„Meine Mutter riet mir zu einer Psychoanalyse“

Lising Pagenstecher hat erst mit Ende 30 gelernt, sich als frauenliebende Frau zu akzeptieren und zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen. In der Frauen- und Lesbenbewegung der 1970er-Jahre fasste sie schließlich den Mut, sich für die Gleichstellung von Lesben zu engagieren.

DJI Impulse: Frau Pagenstecher, seit letztem Jahr dürfen gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland heiraten. Ist der Kampf um die Gleichstellung von Homosexuellen damit weitestgehend abgeschlossen?

Lising Pagenstecher: Das kann man nicht sagen. Die „Ehe für alle“ ist ein weiterer Schritt auf einem langen Weg zur Gleichberechtigung. Solange Diskriminierung gegenüber Lesben und Schwulen noch so weit verbreitet ist, haben wir das Ziel nicht erreicht.


Lising Pagenstecher (Foto: Uta Hofele)

Wo erleben Sie heute noch Vorbehalte?

Auf Unsicherheiten im Umgang mit meiner lesbischen Lebensweise treffe ich selbst in meiner Familie noch. Als ich vor einem Jahr zusammen mit meiner Lebensgefährtin meine Schwester im Krankenhaus besuchte, hat sie bei einem Anruf am Telefon erzählt, ihre Schwester sei da – mit „einer“ Freundin und nicht mit „ihrer“ Freundin oder Partnerin. Das hat mir gezeigt, dass sie mit unserer gleichgeschlechtlichen Beziehung immer noch ein Problem hat.

Die meisten queeren Menschen erleben ihr Coming-out heutzutage in der Jugendzeit. In Ihrer Jugend in der Nachkriegszeit war das noch ein Tabu. Wann und mit wem haben Sie erstmals über Ihre Gefühle gesprochen?

Mit 17, das war 1947, habe ich mir selbst eingestanden, dass ich mich von Frauen angezogen fühle. Ich vertraute mich meiner acht Jahre älteren Schwester an, die zwar freundlich reagierte, mir aber am Ende des Gesprächs zu einer Therapie riet. Mit 19 Jahren verliebte ich mich dann zum ersten Mal so richtig, allerdings war die betreffende Frau über mein Geständnis ziemlich schockiert und empfahl mir eine Hormonbehandlung, die ich nicht machte. Meine erste intime Frauenbeziehung hatte ich erst viel später, mit circa 25 Jahren. Als meine Mutter davon erfuhr, war sie entsetzt und riet mir zu einer Psychoanalyse, für die sie das Geld bereitstellte.

Wie haben Sie auf diese Ratschläge reagiert?

Ich habe eine Psychoanalyse begonnen, denn ich hatte damals den großen Wunsch, „normal“ zu werden. Ich wäre gerne 100 Prozent heterosexuell geworden, weil ich mich von den Problemen, die meine Neigung auslöste, total überfordert fühlte.

Ich habe es als bedrückend empfunden, dass ich mit niemandem über meine Gefühle sprechen konnte. In den 1940er- und 1950er-Jahren gab es ja noch nicht einmal das Wort »lesbisch«.

Welche Probleme waren das?

Wegen der negativen Reaktionen der drei wichtigsten Frauen in meinem damaligen Leben – meiner Schwester, meiner Mutter und meiner ersten unerwiderten Liebe – hatte ich Angst, abgewertet und zurückgewiesen zu werden, wenn ich mich weiteren Frauen öffne. Ich habe es als bedrückend empfunden, dass ich mit niemandem über meine Gefühle sprechen konnte. Das Wort „lesbisch“ gab es damals noch nicht, auch „homosexuell“ war nicht gebräuchlich. Ich kannte auch lange keine Frau, die meine Neigungen teilte. Ich denke, dass sich Ende der 1940er- und in den 1950er-Jahren kaum Frauen trauten, solche Gefühle bei sich zuzulassen, weil das gesellschaftlich tabu war und von einer Frau erwartet wurde, dass sie sich Männern zuwendet.

Wie sind Sie mit diesen gesellschaftlichen Erwartungen umgegangen?

Ich habe meinen Fokus auf etwas anderes gelegt: Ich habe das Abitur nachgeholt und mit einem Studium begonnen. Im Soziologischen Seminar in München bin ich dann meiner zweiten großen Liebe begegnet. Bis ich mich als frauenliebende Frau akzeptieren konnte, hat es aber noch eine ganze Weile gedauert. Erst mit Ende 30 habe ich mich in einer psychoanalytischen Gruppe in München dazu bekannt, Frauen zu lieben. Das empfand ich als ungeheure Befreiung.

Was hat sich danach für Sie verändert?

Ich habe den Mut gefasst, mich in immer größerem Umfeld zu outen, beispielsweise an meiner Arbeitsstelle am Deutschen Jugendinstitut. Als ich dort 1967 anfing, befürchtete ich noch, dass mir beim Bekanntwerden meiner sexuellen Orientierung gekündigt würde. Doch selbst meine Veröffentlichungen zu lesbischen Themen wurden besser aufgenommen, als ich im Vorfeld befürchtet hatte. Ich wurde zu vielen Vorträgen in verschiedene Städte eingeladen und habe positive Reaktionen von Betroffenen bekommen. Gleichzeitig engagierte ich mich in der Frauen- und Lesbenbewegung und begann peu à peu eine positive lesbische Identität zu entwickeln.

Lesben können umso selbstbewusster mit äußeren Anfeindungen umgehen, je mehr sie sich selbst akzeptieren und je mehr sie sich aus der Defensive herauswagen.

Haben es lesbische Frauen schwerer als schwule Männer?

Ja, weil Frauen insgesamt noch weniger gleichberechtigt sind, beispielsweise in der Arbeitswelt, wo sie oft immer noch schlechter bezahlt werden als Männer und seltener aufsteigen. Bei Lesben überlagern sich mehrere Nachteile – das Frau-Sein und das Lesbisch-Sein.

Was würden Sie heute jungen Lesben mit auf den Weg geben wollen?

Diskriminierungsängste beruhen zunächst häufig auf einer massiven Selbstablehnung. Bei mir war das jedenfalls so. Das hat sich erst nach einem langen Prozess des Emanzipationskampfes und der Identitätsentwicklung verändert. Ich möchte daher die These aufstellen, dass Lesben umso selbstbewusster mit äußeren Anfeindungen umgehen können, je mehr sie sich selbst akzeptieren und je mehr sie sich aus der Defensive herauswagen.

Und wie bewerten Sie die Situation von Lesben und Schwulen vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Klimas in Deutschland und Europa?

Ich finde es erschreckend, dass rechte populistische Parteien aktuell so viel Zulauf haben. Denn sie empfinden Menschen, die anders sind, als Bedrohung. Dadurch werden Randgruppen wieder mehr abgelehnt und ausgegrenzt. Gerade mit Blick auf die deutsche Nazi-Vergangenheit gilt es, sich für die freiheitlichen Grundrechte stark zu machen.

Interview: Uta Hofele

Lising Pagenstecher

...ist 88 Jahre alt. Sie arbeitete von 1967 bis 1993 als Wissenschaftlerin am Deutschen Jugendinstitut – zunächst in den Abteilungen Jugend und Familie. Später beteiligte sich die promovierte Soziologin und Historikerin am Aufbau der Frauenforschung am DJI und war sechs Jahre lang Vorsitzende des Betriebsrats. Sie engagierte sich zehn Jahre lang am „Runden Tisch zur Gleichstellung von Lesben und Schwulen“ der Stadt München und wurde für ihren vielfältigen Einsatz für lesbische Emanzipationsprozesse sowie für Geschlechtergerechtigkeit im Jahr 2011 mit der Medaille “München leuchtet“ ausgezeichnet.

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 2/2018 der DJI Impulse „Jung und queer – Über die Lebenssituation von Jugendlichen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans* oder queer sind“.

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