„Der Zugang zu Psychotherapien ist für junge Geflüchtete extrem schwierig“

Junge Menschen, die ohne Eltern oder Verwandte aus ihrer Heimat fliehen, müssen vielfältige Belastungen bewältigen, erklärt die Psychologin Rita Rosner.  Welche Unterstützung die oft traumatisierten Jugendlichen brauchen, warum Sozialarbeiter:innen dabei eine zentrale Rolle zukommt und woran Psychotherapien  derzeit oft scheitern.

DJI Impulse: Frau Prof. Dr. Rosner, unbegleitete junge Geflüchtete haben auf ihrer Flucht vor Krieg oder Krisen oft Schlimmes erlebt. Viele sind traumatisiert. Welche Hilfe benötigen diese Jugendlichen?

Prof. Dr. Rita Rosner: Sicherheit steht erst einmal im Vordergrund. Dies bedeutet nicht nur eine sichere Unterkunft, Nahrung und Zugang zu medizinischer Versorgung, sondern auch eine Aufklärung darüber, wie es jetzt weitergeht. Viele junge Geflüchtete haben ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft auf das Erreichen ihres Fluchtziels gesetzt. Nun kann es aber sein, dass das Leben im neuen Land ganz anders als erwartet ist. Rechtliche Aspekte sind ebenso zu klären wie Perspektiven in Schule und Ausbildung. Dazu brauchen die jungen Menschen, ganz besonders auch wegen ihres Alters, verbindliche Ansprechpartner:innen,  die Orientierung und Unterstützung bieten können. Viele Jugendliche haben aufgrund der hohen Belastungen auf der Flucht psychische Probleme entwickelt und benötigen nun angemessene Hilfe und im Falle von psychischen Störungen Zugang zu Psychotherapie. 

Prof. Dr. Rita Rosner  ist Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische und Biologische Psychologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Die psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin leitet das Projekt „Better Care“. Rosner lehrt und forscht unter anderem zur Posttraumatischen Belastungsstörung, zu kultur­sensitiver Diagnostik und Psycho­therapie, zu anhaltender Trauer­störung und zur Implementation evidenz­basierter psychotherapeutischer Verfahren.

Ein Teil der Jugendlichen mit traumatischen Erfahrungen erholt sich im neuen Umfeld-  des Aufnahmelands schnell. Warum ist es dennoch wichtig, auch sie präventiv zu behandeln?

Aus Vorstudien wissen wir, dass sich manche Jugendliche erholen, bei anderen bleiben die psychischen Störungen aber stabil oder verschlechtern sich in Deutschland sogar. Man darf nicht vergessen, dass die Geflüchteten weiterhin viele Belastungen bewältigen müssen: Sie müssen den Einstieg in Schule und Ausbildung meistern, machen vielleicht Diskriminierungserfahrungen, gleichzeitig müssen sie mit der Unsicherheit bezüglich der eigenen Zukunft im Aufnahmeland umgehen. Und natürlich bleibt die Belastung in der Heimat. Immer wieder werden sie mit weiteren Gefahren für ihre Familienmitglieder und Todesfällen konfrontiert. Manchmal ist der Kontakt auch völlig abgebrochen, und die jungen Geflüchteten wissen nicht, ob ihre Verwandten noch am Leben sind. Gerade diejenigen, die belastet, aber noch nicht krank sind, können präventiv unterstützt werden. Wenn sie gelernt haben, mit den traumatischen Erinnerungen und posttraumatischen Symptomen, wie beispielsweise Schlafstörungen oder Übererregung, umzugehen, können sie sich besser auf die aktuellen Herausforderungen konzentrieren. Sie kommen dann besser mit ihrem Alltag zurecht, können erste Erfolge in Schule und Ausbildung erleben, und damit wird eine Verbesserung und Stabilisierung möglich.

Erhalten junge Geflüchtete in Deutschland schnell genug die richtige Hilfe?

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden in Deutschland in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe betreut – das ist schon einmal ein großer Vorteil im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Aber auch in Deutschland unterscheiden sich diese Einrichtungen stark. Es gibt große Qualitätsunterschiede, die unter anderem mit dem Personalschlüssel, den Vorerfahrungen der Mitarbeitenden, Teameigenschaften und vielem mehr zu tun haben. Gerade in der Coronazeit mussten viele Einrichtungen aus finanziellen Gründen schließen.  Die jungen Geflüchteten erlebten dadurch weitere Umbrüche und Unsicherheiten, die sie nicht beeinflussen konnten. Gleichzeitig war und ist der Zugang zu Psychotherapien für sie extrem schwierig. Insgesamt haben wir zu wenige Therapieplätze für Kinder und Jugendliche. Die Barrieren für Geflüchtete sind aber noch einmal höher. Und das, obwohl viele Einrichtungsmitarbeitende berichten, dass die unbegleiteten jugendlichen Geflüchteten an psychischen Problemen leiden, wie etwa Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen und posttraumatischen Symptomen.

Die Geflüchteten kommen häufig aus Regionen, in denen psychische Erkrankungen nicht behandelt und eigentlich auch nicht erkannt werden.

Vor welchen Barrieren stehen junge Geflüchtete?

Da gibt es eine große Zahl. Ich kann hier nur einige exemplarisch nennen. Zum einen gibt es die sprachlichen Barrieren – für eine Psychotherapie müssen entweder Sprach- und Kulturmittler:innen hinzugezogen werden, oder man muss warten, bis die Jugendlichen ausreichend gut Deutsch sprechen. Die Geflüchteten kommen häufig aus Regionen, in denen psychische Erkrankungen nicht behandelt und eigentlich auch nicht erkannt werden. Selbst junge Menschen mit schweren Symptomen verstehen deshalb nicht immer, dass eine psychotherapeutische Behandlung hilfreich wäre. Manche erhoffen sich, dass eine einfache Tablette ihre psychischen Probleme beheben kann. Für diese besonderen Umstände, die ein kultursensibles Vorgehen sowie sprachliche Kompetenzen erfordern, fühlen sich auch viele Therapeut:innen nicht ausreichend gerüstet. Gerade im Umgang mit schweren Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung fehlt ihnen zudem oft die Erfahrung. Und nicht zuletzt gibt es strukturelle Probleme: Beispielsweise haben Therapeut:innen ihre Praxen überwiegend in Städten, während viele Jugendhilfeeinrichtungen auf dem Land sind. Schwierigkeiten gibt es auch in Hinblick auf die Finanzierung der Therapie.

In Ihrem Forschungsprojekt konnten circa 600 psychisch belastete junge Geflüchtete, die meist in Wohngruppen der Jugendhilfe leben, kostenfrei an einem neuen gestuften Versorgungsmodell teilnehmen. Wie haben Sie es geschafft, Sprachbarrieren und Ängste vor einer Therapie abzubauen?

Die Sprachbarriere konnte durch die gezielte Schulung von Sprachmittler:innen in der Übersetzung von traumafokussierter Psychotherapie abgebaut werden. Zudem wurden die Kosten für die Sprachmittler:innen vom Projekt getragen, da diese leider nur in sehr seltenen Fällen von Krankenkassen oder anderen Trägern übernommen werden. Beim Abbau von Ängsten der Jugendlichen haben die Mitarbeitenden in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe eine zentrale Rolle. Wenn sie bemerken, dass Jugendliche psychische Probleme haben und von Unterstützung profitieren könnten, ist das der wichtige erste Schritt. Die Jugendlichen brauchen die Einschätzung und Motivationshilfe der Sozialarbeiter:innen. Denn die meisten können sich unter einer Psychotherapie zunächst nicht viel vorstellen. Erst wenn die Symptome im Laufe der Therapie besser werden, entwickeln sie eine eigene Motivation. Vonseiten des Forschungsprojekts wurden für diese so wichtige Aufklärungsarbeit Informationsmaterialien in verschiedenen Sprachen zur Verfügung gestellt. Außerdem wurden Kontaktdaten von geschulten Psychotherapeut:innen herausgegeben, sodass die Mitarbeitenden eine direkte Anlaufstelle hatten. Wir haben Dolmetscher:innen geschult, alle Informationsvideos in mehreren Sprachen bereitgestellt, Therapeut:innen in kultursensibler Traumatherapie geschult und versucht, den Kontaktaufbau zwischen ihnen und Jugendhilfemitarbeitenden zu fördern.

An der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Psychotherapie haben wir noch einen riesigen Verbesserungsbedarf.

Kultursensible Beratung und Behandlung, Kostenübernahme, Shuttleservice zur Therapiestunde – in ihrem Projekt haben sie versucht, viele Barrieren für eine Therapie abzubauen. Haben Sie so alle jungen Geflüchteten mit Hilfebedarfen erreicht?

Leider nein. Wir haben aber versucht, alle strukturellen und inhaltlichen Barrieren zu verringern. Das ist einerseits gelungen, aber andererseits müssen offenbar weitere individuelle Faktoren junger Geflüchteter und deren Umfeld genauer betrachtet werden. Um die Bereitschaft zu steigern, psychotherapeutische Angebote in Anspruch zu nehmen, müssen womöglich noch mehr Informationen zu psychischer Gesundheit und Psychotherapie gegeben werden – sowohl an die Jugendlichen selbst als auch an die Mitarbeitenden der Kinder- und Jugendhilfe. Denn interessanterweise wünschen sich Sozialarbeiter:innen dringend mehr Therapieplätze für junge Menschen, dann aber werden diese nicht angenommen. In unserem Projekt hing es jedenfalls stark von einzelnen Mitarbeitenden in den Einrichtungen ab, ob es zu einer Therapie kam und ob diese stabil aufgenommen wurde.

Wie erklären Sie sich die Zurückhaltung mancher Sozialarbeiter:innen?

Zunächst müssen wir natürlich anmerken, dass ein Großteil der Projektlaufzeit während der Coronapandemie stattfand. Die Jugendhilfeeinrichtungen standen in dieser Zeit unter enormem Druck. Personalengpässe verhinderten häufig eine Umsetzung aller Bestandteile des Projekts – oder sogar die komplette Teilnahme. Die Mitarbeitenden sind in ihrem Arbeitsalltag aber generell stark beansprucht und haben oft nicht die Ressourcen, eine Psychotherapie anzubahnen, geschweige denn zu begleiten. Zumal der Zeitaufwand bei weiten Entfernungen zwischen psychotherapeutischen Praxen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe groß ist. Zudem ist bekannt, dass unter Sozialarbeiter:innen hohe Raten an Traumatisierungen vorliegen. Eigene traumatische Erfahrungen können unter Umständen dazu führen, dass Mitarbeitende es vermeiden, sich mit traumatischen Inhalten der Geflüchteten zu beschäftigen, beispielsweise im Rahmen einer Psychotherapie.

 

Liefert Ihre Studie weitere Hinweise zu möglichen Ursachen?

Hier können wir nur auf einzelne Rückmeldungen in den qualitativen Befragungen zurückgreifen. Zum einen gibt es eine große Unkenntnis bezüglich dessen, was eine Traumatherapie ist. Risiken werden überschätzt. Mitarbeitende machen sich Sorgen, dass durch die Aufarbeitung von Traumata noch mehr Arbeit auf sie zukommen könnte. Zum anderen weichen die Sichtweisen der Fachkräfte und die Berichte der Jugendlichen oft voneinander ab: Erstere erleben eine sehr hohe Funktionalität der jungen Geflüchteten und sind dann von deren tatsächlicher Belastung und dem Therapiebedarf überrascht. Insgesamt lässt sich also zusammenfassen: An der Schnittstelle zwischen Jugendhilfe und Psychotherapie haben wir noch einen riesigen Verbesserungsbedarf.


Wie lassen sich weitere Verbesserungen erreichen?

Wir hatten darauf gehofft, dass wir durch Förderung der lokalen Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfeeinrichtungen und Therapeut:innen die Hürden deutlich abbauen können. Allerdings erschwerte die Pandemie dies, da wir die Treffen zum großen Teil digital abhalten mussten, und das funktionierte deutlich schlechter. Dennoch sollten wir dieses Ziel weiterverfolgen. Zudem ist es wichtig, Sozialarbeiter: innen über psychische Erkrankungen und Psychotherapie zu informieren, sodass mögliche Vorbehalte abgebaut werden können. Auch die langfristigen Folgen von unbehandelten psychischen Erkrankungen müssen besser bekannt gemacht werden. Zudem können weitere Akteur:innen, wie etwa Schulpsycholog:innen oder Schulsozialarbeiter: innen, involviert werden, um an möglichst vielen Stellen Informationen bereitzustellen. Auf Ebene der Kinder- und Jugendhilfe wäre es nicht zuletzt wünschenswert, wenn es mehr Stellen für die Betreuung dieser besonders vulnerablen Gruppe gäbe.

… was dauerhaft mehr Geld kosten würde. Ob sich diese Investitionen lohnen, ist eine zentrale Forschungsfrage Ihrer Studie. Wann werden Sie die Ergebnisse zu Umsetzbarkeit und Effizienz des gestuften Versorgungsmodells voraussichtlich veröffentlichen?


Wir schließen die Datenerhebung im Herbst 2024 ab und hoffen, dass wir im Frühling 2025 die ersten Ergebnisse präsentieren können.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Birgit Lindner

 

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2024 von DJI Impulse „Psychisch stark werden“ (Download PDF).

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