Besonders gefährdet: junge Menschen beim Ankommen nach der Flucht

Das Risiko, psychisch zu erkranken, ist bei Kindern und Jugendlichen, die ohne ihre Eltern nach Deutschland geflüchtet sind, groß. Diskriminierungserfahrungen, Einsamkeit und die Sorge um Familienmitglieder können dies verstärken. An diesen Punkten lässt sich aber auch ansetzen, um ihr Wohlergehen zu verbessern.

Von Fabienne Hornfeck, Selina Kappler und Heinz Kindler

Jedes Jahr kommen geflüchtete Kinder und Jugendliche ohne Begleitung einer sorgeberechtigten Person in Deutschland an (European Migration Network 2018). Ende 2023 befanden sich hierzulande fast 40.000 unbegleitete minderjährige Geflüchtete, für deren Unterbringung, Versorgung und Betreuung die Kinder- und Jugendhilfe primär zuständig ist (Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales 2023). Die Gründe dafür, warum sie ohne ihre Eltern oder nahe Bezugspersonen die Grenze nach Deutschland überquerten, sind vielfältig: manche sind Waisen, andere haben ihreFamilien in ihrem Herkunftsland zurückgelassen und hoffen auf ein Leben mit besseren Bildungs- und Berufsmöglichkeiten als in ihrem Heimatland, wieder andere wurden während der Flucht vor Krieg und Verfolgung von ihren Eltern getrennt. Allen ist aber gemeinsam, dass sie während einer sensiblen Entwicklungsphase ohne den Schutz einer nahestehenden Bezugsperson enormen Gefahren ausgesetzt sind.

Die gehäufte Konfrontation mit Bedrohung und Verlust macht verletzlich

Zahlreiche Studien aus Deutschland und anderen Ländern weltweit zeigen, dass es sich bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen um eine besonders vulnerable Gruppe handelt: Sie sind vor, während und nach ihrer Flucht wiederholt kritischen und potenziell traumatischen Lebensereignissen ausgesetzt (Jud/Pfeiffer/Jarczok 2020). Diese können sie in ihrer psychischen, sozialen und emotionalen Entwicklung beeinträchtigen und dazu führen, dass sie psychopathologische Auffälligkeiten entwickeln. Vor allem Anzahl und Schwere belastender Lebensereignisse beeinflussen Studien zufolge die psychische Gesundheit (Höhne u.a. 2020). Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), Depressionen und Angstzustände haben sich als die am häufigsten auftretenden psychischen Probleme bei unbegleiteten jungen Geflüchteten erwiesen (Daniel-Calveras/Baldaquí/Baeza 2022, El Baba/Colucci 2018). Solche psychischen Probleme bleiben häufig über längere Zeiträume bestehen (Jensen u.a. 2019, Jakobsen u.a. 2017).

Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind vor, während und nach ihrer Flucht wiederholt kitischen und potenziell traumatischen Lebensereignissen ausgesetzt.

Nach ihrer Ankunft kommen weitere Herausforderungen auf die jungen Geflüchteten zu (Fazel u.a. 2012): prekäre Lebensbedingungen, Diskriminierungserfahrungen, finanzielle Notlagen, Sorgen um Familienangehörige und die Angst vor einer Abschiebung. Diese sogenannten Postmigrationsstressoren stellen ebenso Risikofaktoren für die psychische Gesundheit dar, da sie zu andauernden Unsicherheiten beitragen und die Verarbeitung und Integration traumatischer Erlebnisse erschweren können (Miller/Rasmussen 2017). Dennoch erholt sich ein großer Teil der geflüchteten Kinder und Jugendlichen im neuen Umfeld und passt sich erfolgreich an. Förderlich dabei wirken Faktoren wie etwa soziale Unterstützung (durch Betreuer:innen und Peers) und regelmäßige Kontakte zu zurückgebliebenen Familienmitgliedern (Höhne u.a. 2022). Auch eine erfolgreiche Akkulturation der jungen Geflüchteten, also die Anpassung an die Kultur der Aufnahmegesellschaft bei gleichzeitigem Beibehalten der Herkunftskultur, wirkt sich positiv auf ihre psychische Gesundheit aus und umgekehrt (Scharpf u.a. 2021). Wie bedeutsam die Rahmenbedingungen im Aufnahmeland sind, zeigen auch Analysen des Forschungsprojekts „Better Care – Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung unbegleiteter junger Flüchtlinge durch gestufte Versorgungsansätze“.

Fluchtbedingte psychische Belastungen treffen auf Stress im Aufnahmeland

Im Rahmen des Verbundprojekts wurden insgesamt mehr als 600 unbegleitete junge Geflüchtete, die vor allem in stationären Wohngruppen der Jugendhilfe lebten, zu ihren psychischen Belastungen befragt. 120 dieser Jugendlichen, die 2020 und 2021 in die Studie aufgenommen wurden, wurden von DJI-Forschenden 24 Monate lang begleitet und wiederholt befragt. Dabei ging es um psychopathologische Symptome, das Erleben von Postmigrationsfaktoren und Teilhabemöglichkeiten. Die Ergebnisse zu psychischen Belastungen entsprechen internationalen Befunden. Die eingesetzten Screening-Instrumente belegten zu Beginn der Erhebung hohe Raten klinisch relevanter Symptome von PTBS, Depressionen und Angststörungen, wobei das Ausmaß der Symptome über einen Zeitraum von zwei Jahren anhaltend hoch blieb (Hornfeck u.a. 2024).

Als einflussreichster Faktor für die anfängliche Belastung erwies sich in dieser Studie die Anzahl an traumatischen Erfahrungen, wie das Miterleben von Gewalt und Tötungen oder Naturkatastrophen. Je mehr solcher Erfahrungen in der Vorgeschichte auftraten, desto höher waren auch die ermittelten Werte in den standardisierten Fragebögen zur Erfassung von PTBS-, Depressions- und Angstsymptomen. Die Auswertungen zeigen aber auch, dass das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen über die Zeit hinweg immer stärker von den situativen Bedingungen und Stressoren im Aufnahmeland beeinflusst wurde. Vor allem das Ausmaß an erlebten sozialen Stressauslösern wie Diskriminierungserfahrungen, Einsamkeit oder Langeweile sowie Ängsten im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsstatus, aber auch der Kontakt zu und die Sorge um Familienmitglieder spielten eine entscheidende Rolle für die Symptomausprägung in dem untersuchten Zeitraum von zwei Jahren. Mehr Kontakt zu Familienmitgliedern scheint sich positiv auf die psychische Belastung auszuwirken. Aus den Analysen ergab sich jedoch kein einheitliches Muster im Zeitverlauf, sodass davon auszugehen ist, dass die Bedeutung der untersuchten Faktoren individuell und über die Zeit hinweg variiert. So müssen sich die jungen Geflüchteten beispielsweise mit Beginn der Volljährigkeit damit auseinandersetzen, dass die staatlichen Unterstützungsleistungen unter Umständen nicht weiter gewährt werden, obwohl sie weiterhin Hilfebedarf haben.

Das große Risiko für chronische Verläufe ist alarmierend und für die Betroffenen wie das Aufnahmeland mit hohen Kosten verbunden.

Weitere Analysen aus dem Forschungsprojekt „Better Care“ weisen nach, dass auch das Ausmaß an Offenheit und Vertrauen in der Wohngruppe das Auftreten von psychopathologischen Symptomen bei den dort lebenden jungen Geflüchteten abschwächt. Darüber hinaus wirken sich Postmigrationsfaktoren nicht nur auf das psychische Wohlbefinden aus, sondern auch auf Akkulturationsstrategien der jungen Geflüchteten und damit auf ihre Integration in das neue Umfeld (Garbade u.a. 2023) sowie auf ihre Lebensqualität (Garbade u.a. 2024, im Erscheinen).

Ein Ausbau an Therapieangeboten allein reicht nicht aus

Die Förderung psychischer Gesundheit gehört bei der Vielzahl an Herausforderungen in der Betreuung von unbegleiteten jungen Geflüchteten bisher nicht zu den priorisierten Aufgaben von Politik, Fachkräften und Jugendlichen selbst. Zunächst muss die Unterbringungssituation geklärt, eine Schule gefunden und mit dem Erlernen der deutschen Sprache begonnen werden. Auch wenn diese Maßnahmen bereits zu einer Stabilisierung beitragen und sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirken können, ist eine schnelle professionelle Behandlung vor allem bei schweren psychischen Erkrankungen wichtig. Das große Risiko für chronische Verläufe ist alarmierend und für die Betroffenen wie das Aufnahmeland mit hohen Kosten verbunden. Der schnelle und einfache Zugang zu kultursensiblen, traumafokussierten Therapieangeboten kann hierbei Abhilfe schaffen.

Doch ein Ausbau an Therapieangeboten allein reicht nicht aus: Es bedarf einer engmaschigen Begleitung und Unterstützung durch die Betreuungspersonen in den Jugendhilfeeinrichtungen, damit die jungen Geflüchteten über Therapieangebote aufgeklärt und zu diesen begleitet werden. Dafür mangelt es an den notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen. Einige Geflüchtete sind zudem nach einer meist jahrelangen Flucht mit vielen Herausforderungen nicht umgehend bereit, sich auf Psychotherapieverfahren einzulassen, die die belastenden Erfahrungen thematisieren. Schließlich bekommen – wie bereits beschrieben – mit zunehmender Aufenthaltsdauer die Alltagsbedingungen im Aufnahmeland eine größere Bedeutung für das Fortbestehen oder Neuauftreten von psychischen Problemen. An solchen Faktoren frühzeitig anzusetzen kann ebenfalls das psychische Wohlbefinden der jungen Geflüchteten verbessern.

Um sicherzustellen, dass dies gelingt, sind die Mitarbeitenden in den Jugendhilfeeinrichtungen und in den Jugendämtern ebenso gefragt wie die politisch Verantwortlichen. In Bezug auf die förderliche Funktion des Kontakts zu Familienmitgliedern kann es beispielsweise hilfreich sein, den Kindern und Jugendlichen einen Computer mit Internetzugang oder ein Telefon zur Verfügung zu stellen, um den Kontakt zur Familie zu halten. In diesem Zusammenhang sind auch die ausländerrechtlichen Möglichkeiten einer Familienzusammenführung frühzeitig abzuklären.

Um den jungen Geflüchteten zukunftsorientierte Perspektiven zu eröffnen, müssen alle beteiligten Aktuer:innen besser zusammenarbeiten.

Die Ergebnisse der Befragungen im Rahmen des Projekts „Better Care“ weisen auch auf die Notwendigkeit hin, sich Fragen der psychischen Gesundheit von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Wohngruppen im zeitlichen Verlauf immer wieder neu zu widmen: Denn innerhalb von Monaten oder sogar Wochen können sich neue Herausforderungen ergeben, sodass die individuellen und kontextuellen Bedingungen zum jeweiligen Zeitpunkt neu zu bewerten sind. So können die nahende Volljährigkeit, der bevorstehende Schulabschluss, der Auszug aus der Jugendhilfeeinrichtung Unsicherheiten mit sich bringen, die destabilisierend wirken und gegebenenfalls eine erfolgreiche gesellschaftliche Teilhabe erschweren. Um den jungen Geflüchteten zukunftsorientierte Perspektiven zu eröffnen, die über die Grenzen des Jugendhilfesystems und der Aufenthaltsverfahren hinausgehen, müssen alle beteiligten und verantwortlichen Akteur:innen besser zusammenarbeiten. Und nicht zuletzt braucht es für ein gesundes Aufwachsen größtmögliche Transparenz gegenüber den jungen Menschen, damit sie Vertrauen und Zuversicht entwickeln können.

Bayerisches Staatsministerium Für Familie, Arbeit Und Soziales (2023): UMA-Bestandszahlen Bund, 30.11.2023

Daniel-Calveras, Andrea / Baldaquí, Nuria / Baeza, Inmaculada (2022): Mental health of unaccompanied refugee minors in Europe: A systematic review. In: Child Abuse & Neglect, 133. Jg., S. 105865


El Baba, Reem / Colucci, Erminia (2018): Post-traumatic stress disorders, depression, and anxiety in unaccompanied refugee minors exposed to war-related trauma: a systematic review. In: International Journal of Culture and Mental Health, 11. Jg., H. 2, S. 194–207

European Migration Network (2018): Approaches to Unaccompanied Minors Following Status Determination in the EU plus Norway. Synthesis Report for the EMN Study FAZEL, MINA u.a. (2012): Mental health of displaced and refugee children resettled in high-income countries: risk and protective factors. In: The Lancet, 379. Jg., H. 9812, S. 266–282

Garbade, Maike u.a. (2023): Factors affecting the acculturation strategies of unaccompanied refugee minors in Germany. In: Frontiers in psychology, 14. Jg., S. 1149437

Garbade, Maike u.a. (2024, im Erscheinen): Quality of life in unaccompanied young refugees: the role of traumatic events, post-migration stressors and mental distress. In: Quality of Life Research

Höhne, Edgar u.a. (2020): A systematic review of risk and protective factors of mental health in unaccompanied minor refugees. In: European Child & Adolescent Psychiatry

Höhne, Edgar u.a. (2022): Prevalences of mental distress and its associated factors in unaccompanied refugee minors in Germany. In: European Child & Adolescent Psychiatry, 31, S. 1–15

Hornfeck, Fabienne u.a. (2023): Mental health problems in unaccompanied young refugees and the impact of post-flight factors on PTSS, depression and anxiety – A secondary analysis of the Better Care study. In: Frontiers in psychology, 14. Jg., S. 1149634

Hornfeck, Fabienne u.a. (2024, under review): Trajectories of mental health problems in unaccompanied young refugees in Germany and the changing impact of post-migration factors – a longitudinal study. In: European child & adolescent psychiatry

Jakobsen, Marianne u.a. (2017): The impact of the asylum process on mental health: a longitudinal study of unaccompanied refugee minors in Norway. In: BMJ open, 7. Jg., H. 6, e015157

Jensen, Tine K. u.a. (2019): Long-term mental health in unaccompanied refugee minors. Pre- and post-flight predictors. In: European child & adolescent psychiatry, 28. Jg., S. 1671–1682

Jud, Andreas / Pfeiffer, Elisa / Jarczok, Marion (2020): Epidemiology of violence against children in migration: A systematic literature review. In: Child Abuse & Neglect, 108. Jg., S. 104634

Miller, Kenneth E. / Rasmussen, Andrew (2017): The mental health of civilians displaced by armed conflict: an ecological model of refugee distress. In: Epidemiology and psychiatric sciences, 26. Jg., H. 2, S. 129–138

Scharpf, Florian u.a. (2021): A systematic review of socio-ecological factors contributing to risk and protection of the mental health of refugee children and adolescents. In: Clinical psychology review, 83. Jg., S. 101930

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2024 von DJI Impulse „Psychisch stark werden“ (Download PDF).

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