Psychisches Wohlergehen von Jugendlichen – mehr als ein Gesundheitsthema

Ob und wie junge Menschen psychische Krisen erfolgreich bewältigen, hängt von ihrer individuellen Lebenssituation sowie damit verbundenen Belastungen und Ressourcen ab. Zu einer wirksamen Gesundheitsförderung gehören deshalb nicht nur gute Unterstützungsangebote für erkrankte Jugendliche.

Von Lisa Hasenbein und Mike Seckinger

An regelmäßige Mitteilungen darüber, dass Jugendliche und junge Erwachsene zunehmend unter psychischen Belastungen leiden und es von Jahr zu Jahr schlimmer zu werden scheint, haben wir uns inzwischen alle gewöhnt. Doch stimmt der in Medien und Diskussionen vermittelte Eindruck, und was folgt daraus? Betrachtet man die Ergebnisse des bundesweit repräsentativen Surveys des Deutschen Jugendinstituts (DJI) „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A), bei dem regelmäßig über 4.000 Jugendliche und junge Erwachsene befragt werden, zeigt sich: In der AID:A Befragung 2019 beschreiben 88 Prozent der 12- bis 19-Jährigen ihren Gesundheitszustand als „sehr gut“ oder „gut“. Lediglich knapp 1 Prozent bezeichnet ihn als „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Ein erster Blick in die vorläufigen Ergebnisse der AID:A-Befragung 2023 lässt erkennen, dass es hier keine großen Veränderungen gibt.

Diese positive subjektive Bewertung des eigenen Gesundheitszustandes unterscheidet sich somit erheblich von den Ergebnissen anderer wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die allein schon bei psychischen Erkrankungen von einem 10- bis 20-prozentigen Anteil an betroffenen jungen Menschen ausgehen (Reiß u.a. 2023) oder gar Werte von bis zu über 30 Prozent nennen (Ravens-Sieberer u.a. 2022), also das Bild einer kränkeren Jugend vermitteln. Die Differenz zwischen der Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes und der Diagnose einer Erkrankung verweist darauf, dass Gesundheit und Wohlergehen erstens unscharfe Kategorien sind und zweitens nicht jede Form von Erkrankung als ein negativer Zustand erlebt wird.

Eine Diagnose ist nicht gleichzusetzen ist mit dem Gefühl, krank zu sein

Dies zeigen auch die noch unveröffentlichten Ergebnisse der bislang größten Befragung junger Menschen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Jugendhilfe in Deutschland, bei der das DJI einer von vier Kooperationspartnern ist. In dieser Langzeitstudie mit dem Titel „Care Leaver Statistics“ (CLS) werden wiederholt etwa 1.100 16- bis 19-Jährige befragt, die in Pflegefamilien, Heimen oder anderen betreuten Wohnformen leben. Im Jahr 2023 bejahten etwas mehr als 37 Prozent von ihnen, dass sie psychisch erkrankt seien, und zugleich beschreibt die Hälfte dieser erkrankten Jugendlichen ihren Gesundheitszustand als „ausgezeichnet“ oder „gut“. Dieser Befund, dass eine Diagnose nicht gleichzusetzen ist mit dem Gefühl, krank zu sein, verweist darauf, dass die Verortung auf dem Kontinuum zwischen gesund und krank von vielen Faktoren abhängig ist. Einzelne Beeinträchtigungen führen häufig nicht zu generalisiertem Unwohlsein.

Steigt die Belastung bei jungen Menschen, stellen sich Fragen der Generationengerechtigkeit

Mit Blick auf die vielfältigen Anforderungen, welche das Erwachsenwerden mit sich bringt, wird Jugendlichen oftmals eine besondere Vulnerabilität zugesprochen, also eine besondere Verletzlichkeit gegenüber negativen Umweltbedingungen und eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Erkrankungen. Die jungen Menschen müssen sich mit Fragen wie „Wer bin ich?“ und „Wo will ich im Leben hin?“ auseinandersetzen. Wer sich diese Fragen selbst gestellt hat, weiß: Die Antworten darauf finden sich weder über Nacht noch ohne Anstrengung. Anders gesagt: Das Jugendalter ist immer auch von inneren Konflikten und Krisen geprägt.

Das Jugendalter ist immer auch von inneren Krisen und Konflikten geprägt.

Inwiefern junge Menschen gesund aufwachsen – das heißt Krisen erfolgreich bewältigen, anstatt unter andauernden Belastungen zu leiden –, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Der 13. Kinder- und Jugendbericht betont in diesem Zusammenhang, dass Gesundheitsförderung insbesondere auch die Sicherstellung ausreichender materieller, sozialer und ökologischer Ressourcen bedeute sowie „die Reduktion gesellschaftlich ungleich verteilter Risiken, Stressoren und Belastungen“. Empirische Hinweise darauf, dass die psychische Belastung einzelner Bevölkerungsgruppen ansteigt, sind damit zugleich ein Aufruf, sich über die gesellschaftliche Verteilung von Ressourcen und Stressoren Gedanken zu machen. Steigt die Belastung bei jungen Menschen, so stellen sich auch Fragen der Generationengerechtigkeit.

Einsamkeit ist ein Risikofaktor für die psychische Gesundheit

Im DJI-Projekt „Jung, trans, nicht-binär“ wurden junge trans und nicht binäre Personen zwischen 16 und 29 Jahren zu ihrer Lebenssituation befragt (Stemmer/Gavranic 2024, im Erscheinen). Zusätzlich zu den alterstypischen Herausforderungen sind diese jungen Menschen damit konfrontiert, dass ihre geschlechtliche Identität nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht. Dies geht für viele von ihnen mit Diskriminierungserfahrungen sowie Gefühlen der Andersartigkeit, mangelnder Unterstützung und fehlender Anerkennung einher. Als Folge berichten viele von psychischen Belastungen bis hin zur Suizidalität. Sie stellen wiederholt das Erleben von Einsamkeit – im Sinne sozialer Isolation und des Gefühls, mit den eigenen Erfahrungen allein zu sein – als große Belastung heraus.

Einsamkeit ist ein Thema, das erst in den vergangenen Jahren vermehrt auch als Belastung für junge Menschen in den Fokus gerückt ist (zum Beispiel Thomas 2022). Ein Risiko für das individuelle Wohlbefinden besteht insbesondere dann, wenn das Gefühl der Einsamkeit dauerhaft besteht und junge Menschen ihre Bedürfnisse nach Kontakt und Zugehörigkeit für längere Zeit nicht erfüllen können.


Wie sehr Einsamkeitserleben mit einem niedrigeren Wohlbefinden zusammenhängt, zeigen auch die Daten der CLS-Studie: Die Jugendlichen, die sich selbst als einsam beschreiben, bewerten den eigenen Gesundheitszustand als erheblich schlechter als diejenigen, die von sich sagen, dass sie überhaupt nicht einsam sind (siehe Abbildung).

Ein ähnlicher Unterschied in der Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands zeigt sich zwischen Jugendlichen, die angeben, dass sie bei Problemen immer eine Ansprechpersonfinden, und denjenigen, für die das überhaupt nicht der Fall ist: Letztere bewerten den eigenen Gesundheitszustand als deutlich schlechter. Demgegenüber erscheinen die Unterschiede in der Bewertung des eigenen Gesundheitszustands zwischen Jugendlichen mit und ohne körperlicher beziehungsweise psychischer Erkrankung verhältnismäßig gering. Selbst das Gefühl, durch die eigene psychische Erkrankung eingeschränkt zu sein, hat keinen großen Einfluss darauf, ob die Jugendlichen ihren Gesundheitszustand als besser oder schlechter beschreiben.

Viele Jugendliche können Belastungen gut bewältigen

Die Mehrheit (77 Prozent) der Jugendlichen aus der CLS-Studie, die sich als psychisch erkrankt beschreiben, geben an, dass sie mit ihrer Erkrankung in Behandlung sind. Diejenigen, die sich nicht in Behandlung befinden, begründen es damit, dass sie keine Notwendigkeit sehen (33 Prozent), es nicht wollen (25 Prozent), bereits negative Erfahrungen mit einer Behandlung gemacht haben (17 Prozent), auf einer Warteliste stehen (14 Prozent) oder nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen (9 Prozent).

Der Zugang zu Hilfe und Unterstützung ist längst nicht für alle jungen Menschen gleich.

Betrachtet man psychische Belastungen mit einem breiten krisentheoretischen Verständnis, ergeben sich neben der professionellen Behandlung eine Reihe von Bewältigungsstrategien beziehungsweise Hilfe- und Unterstützungsmöglichkeiten – insbesondere auch unter Einbezug des Umfelds der jungen Menschen, wie etwa die Veränderung bestehender Lebensumstände und die Stärkung sozialer und psychologischer Ressourcen (Baumgardt/Weinmann 2022). Diese zeigen sich auch in den Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Projekt „Jung, trans, nicht-binär“. Einige der jungen trans und nicht binären Menschen besitzen ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit; sie greifen auf individuelle und kontextuelle Ressourcen zurück, die ihnen als Quellen der Anerkennung, Akzeptanz und Freude dienen. Dazu zählen insbesondere die Zugehörigkeit zu queeren Communitys vor Ort sowie online, soziale Unterstützung durch Freundschaften und die Familie sowie wertschätzende und diskriminierungsfreie Räume, beispielsweise Jugendgruppen, die es ermöglichen, „einfach mal nur jugendlich zu sein“, wie es eine Interviewperson ausdrückt.

Unterstützung für psychisch belastete junge Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Der Zugang zu Hilfe und Unterstützung ist längst nicht für alle jungen Menschen gleich. Um die bestehenden Ungleichheiten zu verringern, ist ein Zusammenwirken von Akteur:innen gefragt, im familiären und sozialen, bildungs- und gesundheitsbezogenen sowie politischen Bereich. Es gilt, bestehende Angebote – zum Beispiel zu Information und Fortbildung über psychische Belastungen und entsprechende Hilfen, (Peer-)Mentoring, Beteiligung und Gemeinschaft – einerseits auszubauen und andererseits zielgruppengerecht und diversitätssensibel auszugestalten. Gerade mit Blick auf das Thema Einsamkeit ist es wichtig, jungen Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht allein sind mit ihren Erfahrungen.

Um Angebote möglichst bedarfsgerecht und wirksam zu gestalten, sind verlässliche und über mehrere Zeitpunkte vergleichbare Daten zu psychischen Belastungen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen nötig. Die Überlegungen einer sogenannten „Mental Health Surveillance“ des Robert Koch-Instituts (RKI) greifen dies auf einer nationalen Ebene auf (Walther u.a. 2023). Entsprechende Befragungen, die schnell die häufigsten psychischen Erkrankungen erfassen, könnten auch für den institutionellen und lokalen Gebrauch eine Möglichkeit sein, bedarfsgerechte Unterstützungsmaßnahmen für junge Menschen zu planen (zum Beispiel Heinrich 2023).
 

Baumgardt, Johanna / Weinmann, Stefan (2022): Using crisis theory in dealing with severe mental illness – A step toward normalization? In: Frontiers in Sociology, 7. Jg., Artikel 805604

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2009): 13. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Bundestagsdrucksache 16/12860. Berlin

Heinrich, Angela (2023): Surveillance der psychischen Gesundheit Studierender an Hochschulen. In: Public Health Forum, 31. Jg., H. 3, S. 202–205

Ravens-Sieberer, Ulrike u.a. (2022): Child and adolescent mental health during the COVID-19 pandemic: Results of the three-wave longitudinal COPSY study. In: Journal of Adolescent Health, 71. Jg., H. 5, S. 570–578

Reiß, Franziska u.a. (2023): Epidemiologie seelischen Wohlbefindens von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus 3 Studien vor und während der COVID-19-Pandemie. In: Bundesgesundheitsblatt, 66. Jg., H. 7, S. 727–735

Stemmer, Emmie M. u.a. (2024, im Erscheinen): Zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Zur Lebenssituation von trans und nicht-binären Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland. München

Thomas, Severine (2022): Einsamkeitserfahrungen junger Menschen – nicht nur in Zeiten der Pandemie. In: Soziale Passagen, 14. Jg., H. 1, S. 97–112

Walther, Lena u.a. (2023): Mental Health Surveillance in Deutschland. In: Public Health Forum, 31. Jg., H. 3, S. 149–151

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2024 von DJI Impulse „Psychisch stark werden“ (Download PDF).

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