Armut gefährdet die psychische Gesundheit
Die Folgen einer seelischen Erkrankung von Kindern können gravierend sein. Warum arme Kinder besonders häufig betroffen sind und wie ihre Familien entlastet werden können.
Von Laura Castiglioni
Die psychische Gesundheit hat einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung und die Ausschöpfung der individuellen Fähigkeiten von Kindern. Besonders im Kindesalter spielen für die mentale Gesundheit umgebungs- beziehungsweise familienbezogene Faktoren eine wichtige Rolle, wie etwa das Familienklima, soziale Unterstützung sowie eine gute und verlässliche Beziehung zu erwachsenen Bezugspersonen (Walper/Ulrich/Kindler 2023, Petermann/Ulrich 2019).
Die Eltern beeinflussen die kindliche Entwicklung in verschiedenen Hinsichten. Zu einem gilt eine starke Eltern-Kind-Bindung als wichtiger Schutzfaktor vor kindlichem Stress. Zum anderen sind Eltern im Umgang mit Belastungen und Herausforderungen Vorbilder für die Kinder, und sie sind gegebenenfalls auch dafür zuständig, Hilfe für ihre Kinder zu organisieren, beispielsweise in Form einer außerhäusigen Förderung oder einer medizinisch-therapeutischen Versorgung. Wichtige Datenquellen für die seelische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter stellen die Befragung „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC), die BELLA-Studie sowie die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg- Eppendorf dar. Aus diesen Daten lässt sich ableiten, dass in bestimmten familiären Situationen Kinder ein erhöhtes Risiko für seelische Auffälligkeiten aufweisen. Zu den Risikolagen zählen ein niedriger sozioökonomischer Status von Familien sowie psychische und physische Erkrankungen der Eltern, Gewalterfahrungen innerhalb der Familien und der Verlust von nahestehenden Personen durch Trennung oder Tod (Walper u.a. 2023).
Zum Alltag von finanziell benachteiligten Kindern gehören oft Stress und Konflikte
Ein systematisches Review englisch- und deutschsprachiger Studien macht jedoch deutlich, dass insbesondere eine Gruppe von Kindern besonders häufig betroffen ist: Unter Kindern aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status ist das Risiko psychischer Auffälligkeiten zwei- bis dreimal so hoch wie unter Kindern, deren Eltern einen hohen sozioökonomischen Status haben (Reiß 2013). Auch auf den Schweregrad und die Dauer psychischer Erkrankungen wirkt sich ein geringer sozioökonomischer Status negativ aus. Oftmals bedingen sich entwicklungshemmende Faktoren gegenseitig. Eine Studie auf Basis der BELLA-Daten zeigt, dass eine von Armut geprägte Kindheit häufig mit stressigen Lebensumständen einhergeht, wie beispielsweise einer psychischen Krankheit eines Elternteils, einer schweren finanziellen Krise, Arbeitslosigkeit, einer Trennung der Eltern oder Problemen mit der Justiz. Die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Belastung steigt mit einer Häufung solcher Risikofaktoren an (Reiß u.a. 2019).
Psychosoziale Belastungsfaktoren, wie etwa psychische Probleme und Konflikte der Eltern, können deren Erwerbsmöglichkeiten einschränken und damit das Risiko für Armut der Familie erhöhen. Aber auch umgekehrt ist Armut ein Faktor, der seinerseits vielfach psychischen Stress der Eltern und damit auch Belastungen des Familienklimas und Probleme in der Eltern-Kind-Beziehung nach sich zieht. Wie das Familienstress-Modell herausstellt, schränkt Armut vor allem über solche Beeinträchtigungen der familialen Beziehungen und Interaktionen die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen ein (Kavanaugh u.a. 2018, Masarik/Conger 2017). Die DJI-Begleitforschung zu den Frühen Hilfen zeigt: Schon in den ersten Lebensjahren ist erkennbar, dass Kinder in sozioökonomisch und zugleich psychosozial belastenden Lebenslagen ein deutlich höheres Risiko für erste Anzeichen psychischer Probleme aufweisen als Kinder, deren Familie zwar sozioökonomische Einschränkungen hinnehmen muss, aber keine Probleme in den Familienbeziehungen und beim Wohlbefinden der Eltern aufweist (Walper u.a. 2023).
Die Stabilisierung von Familienbeziehungen ist damit ein wichtiger Faktor, um Problemen in der Entwicklung und der psychischen Gesundheit von Kindern in Armutslagen vorzubeugen. Aber auch die bessere gesundheitliche Versorgung der Kinder in von Armut betroffenen Familien muss ein wichtiges Anliegen sein.
Nur 65 Prozent der Kinder mit diagnostizierter psychischer Störung sind in Behandlung
Die Auswirkungen psychischer Erkrankungen von Kindern können gravierend sein: Unbehandelt können sie chronisch werden und zu einem erhöhten Suizidrisiko führen (Vergunst u.a. 2023). Psychisch kranke Kinder schätzen als Erwachsene zudem ihren gesundheitlichen Zustand negativer ein (Otto u.a. 2021) und weisen einen geringeren Bildungserfolg und ein erhöhtes Risiko für Konsum psychoaktiver Substanzen auf (Schlack u.a. 2022). „Insbesondere früh auftretende Entwicklungs- und psychische Störungen gehören zu den stärksten Prädiktoren für lebenslange Teilhabebeeinträchtigungen“ (Sevecke u.a. 2022, S. 198).
Angesichts dieser Risiken sollten Kinder mit psychischen Auffälligkeiten schnell und unkompliziert Hilfe beanspruchen können. Auswertungen der BELLA-Studie zufolge wurden jedoch nur 65 Prozent der Kinder im Alter von 7 bis 13 Jahren behandelt, bei denen nach Angabe der Eltern kürzlich eine psychische Störung diagnostiziert wurde (Otto u.a. 2021). Vor allem seit der Pandemie ist offensichtlich, dass die psychiatrische und therapeutische Versorgung in Deutschland unzureichend ist. Eine im Jahr 2022 veröffentliche Befragung von Kinder- und Jugendpsychotherapeut: innen schätzte die Wartezeit für ein Erstgespräch auf 10 Wochen und für einen Therapieplatz auf 25 Wochen (Plötner u.a. 2022).
Über die Faktoren, die zu einer Inanspruchnahme von Therapien beitragen, sind nur wenige Studien verfügbar. Einige Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Belastung der Eltern eine Hürde dafür darstellt, dass verhaltensauffällige Kinder die notwendige Hilfe erhalten (Hefti u.a. 2016). Darüber hinaus schränken geringe sozioökonomische Ressourcen, speziell geringe Bildung der Eltern, die Kenntnis von Unterstützungsangeboten und damit die Versorgungslage der Kinder und ihrer Familien ein (Eickhorst u.a. 2016). Ein Teil der Forschung über die Nutzung der Angebote hat sich auf die Verweisstrukturen konzentriert: Dabei geht es insbesondere um die Frage, was zu einer frühzeitigen Erkennung und Behandlung von seelischen Auffälligkeiten beiträgt. Im Rahmen von Modellprojekten haben beispielsweise Kinderärzt:innen zusätzliche Schulungen erhalten, damit sie Symptome besser erkennen (Decke u.a. 2020). Die Literatur unterstreicht aber auch die Rolle der Eltern, der Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter:innen bei der Erkennung von Problemen und der Einleitung von passenden Maßnahmen (Hefti u.a. 2016).
Prävention fängt bei den Eltern an
Neben niedrigschwelligen Interventionen bleibt auch Prävention wichtig. Die Eltern sind dabei eine zentrale Zielgruppe. Präventive Programme und Förderangebote sollen ihre Erziehungskompetenzen stärken, sie vor Überforderung schützen und ihnen Ressourcen zur Stressbewältigung anbieten. Auch Familienbildungsangebote tragen dazu bei, die elterlichen psychosozialen Regulationsfähigkeiten zu stärken und das individuelle sowie familiale Wohlergehen zu steigern. Die Eltern verbessern ihre Problemlösefähigkeiten und lernen, mit Konflikten sowie Stresssituationen besser umzugehen (Lentz-Becker/Bräutigam/Müller 2024). Elternkurse legen einen besonderen Fokus darauf, durch einen guten Erziehungsstil ein gesundes Aufwachsen von Kindern zu fördern (Kleinschrot/Castiglioni 2020). Neben universal präventiven Kursen gibt es auch solche, die insbesondere Familien in schwierigen Lebenslagen ansprechen wollen. Dazu zählen beispielsweise die Angebote der Frühen Hilfen.
Die Stigmatisierung von psychisch erkrankten Kindern muss bekämpft werden
Damit Kinder in Risikolagen besser und früher durch Unterstützungsangebote erreicht werden können, ist es aber auch entscheidend, die seelische Gesundheit zu entstigmatisieren. Dazu helfen Informationskampagnen, die über den Unterstützungsbedarf von Familien mit psychisch erkrankten Mitgliedern, über die Unterstützungsangebote und präventiven Maßnahmen für die seelische Gesundheit informieren, wie beispielsweise die Aktionswoche des Aktionsbündnisses seelische Gesundheit. Vor dem Hintergrund der Zunahme seelischer Auffälligkeiten bei Kindern ist eine Sensibilisierung aller Personengruppen, die mit Kindern interagieren, wichtig. Prävention und frühe Interventionen sind angesichts einer Unterversorgung, die nicht schnell zu verbessern ist, essenziell.
Decke, Siona u.a. (2020): „We’re in good hands there.“ – Acceptance, barriers and facilitators of a primary care-based health coaching programme for children and adolescents with mental health problems: a qualitative study (PrimA-QuO). In: BMC family practice, 21. Jg., H. 1, S. 273
Eickhorst, Andreas u.a. (2016): Inanspruchnahme von Angeboten der Frühen Hilfen und darüber hinaus durch psychosozial belastete Eltern. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 59. Jg., H. 10, S. 1271–1280
Hefti, Stephanie u.a. (2016): Welche Faktoren beeinflussen, ob psychisch belastete Kinder mit einem psychisch kranken Elternteil Hilfen erhalten? In: Kindheit und Entwicklung, 25. Jg., H. 2, S. 89–99
Kavanaugh, Shane A. / Neppl, Tricia K. / Melby, Janet N. (2018): Economic pressure and depressive symptoms: Testing the family stress model from adolescence to adulthood. In: Journal of family psychology (JFP, Division 43), 32. Jg., H. 7, S. 957–965
Kleinschrot, Leonie / Castiglioni, Laura (2020): Bildungsangebote für Eltern mit jugendlichen Kindern in Deutschland. Expertise zu (evaluierten) Programmen und elterlichen Bedarfen. München
Lentz-Becker, Anja / Bräutigam, Barbara / Müller, Matthias (2024): Familienbildung meets Gesundheitsförderung!? In: Prävention und Gesundheitsförderung, 19. Jg., H. 1, S. 28–39
Masarik, April S. / Conger, Rand D. (2017): Stress and child development: a review of the Family Stress Model. In: Current opinion in psychology, 13. Jg., S. 85–90
Otto, Christiane U.A. (2021): Mental Health And Well-Being From Childhood To Adulthood: Design, Methods And Results Of The 11-Year Follow-Up Of The BELLA Study. In: European Child & Adolescent Psychiatry, 30. Jg., H. 10, S. 1559–1577
Petermann, Franz / Ulrich, Franziska (2019): Entwicklungspsychopathologie. In: Schneider, Silvia / Margraf, Jürgen (Hrsg.): Lehrbuch der Verhaltenstherapie, Band 3. Berlin, Heidelberg, S. 23–40
Plötner, Maria u.a. (2022): Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die ambulante psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen. In: Die Psychotherapie, 67. Jg., H. 6, S. 469–477
Reiß, Franziska (2013): Socioeconomic inequalities and mental health problems in children and adolescents: a systematic review. In: Social Science & Medicine (1982), 90. Jg., S. 24–31
Reiß, Franziska u.a. (2019): Socioeconomic status, stressful life situations and mental health problems in children and adolescents: Results of the German BELLA cohort-study. In: PloS one, 14. Jg., H. 3, e0213700
Schlack, Robert u.a. (2022): Veränderungen der psychischen Gesundheit in der Kinder- und Jugendbevölkerung in Deutschland während der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse eines Rapid Reviews
Sevecke, Kathrin u.a. (2022): Die psychische Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen und deren Behandlungsmöglichkeiten im Drei-Länder-Vergleich (Ö, D, CH) unter Berücksichtigung der Veränderungen durch die COVID-19-Pandemie. In: neuropsychiatrie, 36. Jg., H. 4, S. 192–201
Stiftung Kindergesundheit (2023): „Die Hilfesysteme sind überlastet“. Seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. München
Vergunst, Francis u.a. (2023): Association of Childhood Externalizing, Internalizing, and Comorbid Symptoms With Long-term Economic and Social Outcomes. In: JAMA network open, 6. Jg., H. 1, e2249568
Walper, Sabine / Ulrich, Susanne M. / Kindler, Heinz (2023): Familiale Belastungsfaktoren für die emotionale Entwicklung junger Kinder. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 66. Jg., H. 7, S. 717–726
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2024 von DJI Impulse „Psychisch stark werden“ (Download PDF).