugehörigkeit bekannt geben möchten, planen sie das oft sehr genau. Insbesondere im Elternhaus oder am Bildungs- oder Arbeitsort versuchen sie sicherzustellen, dass sie handlungsfähig bleiben können: Sie legen sich beispielsweise passende Argumente zurecht, suchen eine günstige Gelegenheit, sondieren, ob eine eher ablehnende oder eher akzeptierende Einstellung gegenüber LSBT*Q Lebensweisen besteht, und bereiten sich auf mögliche negative Reaktionen vor. Die Erfahrungen, die Jugendliche und junge Erwachsene bei ihrem äußeren Coming-out machen, stehen nach den Ergebnissen der DJI-Studie oft im Kontrast zu ihren Befürchtungen im Vorfeld. Häufig ist die erste Ansprechperson jemand aus dem Freundeskreis und ein großer Teil der jungen Menschen erfährt positive Reaktionen.
Nach einem äußeren Coming-out engagieren sich manche Jugendliche für das Thema LSBT*Q. Sie berichten in Blogs oder auf YouTube über ihr Leben als nicht-heterosexuelle und/oder nicht-cisgeschlechtliche Jugendliche oder setzen sich anderweitig für Sichtbarkeit und Aufklärung ein (z.B. bei Aktionstagen in Schulen). Sie vernetzen sich mit anderen LSBT*Q Peers und erleben insbesondere auf Online-Plattformen, dass sie nicht „die Anderen“ sind, sondern dazugehören.
Dennoch berichteten in der DJI-Studie insgesamt acht von zehn LSBT*Q Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mindestens einmal Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung erlebt zu haben. Die Formen sind hierbei vielfältig: Ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Zugehörigkeit wird nicht ernst genommen oder absichtlich ignoriert, die Jugendlichen erleben verletzende Blicke und Bemerkungen, Beschimpfungen, Ausschluss aus sozialen Kontexten, Androhung von Sachbeschädigung oder körperlicher Gewalt, rechtliche Benachteiligung (z. B. Legitimationspflicht der geschlechtlichen Zugehörigkeit bei Personenstandsänderung) sowie die Konfrontation mit tradierten abwertenden Stereotypen.
Die Familie sowie Bildungs- und Ausbildungsorte sind Bereiche, in denen die jungen Menschen oft Diskriminierung befürchten und erleben – die Hälfte der Jugendlichen berichtet in der DJI-Untersuchung von negativen Erfahrungen (siehe Abbildung). Gleichzeitig können sie sich diesen alltäglichen Bereichen nicht ohne Weiteres entziehen. In der Schule müssen sich junge LSBT*Q Menschen meist damit abfinden, dass sexuelle und geschlechtliche Vielfalt nicht thematisiert wird – außer in Form von Abwertungen und Schimpfwörtern. Zudem bieten Lehrer_innen bei Diskriminierungen im Schulalltag häufig nicht ausreichend Unterstützung. So geben knapp 48 Prozent der befragten Jugendlichen an, dass Lehrer_innen nie gezeigt haben, dass sie es nicht dulden, wenn Mitschüler_innen geärgert werden, weil sie für LSBT*Q gehalten werden.
Für viele junge LSBT*Q Menschen ist daher insbesondere die Schule ein Ort, an dem ihre Zugehörigkeit mit stigmatisierenden, homo- und trans* feindlichen Zuschreibungen verhandelt wird. Aus diesem Grund vermeiden viele Jugendliche eine Bekanntgabe ihrer tatsächlichen sexuellen und/oder geschlechtlichen Lebensweise während ihrer gesamten Schullaufbahn. Auch in einem europäischen Survey berichteten 68 Prozent der lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Teilnehmer_innen, ihre sexuelle und/oder geschlechtliche Zugehörigkeit in der Schule nie bekannt gegeben zu haben (FRA 2013).
Häufig begegnen junge LSBT*Q Menschen aber auch im öffentlichen Raum Diskriminierung in Form von verbalen Übergriffen, z. B. in der Fußgängerzone, im Kino, im Schwimmbad oder im Nahverkehr, zeigt die DJI-Studie. Mehr als ein Drittel der LSBT*Q Jugendlichen berichtet von entsprechenden Erfahrungen. Diskriminierungen in der Öffentlichkeit gehen überwiegend von unbekannten Personen aus.
Zudem gibt ein Drittel der Studienteilnehmenden an, in der Öffentlichkeit sexuell belästigt oder beleidigt worden zu sein. Bei den lesbischen und trans* weiblichen Jugendlichen trifft dies sogar auf die Hälfte der Befragten zu. Erlebte und befürchtete Diskriminierung hat damit für LSBT*Q Jugendliche und junge Erwachsene eine hohe Alltagspräsenz.
Im Umgang mit Diskriminierung aufgrund ihrer LSBT*Q Lebensweise sind nach der DJI-Untersuchung vor allem zwei Strategien hervorzuheben: Die Jugendlichen versuchen erstens, negative Erfahrungen soweit wie möglich zu verhindern, indem sie Situationen vermeiden, in denen sie eine Diskriminierung erwarten. In Bereichen mit einer ausgeprägten zweigeschlechtlich-heteronormativen Struktur führt das nicht selten dazu, dass sie ihr tatsächliches sexuelles und geschlechtliches Erleben für sich behalten oder nicht daran teilnehmen. Deutungsstrategien sind die zweite wichtige Methode, durch die junge LSBT*Q Menschen negative Erfahrungen weitgehend ohne Belastungsempfinden verarbeiten können. Sie relativieren beispielsweise einen verbalen Übergriff („So schlimm war es auch nicht!“) oder idealisieren diese Erlebnisse („Ich hatte ja noch Glück!“). Dass viele Jugendliche und junge Erwachsene gegenüber schwierigen Bedingungen widerstandsfähig sind, lässt sich auch darauf zurückführen, dass sie entsprechende Erfahrungen häufig machen.
Intensive Aufklärung kann Ausgrenzung verhindern
Wenngleich es in Deutschland kein Tabu mehr ist, lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder queer zu sein, sind LSBT*Q Jugendliche immer noch „die Anderen“; Umgang mit Diskriminierung und verringerte Partizipationschancen sind für sie Teil ihres Alltags. Um junge LSBT*Q Menschen besser zu unterstützen, ist es notwendig, gesellschaftliche, institutionelle und rechtliche Bedingungen weiter zu verändern, um mehr Beteiligung und Chancengleichheit zu ermöglichen. Nach der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren durch die „Ehe für alle“ sollten beispielsweise auch die rechtlichen Grundlagen für trans* Menschen angepasst und auf diese Weise ein selbstbestimmter und weniger pathologisierender Handlungsrahmen geschaffen werden. Zudem gilt es, mit einer umfassenden Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt der gesellschaftlichen Ausgrenzung von LSBT*Q Lebensweisen zu begegnen.
Denn eine Gesellschaft braucht angemessene Informationen über die Lebensweisen jenseits der heteronormativen Geschlechterordnung, um Vorurteile abzubauen und Diskriminierungen zu verhindern. Ein Weg führt hierbei sicherlich über die stärkere Berücksichtigung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Unterrichts-, Ausbildungs- und Arbeitsalltag, z.B. über gendersensible Sprache, Unterrichtsmaterialien oder Aufklärungsprojekte.
Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) (Hrsg.) (2013): LGBT-Erhebung in der EU. Erhebung unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen in der Europäischen Union.Ergebnisse auf einen Blick. Wien
Antigewalt- und Antidiskriminierungsbereich der Lesbenberatung Berlin E.V. (LesMigraS) (2012): „… nicht so greifbar und doch real“. Eine quantitative und qualitative Studie zu Gewalt- und (Mehrfach-)Diskriminierungserfahrungen von lesbischen, bisexuellen Frauen und Trans* in Deutschland. Berlin
Dalia Research (2016): Counting the LGBT population HUMAN RIGHTS CAMPAIGN (HRC) (Hrsg.) (2012): Growing up LGBT in America. HRC Youth Survey Report. New York
Jugendnetzwerk LAMBDA NRW (Hrsg.) (2005): Wir wollen‘s wissen! Befragung zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen
in NRW. Köln
Sielert, Uwe / Timmermanns, Stefan (2011): Expertise zur Lebenssituation
schwuler und lesbischer Jugendlicher in Deutschland. Eine Sekundäranalyse
vorhandener Untersuchungen. München

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2018 der DJI Impulse „Jung und queer – Über die Lebenssituation von Jugendlichen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder queer sind“.