Seelische Gesundheit von Beginn an stärken
Eine wirksame Gesundheitsförderung muss früh ansetzen und die psychische Widerstandsfähigkeit aller Kinder und Jugendlichen verbessern. Warum dies eine breit angelegte Zusammenarbeit in Politik und Fachpraxis erfordert.
Von Sabine Walper
Jedes Kind, ob reich oder arm, ob mit oder ohne Behinderung oder psychische Auffälligkeit, hat das Recht darauf, im höchstmöglichen Maße gesund aufzuwachsen. Dies geht klar aus Artikel 24 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen hervor. Dabei geht es nicht nur um die Abwehr körperlicher Erkrankungen, sondern um weit mehr: Der UN-Kinderrechtsausschuss versteht unter Gesundheit – in Anlehnung an die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) – einen „Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ (WHO 1946). Die psychische Gesundheit steht demnach nicht hinter der körperlichen Gesundheit oder Beeinträchtigungen der sozialen Entwicklung zurück. Sie ist ein essenzieller Bestandteil der Gesundheit junger Menschen, der zunehmend in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt ist. Psychische Erkrankungen gehören heute allerdings weltweit zu den häufigsten Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Sie sind facettenreich und können sich in einer Vielzahl von Erscheinungsbildern sowie unterschiedlichen Schweregraden niederschlagen. Vor allem in der Kindheit sind dabei alterstypische Entwicklungen zu berücksichtigen, etwa wenn es um Probleme der Emotions- und Verhaltensregulation in den ersten Lebensjahren, um soziale Ängste oder hyperaktives Verhalten geht (Asbrand/ Schmitz 2023).
Knapp die Hälfte aller psychischen Störungen entsteht vor der Volljährigkeit
Was im Alter von vier Jahren noch als normaler Bewegungsdrang gilt, kann wenige Jahre später als unangemessen und störend auffallen und Hinweis auf ein psychisches Problem sein. Es ist entsprechend anspruchsvoll, Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu erkennen. Hinzu kommt, dass Eltern meist bemüht sind, das Familienleben an Einschränkungen und Belastungen ihrer Kinder anzupassen, sodass der Leidensdruck der Kinder und ihr Erleben einer Beeinträchtigung – anders als im Erwachsenenalter– gering sein kann. Beispielsweise richten es Eltern eines Kindes mit Trennungsangst oft so ein, dass ihr Kind nie allein ist und verzichten auf eigene Unternehmungen, sodass letztlich weniger das Kind als die Eltern unter den psychischen Einschränkungen des Kindes leiden und der Handlungsbedarf lange unentdeckt bleibt. Trotz dieser Erschwernisse ist es von zentraler Bedeutung, Belastungen der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu erkennen und ihnen wirkungsvoll zu begegnen. Das Kindes- und Jugendalter ist nicht zwangsläufig ein Schutzraum, sondern eine Zeit, in der sich psychische Störungen anbahnen können, die auch das spätere Leben bestimmen. Knapp die Hälfte aller psychischen Störungen entsteht vor dem Alter von 18 Jahren, wobei eine besondere Häufung im Alter von 14,5 Jahren erkennbar ist (Solmi u.a. 2022).
Frühzeitige Interventionen und vor allem Anstrengungen in der Prävention psychischer Beeinträchtigungen und Maßnahmen zur Stärkung mentaler Gesundheit sind also von entscheidender Bedeutung. Dies umso mehr, als mit langfristigen negativen Folgen für die körperliche Gesundheit, die Bildung, die soziale Teilhabe und letztlich auch die Lebenserwartung zu rechnen ist, wenn rechtzeitige Hilfe ausbleibt. So können etwa unbehandelte depressive Störungen im Jugendalter mit der Entwicklung chronischer Depressionen, Suizid, Substanzmissbrauch, schlechteren Bildungsergebnissen und geringerem Einkommen im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht werden (Hawton/Saunders/O’Connor 2012, Wickrama/Wickrama 2010, Chen/Kaplan 2003). Auch Beeinträchtigungen unterhalb der Schwelle einer klinischen Behandlungsbedürftigkeit müssen berücksichtigt werden, da entsprechende Symptome von Angst und Depressivität im Jugendalter mit Beeinträchtigungen im Alltag und einer enormen Krankheitslast einhergehen können.
Krieg, Klimawandel, Energiekrise: Gerade junge Menschen fühlen sich verunsichert
Schon vor der Coronapandemie war ein hohes Niveau psychischer Erkrankungen junger Menschen zu verzeichnen. Entsprechende Daten zur Verbreitung psychischer Auffälligkeiten unter Kindern und Jugendlichen in Deutschland liefert die BELLA-Studie als Teil des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) des Robert Koch-Instituts. In der letzten Erhebungswelle (2014 bis 2017) zeigten etwa 17 Prozent der 3- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten, das heißt, jeder sechste junge Mensch war betroffen (Klipker u.a. 2018). Weitere Auswertungen dieser Daten, die auch spezifische Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit einschlossen, zeigten, dass 14,5 Prozent der 7- bis 17-Jährigen die Kriterien für mindestens ein spezifisches Problem der mentalen Gesundheit erfüllten oder globale psychische Auffälligkeiten aufwiesen (Ravens-Sieberer u.a. 2008). Auch internationale Daten entsprechen diesem Bild. Bei etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen traten nach einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2017 Einschränkungen der doppelt so hohe Lebenszeitprävalenz, das heißt, im Entwicklungsverlauf war bis zu jeder dritte junge Mensch von psychischen Beeinträchtigungen betroffen. Am häufigsten kamen Angststörungen, Störungen des Sozialverhaltens, ADHS, emotionale Störungen und Substanzkonsum vor (Fuchs/Karwautz 2017).
Im Zuge der Coronapandemie und insbesondere der Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung von Infektionsrisiken haben psychische Belastungen bei Kindern und vor allem Jugendlichen stark zugenommen. Besonders deutlich zeigt dies die COPSY-Studie, die entsprechende Entwicklungen im Pandemieverlauf wiederholt dokumentiert hat. In ihrer fünften Erhebungswelle im Herbst 2022 waren zwar die zunächst merklich gestiegenen Zahlen für Depressivität unter den 7- bis 17-Jährigen wieder auf ihren Ausgangswert vor der Pandemie zurückgegangen, aber Ängste, allgemeine Probleme der psychischen Gesundheit und Einschränkungen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität waren immer noch deutlich erhöht (Ravens- Sieberer u.a. 2023). Zu diesem Zeitpunkt waren andere gesellschaftliche Krisen in den Vordergrund gerückt: Nur noch eine Minderheit (10,4 Prozent) gab Sorgen aufgrund der COVID-19-Pandemie an. Deutlich häufiger nannten die Kinder und Jugendlichen Sorgen aufgrund des Klimawandels (31,8 Prozent), des Kriegs in der Ukraine (40,8 Prozent) und der Energiekrise (43,9 Prozent) – Entwicklungen, die existenzielle Unsicherheiten und Zukunftsängste mit sich brachten.
Armut und deren Konsequenzen erhöhen das Risiko, psychisch zu erkranken
Für das Verständnis von psychischen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, äußere Anforderungssituationen in den Blick zu nehmen und hierbei nicht nur auf kritische Lebensereignisse, sondern auch auf alltägliche Spannungen und vor allem mögliche Probleme in der Auseinandersetzung mit alterstypischen Entwicklungsaufgaben zu achten. Die Konstellation dieser Faktoren bildet im Kaskadenmodell der Stressentstehung den Ausgangspunkt (Werner u.a. 2023). Kommt es zu einer Kaskade oder Anhäufung von Anforderungen in diesen Bereichen und treffen diese auf fehlende Erfahrungen mit Stressbewältigung beziehungsweise einen Mangel an Bewältigungsressourcen, so sind Stressreaktionen und Überforderungserleben sehr wahrscheinlich.
Geringe sozioökonomische Ressourcen der Familie und speziell Armut sind ein Entwicklungskontext, in dem Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit gehäuft auftreten (Klipker u.a. 2018). Dies gilt vor allem – und auch schon in der frühen Kindheit –, wenn familiale Konflikte und Belastungen der Eltern- Kind-Beziehung hinzukommen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist erhöht, denn Armut und der damit verbundene finanzielle Druck in der Haushaltsführung überschatten häufig das Familienklima. Auch weitere Risikofaktoren wie eine Trennung der Eltern finden sich gehäuft im Vorfeld oder Kontext von Armut. Ganz im Sinne des Kaskadenmodells zeigen zahlreiche Studien zu belastenden Kindheitserfahrungen („Adverse Childhood Experiences“ (ACE)), dass es insbesondere die Anhäufung von widrigen Ereignissen und Lebensbedingungen in der Kindheit ist, die auch langfristig das Risiko für Einschränkungen der psychischen und körperlichen Gesundheit erhöht (Walper u.a. 2023, Zohsel u.a. 2017).
Allerdings sind es keineswegs nur äußere Ereignisse, die Einfluss auf die psychische Gesundheit nehmen. So geht das biopsychosoziale Entwicklungsmodell davon aus, dass jede Entwicklung, und so auch die Entstehung psychischer Auffälligkeiten, vom Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren abhängt (Werner u.a. 2023). Wichtige Ressourcen für günstige Verläufe psychischer Gesundheit im Verlauf der Coronapandemie waren laut COPSY-Studie beispielsweise Problemlösefähigkeiten und Optimismus der Kinder, soziale Unterstützung und ein hoher Familienzusammenhalt (Ravens-Sieberer u.a. 2023). Will man Prävention bedarfsgerecht ausrichten, ist es also wichtig, neben den äußeren Lebensumständen und damit verbundenen Belastungslagen auch individuelle Dispositionen und entwicklungsbezogene Bedürfnisse junger Menschen zu berücksichtigen.
Es braucht eine ganzheitliche Strategie zum Abbau sozialer Benachteiligung
Vor dem Hintergrund der Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Maßnahmen in der Gesundheitsförderung und -versorgung mit dem Fokus auf die psychische Gesundheit initiiert. Dazu gehören unter anderem die im Jahr 2008 beschlossene Strategie der Bundesregierung zur Förderung der Kindergesundheit, das nationale Gesundheitsziel „Gesund aufwachsen“, der Nationale Aktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010“, die Gründung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen im Jahr 2007, das im Jahr 2012 neu geschaffene Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz sowie die Ausweitung der Kindervorsorgeuntersuchungen („U-Untersuchungen“) ab 2006 (Klipker u.a. 2018). Hinzu kommen die Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz im Jahr 2018 und aktuell der Nationale Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“, der benachteiligten Kindern bessere Zugänge zu Gesundheit, Betreuung, Bildung, Ernährung und Wohnraum ermöglichen soll.
Gerade dieser letztgenannte Aktionsplan, dessen Umsetzung eine Service- und Monitoringstelle am Deutschen Jugendinstitut (DJI) unterstützt, ist darauf ausgerichtet, die Leistungen unterschiedlicher Ressorts zusammenzubringen und damit eine ganzheitliche Strategie zum Abbau sozialer Benachteiligung zu entwickeln. Auch die Stärkung psychischer Gesundheit ist auf ressort- und professionsübergreifende interdisziplinäre Kooperationen angewiesen. Sie muss früh einsetzen und Möglichkeiten der Kindertagesbetreuung und Schule nutzen, um Eltern und Kindern Gesundheitskompetenzen zu vermitteln und die Resilienz der Kinder – ihre Widerstandskraft unter stressreichen Bedingungen – zu stärken. Mit der Einführung der „Mental Health Coaches“ an Schulen ging das Bundesfamilienministerium einen Schritt in diese Richtung, aber noch sind die Kapazitäten sehr begrenzt. Gesundheitsfachkräfte an Schulen wurden vielfach gefordert, aber nur in einigen Bundesländern wie etwa Bremen, Hamburg und Rheinland-Pfalz erprobt.
Es fehlen nicht nur Therapieplätze, sondern auch moderne Behandlungsmodelle
Runde Tische können helfen, Netzwerke und Kooperationen zwischen Kinder-und Jugendmedizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie der Kinder- und Jugendhilfe zu etablieren, um das wechselseitige Wissen über die jeweiligen Angebote und bedarfsgerechte Vermittlungsstrukturen auf- und auszubauen. Vor allem aber braucht es neben dem dringend benötigten Kapazitätsausbau im Bereich stationärer und ambulanter Behandlung psychischer Störungen auch moderne Optionen wie die aufsuchende Behandlung. Eine stärkere Einbindung der Kinder- und Jugendhilfe mit geeigneten Angeboten für weniger schwer belastete junge Menschen kann ungünstigen Entwicklungen vorbeugen und so ebenfalls den Gesundheitssektor entlasten. Auch eine bessere Versorgung der besonders vulnerablen Gruppe junger Menschen in Heimunterbringung, wie unter anderem unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter, ist wichtig In allen diesen Bereichen sind vermehrte Anstrengungen und Investitionen nötig, um die noch höheren persönlichen und gesellschaftlichen Kosten chronifizierter psychischer Einschränkungen abzuwenden.
Asbrand, Julia / Schmitz, Julian (2023): Lehrbuch Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie. Stuttgart
Chen, Zeng-Yin / Kaplan, Howard B. (2003): School failure in early adolescence and status attainment in middle adulthood: A longitudinal study. In: Sociology of Education, 76. Jg., Nr. 2, S. 110–127
Fuchs, Martin / Karwautz, Andreas (2017): Epidemiologie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. In: neuropsychiatrie, 31. Jg., Nr. 3, S. 96–102
Hawton, Keith / Saunders, Kate E. / O’connor, Rory C. (2012): Self-harm and suicide in adolescents. In: The Lancet, 379. Jg., Nr. 9834, S. 2373–2382
Klipker, Kathrin u.a. (2018): Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. In: Journal of Mental Health Monitoring, 3. Jg., Nr. 3, S. 37–44
Ravens-Sieberer, Ulrike u.a. (2008): Prevalence of mental health problems among children and adolescents in Germany: results of the Bella study within the National Health Interview and Examination Survey. In: European Child & Adolescent Psychiatry, 17. Jg., S. 22–33
Ravens-Sieberer, Ulrike u.a. (2023): Three years into the pandemic: results of the longitudinal German COPSY study on youth mental health and health-related quality of life. In: Frontiers in public health, 11. Jg., 1129073
Solmi, Marco u.a. (2022): Age at onset of mental disorders worldwide: large-scale meta-analysis of 192 epidemiological studies. In: Molecular psychiatry, 27. Jg., Nr. 1, S. 281–295
Walper, Sabine / Ulrich, Susanne M. / Kindler, Heinz (2023): Familiale Belastungsfaktoren für die emotionale Entwicklung junger Kinder. In: Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 66. Jg., Nr. 7, S. 717–726
Werner, Anika / Lohaus, Arnold / Lemola, Sakari (2023): Entwicklungspsychopathologie. In: Lehrbuch Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie. S. 22–35. Stuttgart
Wickrama, Thulitha / Wickrama, Kandauda A. S. (2010): Heterogeneity in adolescent depressive symptom trajectories: Implications for young adults’ risky lifestyle. In: Journal of Adolescent Health, 47. Jg., Nr. 4, S. 407–413
Zohsel, Katrin u.a. (2017): Langfristige Folgen früher psychosozialer Risiken. In: Kindheit und Entwicklung, 26. Jg., Nr. 4, S. 203–209
World Health Organization (WHO) (1946): Preamble to the Constitution of the World Health Organization (WHO) as adopted by the International Health Conference. New York
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2024 von DJI Impulse „Psychisch stark werden“ (Download PDF).