„Politische Bildung muss sich zu einer kritischen politischen Medienbildung entwickeln“
Wo bilden sich Jugendliche heute politisch fort, und wie erreicht man sie am besten? Ein Gespräch mit Thomas Krüger, dem Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), über zeitgemäße Angebote für eine digitalisierte Generation.
DJI Impulse: Herr Krüger, Sie waren Mitglied der 14-köpfigen unabhängigen Sachverständigenkommission, die von 2018 bis 2020 den 16. Kinder- und Jugendbericht (KJB) gemeinsam mit dem Team am Deutschen Jugendinstitut (DJI) erarbeitet hat. Welche Ergebnisse haben Sie persönlich besonders erstaunt?
Thomas Krüger: Durch den KJB habe ich noch einmal gebündelt vor Augen geführt bekommen, dass Medienbildung und politische Bildung nicht mehr isoliert voneinander zu denken sind. Kinder und Jugendliche sind fast ausschließlich digital unterwegs. Da ist es unabdingbar, dass sie Quellen einschätzen können, wissen, wie Dinge eingeordnet werden sollten oder wie sie sich gegen Extremismus im Netz behaupten können. Jugendlichen muss ein selbstbestimmter und reflektierter Umgang mit Medien ermöglicht werden. Dafür sollte sich auch die pädagogische Rolle der Fachkräfte von einem vermittelnden zu einem begleitenden Bildungsprozess entwickeln. Wir müssen Kindern und Jugendlichen außerdem in allen sozialen Räumen noch stärker eine Stimme geben. Die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen darf keine Scheinpartizipation darstellen.

Thomas Krüger ist seit Juli 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und zugleich Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes.
Im Bericht ist von „unterschätzten Räumen politischer Bildung“ die Rede. Welche Räume sind da gemeint?
Das sind zum Beispiel stationäre Settings der Hilfen zu Erziehung, Jugendsozialarbeit, Jugendstrafvollzug, Erziehungs- und Behindertenhilfe oder Kinder- und Jugendparlamente. Diese Räume werden von den jeweiligen Akteurinnen und Akteuren nur selten systematisch als Räume politischer Bildung reflektiert. Vor allem in den Jugendstrafanstalten muss politische Bildung mehr ankommen! Den Bedarf von politischer Bildung in Jugendstrafanstalten hat eine von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) geförderte Pilotstudie aus dem Jahr 2020 deutlich hervorgehoben. Aus den Ergebnissen dieser Studie wollen wir innovative Projekte für Jugendliche und junge Erwachsene entwickeln, die eine Haftstrafe in einer Jugendstrafanstalt verbüßen. Solche Impulse sind wichtig, denn generell benötigt politische Bildung mehr Gewicht und gehört überallhin, wo junge Menschen mit Politik und Demokratie in Berührung kommen.
Eine Empfehlung des Kinder- und Jugendberichts lautet, dass viele erwachsene Ak-teurinnen und Akteure für die Vermittlung von politischer Bildung Verantwortung tragen sollten. Was tut die bpb beispielsweise zur Unterstützung der pädagogischen Fachkräfte?
Wir versuchen Angebote zu schaffen, die sowohl die Fachkräfte als auch die Jugendlichen ansprechen. Letztere wollen wir da erreichen, wo sie unterwegs sind: in den sozialen Medien. Wir haben unter anderem Webvideoreihen entwickelt, die Jugendliche im Umgang mit Desinformation, also sogenannten Fake News, sensibilisieren sollen: „FakeFilter“ mit YouTuber Philipp Betz alias Mr. Trashpack oder „UnFAKE“ mit El Margo und Selfiesandra. Zu den Videos gibt es auf unserer Website dann entsprechendes didaktisches Material für den Unterricht. Wir unterstützen pädagogische Fachkräfte aber auch analog: Unser Shop bietet in Form von methodischen Handreichungen, Spielen und Themenblättern vielfältige und kostenlose Angebote, um politische Inhalte spannend zu vermitteln. Zudem schulen wir pädagogische Fachkräfte mit Trainings und Seminaren oder qualifizieren Lehrkräfte dazu, sich mit Rechtsextremismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in ihrer Schule auseinanderzusetzen.
Politische Bildung ist weit mehr als theoretische Wissensvermittlung über Staatsformen, Institutionen, Wahlen. Braucht es, um Kinder und Jugendliche wirklich für Demokratie zu begeistern, einen aktiveren, emotionaleren Ansatz?
Politik ist in der Tat kein rein rationaler Akt, sondern immer verbunden mit emotionalen Komponenten. Kinder und Jugendliche erfahren das Politische in konkreten Lebenssituationen und an spezifischen Problemen und Konflikten. Empathie, Engagement, Begeisterung, aber auch Verärgerung, Wut und Enttäuschung sind Bestandteile des Politischen. Deshalb kann politische Bildung nicht nur auf die kognitive Analyse- und Urteilsfähigkeit abzielen. Sie findet auch da statt, wo Konflikte und Krisen mithilfe einer demokratischen Diskussionskultur gemeinsam durchgestanden werden. Das Fehlen von Konflikten ist übrigens kein Beleg für die Stabilität des gesellschaftlichen Zusammenhalts, im Gegenteil. Echte Stabilität zeigt sich darin, dass die Konflikte unserer superdiversen Gesellschaft auf produktive Art und Weise – nicht zwingend gelöst, aber immerhin – bearbeitet werden. Das ist es, was Kinder und Jugendliche während ihres Aufwachsens überall spüren und erleben sollten.
Laut der Shell Jugendstudie 2019 neigen in Deutschland einige der 15- bis 25-Jährigen zu national-populistischen Meinungen. In dieser Gruppe herrscht deutliche Unzufriedenheit mit der Demokratie und der pluralen Gesellschaft. Wie kann man diese Jugendlichen erreichen, bevor sie sich weiter radikalisieren?
Wenn es brennt, dann rufen viele Stimmen nach politischer Bildung, die als gesellschaftspolitische „Feuerwehr“ agieren soll. Die Akteurinnen und Akteure in der politischen Bildung lassen sich allerdings nur sehr ungern als Feuerwehrleute einsetzen. Lieber wären sie als planende und bauende Architektinnen und Architekten tätig, um mal ein anderes Bild zu verwenden. Was wir uns klarmachen müssen: Politische Bildung löst keine Probleme, sondern macht sie lediglich in Bildungsprozessen sichtbar und verhandelbar! Natürlich versucht die bpb, durch politischer Bildung extremistischen Einstellungen bei Jugendlichen entgegenzuwirken. Politische Bildung ist jedoch eine schulische und außerschulische Daueraufgabe, deren Angebote langfristig, nachhaltig und flächendeckend vorhanden sein müssen. Sie ist kein Löschfahrzeug, das man aus der Garage holt, wenn irgendwo Flammen hochschlagen.
Für einige Kinder ist das Fernbleiben von Kita und Schule gefährlich. DJI-Studien zeigen, dass die Zahl der Gefährdungsmeldungen bis zum Sommer 2020 zwar nicht gestiegen ist, aber es gibt Hinweise auf unerkannte häusliche Gewalt. In den Jugendämtern herrscht teils Unsicherheit, und es wird eine bessere personelle, räumliche und technische Ausstattung gefordert. Mit welcher politischen Unterstützung kann die Kinder- und Jugendhilfe rechnen?
Während des Lockdowns war es für Kinder und Jugendliche besonders wichtig, direkten Zugang zu Hilfe zu behalten. Das Bundesfamilienministerium hat deshalb bestehende telefonische und Online-Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche schon zu Beginn der Kontaktbeschränkungen ausgebaut. So wurde im Frühjahr 2020 unter anderem die Förderung für die Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, die „Nummer gegen Kummer“, und die Jugendnotmail erhöht. Auch nächstes Jahr stellen wir dafür mehr Geld zur Verfügung. Um die fachliche Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe in Corona-Zeiten zu unterstützen, finanziert das BMFSFJ seit Anfang April 2021 eine neu eingerichtete Kinder- und Jugendhilfeplattform mit dem Namen „Forum- Transfer –Innovative Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten von Corona“. Dort finden sich aktuelle Hinweise, Empfehlungen und fachlich systematisierte Best-Practice-Beispiele. Die Seite ist so gestaltet, dass zeitnah auf die aus der Praxis geäußerten Bedarfe reagiert werden kann. Auch dieses Projekt wollen wir im nächsten Jahr weiter fördern.
Jugendliche kommen über Social Media früh mit Fake News, Hate Speech, Verschwörungstheorien oder Extremismus in Berührung. Gibt es ein Rezept gegen diese gefährlichen Filterblasen?
Die politische Bildung muss sich den veränderten Wahrnehmungsweisen der Jugendlichen anpassen und sich zu einer kritischen politischen Medienbildung entwickeln! Jugendliche müssen befähigt werden, Inhalte kritisch zu beleuchten und Meinungspluralität wahrzunehmen und wertzuschätzen. Ein unmittelbar wirksames Rezept gibt es nicht, aber ein paar hilfreiche Tipps: Nachrichten sollten immer hinterfragt werden, vor allem dann, wenn Überschriften sehr reißerisch klingen. Daraus leitet sich auch der nächste Punkt ab: Nicht alles weiterleiten! Denn erst durch ständiges unreflektiertes Teilen haben Fake News oder Verschwörungstheorien die Chance, so groß zu werden. Das Internet bietet zahlreiche Möglichkeiten, sich zeit- und ortsunabhängig Zugang zu verschiedensten Wissensquellen weltweit zu verschaffen und auf vielfältige Weise zu partizipieren. Doch es gibt eben auch die Schattenseiten, und dazu gehören Shitstorms und Cybermobbing ebenso wie Hassrede und Falschinformationen.
Wie hat die bpb in den vergangenen Jahren ihre Angebote speziell für Kinder und Jugendliche weiterentwickelt, und was planen Sie für die Zukunft?
Ausgangspunkt der politischen Bildung müssen reale Fragen von Jugendlichen sein. Wir sollten also genau zuhören, wenn es darum geht, was junge Menschen bewegt, und dann ein entsprechendes Angebot schaffen. Dafür schauen wir uns Trends an und arbeiten weiterhin mit bekannten YouTuberinnen und YouTubern oder Instagram-Kanälen zusammen. Die sind für diese Zielgruppe authentisch, haben eine große Reichweite und können niedrigschwellig über politische Themen informieren. Im Superwahljahr 2021 planen wir außerdem, viele junge Menschen zum Wählen zu animieren. Das machen wir in erster Linie natürlich über den Wahl-O-Mat. Aber sicherlich wird es noch viele weitere Angebote zum Thema Wahlen geben, um junge Menschen zu motivieren, ein aktiver Teil unserer Demokratie zu sein. Die bpb wird zudem auf Mehrdimensionalität hinarbeiten. Denn wir sind uns darüber bewusst, dass Jugendliche eine sehr heterogene Zielgruppe sind. Entsprechend divers müssen unsere Formate und Angebote sein.
Apropos Heterogenität: Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen, prekären Milieus lassen sich mit politischen Partizipationsangeboten oft nur schwer erreichen – selbst im Internet. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen?
Auch in digitalen Räumen werden gesellschaftliche Strukturen reproduziert. Jugendliche aus bildungsaffinen Familien verfügen häufig über bessere computerbezogene Kompetenzen, nutzen regelmäßiger Bildungsangebote und engagieren sich stärker bei politisch-gesellschaftlichen Online-Aktivitäten. Nichtsdestotrotz verfügen natürlich auch benachteiligte Jugendliche über Kompetenzen, die es zu identifizieren gilt, um an diese anzuknüpfen. Die politische Bildung steht also vor der großen Herausforderung, Medienbildung künftig stärker auf Jugendliche mit niedrigem formalem Bildungsstand auszurichten. Zugleich müssen wir kritisch reflektieren, mit welchen digitalen und analogen Angeboten diese Jugendlichen noch gezielter angesprochen werden können. Es braucht lebensweltlich akzeptierte Ansätze, die auf eine Stärkung von Mündigkeit und Resilienz abzielen. Unser Verstärker-Netzwerk bietet beispielsweise eine Plattform für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der politischen Bildung und sozialen Arbeit. Im Zentrum stehen der professionelle Austausch und die Vernetzung rund um das Thema politische Jugendbildung – aber auch die Entwicklung geeigneter niedrigschwelliger Bildungsformate.
Interview: Astrid Herbold

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2021 von DJI Impulse „Politische Bildung von Anfang an: Wie Kinder und Jugendliche Demokratie lernen und erfahren können“ (Download PDF).