Demokratiebildung in der Kita
Die Kindertagesbetreuung soll Kinder auf das Zusammenleben in einer vielfältigen, demokratisch verfassten Gesellschaft vorbereiten. Auch die Jüngsten müssen folglich
die Erfahrung machen, dass ihre Bedürfnisse und Ideen ernst genommen werden und sie akzeptierter Teil einer sozialen Gemeinschaft sind.
Von Judith Durand und Leonhard Birnbacher
Kindertagesbetreuung hat in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft den Auftrag, schon die jüngsten Kinder auf ein Leben in Vielfalt, gegenseitiger Anerkennung und Selbstbestimmung vorzubereiten. Die Vorgaben, die das Kinder- und Jugendhilfegesetz hierzu macht, sind eindeutig. Sie binden den Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsauftrag an die Ausbildung von grundlegenden Sozialkompetenzen und die Beteiligung von Kindern an allen sie betreffenden Angelegenheiten. So gibt das Achte Sozialgesetzbuch klar vor, dass der Förderauftrag sich nicht nur auf die geistige und körperliche, sondern auch auf die soziale und emotionale Entwicklung des Kindes bezieht. Die „Vermittlung orientierender Werte und Regeln“ ist wesentlicher Bestandteil der pädagogischen Arbeit (SGB VIII, § 22 Abs. 3).
Damit verknüpft sind unveräußerliche Beteiligungsrechte. Kinder sind entsprechend ihrem jeweiligen Entwicklungsstand in alle sie betreffenden Entscheidungen miteinzubeziehen, was seitens der Träger von Kindertageseinrichtungen sichergestellt werden muss (SGB VIII § 22a; SGB VIII § 45 Abs. 2). Darüber hinaus machen die Bundesländer in ihren Bildungsplänen Vorgaben für das Feld der frühkindlichen Demokratiebildung. Allerdings variieren die 16 Pläne bei den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen – mit der Konsequenz, dass die konkrete Ausgestaltung demokratiepädagogischer Arbeit in den Einrichtungen uneinheitlich und unübersichtlich ist.
Demokratie als Lebensform begreifen
Nichtsdestotrotz ist Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen als grundständiger Auftrag der Bildungsarbeit zu verstehen. Ebenso wie die Demokratiebildung in Schule und Erwachsenenbildung ist sie für das Funktionieren unserer demokratischen Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung (Olk/Roth 2010). Sie muss daher gleichermaßen früh wie umfassend ansetzen und darf nicht primär als Krisenbewältigung begriffen werden, die immer dann zum Tragen kommt, wenn sich in der Gesellschaft Demokratieverdrossenheit breitmacht oder antidemokratische Haltungen auf dem Vormarsch sind.
In diesem Sinne warnt beispielsweise Klaus Holz, Mitglied im Vorstand des Bundesausschusses Politische Bildung davor, Demokratiebildung auf Extremismusprävention zu verkürzen: „‚Demokratieförderung‘ kann gerade nicht heißen: Das Schlimmste bekämpfen. Vielmehr geht es um die Beförderung demokratischer Haltungen, gleichviel durch was unsere zivilgesellschaftlich vielfältige Demokratie in Frage gestellt wird“ (Bundesausschuss Politische Bildung 2018). Frühe Bildung sollte einem positiven Narrativ folgen und sich als eine Gestaltungs-, nicht als eine Verhinderungspädagogik verstehen (Hafeneger 2019).
Daher erscheint für Kindertageseinrichtungen eine Konzeption von Demokratiebildung
weiterführend, die auf das erfahrungsbasierte Lernen grundlegender demokratischer Prinzipien und Werte setzt. Das lässt sich zudem demokratietheoretisch wie demokratiepädagogisch gut begründen. Fluchtpunkt ist ein Verständnis von Demokratie, das in dieser nicht allein eine auf dem Prinzip der kollektiven Selbstbestimmung und Gleichheit basierende Herrschaftsform sieht, sondern ebenso eine Lebensform. Das bedeutet: Erst wenn grundlegende demokratische Werte und Umgangsformen wie Anerkennung oder Kooperationsbereitschaft tief im Alltagsleben verankert sind, lässt sich laut dem US-amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey und der auf seinen Arbeiten aufbauenden pragmatistischen Demokratietheorie überhaupt von einer Demokratie sprechen (Dewey 1993). Werte und (Sozial-)Kompetenzen sind für die moderne Demokratie ebenso essenziell wie die institutionelle Umsetzung des Selbstregierungs- und Gleichheitsprinzips – und auch Erstere müssen erlernt und verinnerlicht werden.
Muster und Verhaltensweisen durch Erfahrungen verinnerlichen
Vor allem Selbstwirksamkeitserfahrungen spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Deshalb sollte die gelebte Demokratie nicht nur auf Erwachsene beschränkt sein, sondern muss bereits von Anfang an in der Kindheit verankert werden. Welchen Stellenwert das Konzept der Demokratie als Lebensform für die frühkindliche Demokratiebildung hat, offenbart sich genau an diesem Punkt: Denn während in anderen demokratietheoretischen Entwürfen Kinder höchstens indirekt mitgedacht werden, berücksichtigt Dewey sie mit seiner ganzheitlichen Theorie auch explizit. Demnach müssen Bildungseinrichtungen seiner Meinung nach Orte sein, an denen Kinder im Sinne einer „embryonic society“ die Gelegenheit haben, die Grammatik des demokratischen Zusammenlebens zu erfahren (Dewey 1899).
Was könnte dies allerdings für die pädagogische Arbeit mit den Jüngsten konkret bedeuten? Frühkindliche Demokratiebildung ist ein Prozess, bei dem sich das Subjekt in einer an demokratischen Werten geprägten Kultur ausbildet und durch Erfahrungslernen soziale und kulturelle Muster verinnerlicht (Eberlein/Durand/Birnbacher 2021). Die ersten Jahre in der Entwicklung von Kindern sind prägend. In dieser Zeit werden wesentliche Grundlagen der Identität und Persönlichkeit gelegt. Kinder lernen dabei vorwiegend in Beziehungen und durch Erfahrung.
Die Forschung zeigt, dass die Entwicklung eines Werte und Normensystems bereits mit der Geburt beginnt (Keller 2007). Maßgeblich dafür sind die Erfahrungen, die junge Kinder in ihrer familiären und außerfamiliären Lebenswelt machen. In der Interaktion mit erwachsenen Bindungspersonen entwickeln sie Emotions- und Stressregulationskompetenzen, die Sicherheit bieten und Exploration, Lernen und Partizipation ermöglichen (Grossmann/Grossmann 2017). Im Kontakt mit Gleichaltrigen können Kinder sich im sozialen Miteinander erproben, Sozialkompetenzen und Ambiguitätstoleranz ausbilden. Dabei entwickeln sie ein Bild von sich selbst als Teil des sozialen Gefüges (Ittel/Raufelder/Scheithauer 2014). Gerade darin liegt eine große Chance: Als erste „wertebildende pädagogische Instanz“ (Schubarth/Tegeler 2016, S. 266) bieten frühkindliche Betreuungsinstitutionen für die Entwicklung von demokratisch ausgerichteten Normen, Werten und moralischen Überzeugungen von Kindern ein großes Potenzial.
Beteiligung und Wertschätzung im Kita-Alltag erleben
Demokratie kann in Kindertageseinrichtungen deshalb – anders als in der Schule oder Erwachsenenbildung – nicht gelehrt werden, sondern muss im Alltag für alle Beteiligten durch das Erleben von Zugehörigkeit in Vielfalt und die Möglichkeit von kindgerechter Beteiligung an den Prozessen der Lebenswelt erfahrbar sein. Kinder müssen Anerkennung, Wertschätzung und Beteiligung auf unterschiedliche Weise spüren und sich selbst darin erproben können. Das erfordert von pädagogischen Fachkräften eine bewusste Gestaltung der Umwelt sowie der zwischenmenschlichen Begegnungen entlang demokratischer Prinzipien.
In Anlehnung an demokratietheoretische und demokratiepädagogische Überlegungen können dabei drei Ebenen unterschieden werden (Richter/Lehmann/Sturzenhecker 2017, Höhme-Serke/Beyersdorff 2011): So können auf formalpartizipatorischer Ebene Beteiligungsformate strukturell verankert sein, wie zum Beispiel über einen Kita-Rat, Kinderkonferenzen, Beschwerdeverfahren oder eine Kita-Verfassung. Die alltagspartizipatorische Ebene wiederum richtet den Blick auf die Gestaltung der Interaktionen zwischen Fachkräften und Kindern im Alltagsgeschehen, die auf Wahrnehmung und Berücksichtigung von kindlichen Bedürfnissen abzielen, wie zum Beispiel beim Essen, Schlafen, bei der Auswahl von Spielorten oder Bildungsthemen. Dies ist Voraussetzung dafür, Kindern das Artikulieren von eigenen Sichtweisen und Anliegen zu ermöglichen.
Weiterhin muss in den Bildungseinrichtungen der Diskurs geführt werden, welche Normen und Werte den Umgang miteinander und das professionelle Selbstverständnis leiten. Entscheidend ist nämlich, dass sich nicht nur die pädagogische Praxis, sondern die gesamte Institution an demokratischen Grundwerten orientiert. Denn auch in der Zusammenarbeit der Leitung mit dem Team, der Teamkolleginnen und -kollegen untereinander oder der Träger mit der Einrichtung zeigt sich, ob das Miteinander demokratisch ausgerichtet ist. Wenn Kinder lernen sollen, ihr Handeln an demokratischen Grundwerten auszurichten, bleibt keine andere Alternative, als mit aller Konsequenz die Bedingungen in der gesamten Institution dafür zu schaffen.
Bundesausschuss Politische Bildung e.V. (Hrsg.) (2018): Forderung des Deutschen Bundestags nach Einrichtung eines Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung. Einschätzungen durch das Bap-Vorstandsmitglied Dr. Klaus Holz im Interview
Dewey, John (1993): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Weinheim/Basel
Dewey, John (1976 [1899]): The school and Society. In: ders.: The Middle Works, Vol. 1. Carbondale, S. 1109
Eberlein, Noemi/Durand, Judith/Birnbacher, Leonhard (2021 i.E.): Bildung und Demokratie mit den Jüngsten. Eine Bestandsaufnahme der Diskurse, Bezugstheorien und Konzepte zur Demokratiebildung in der Kindertagesbetreuung. Weinheim/Basel
Grossmann, Karin / Grossmann, Klaus E. (2017): Bindung. Das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart
Hafeneger, Benno (2019): Begriffsvielfalt, Entgrenzung, Aufmerksamkeitskultur. Kommentare zur neuen Unübersichtlichkeit auf dem Arbeitsfeld der politischen Bildung. In: Journal für Politische Bildung, Jg. 9, H. 2, S. 10–15
Höhme-Serke, Evelyne/Beyersdorff, Sabine (2011): Mit Kindern Demokratie leben. Aachen
Ittel, Angela/Raufelder, Diana/Scheithauer, Herbert (2014): Soziale Lerntheorien. In: Ahnert, Liselotte (Hrsg.): Theorien in der Entwicklungspsychologie. Heidelberg, S. 330–351
Keller, Monika (2007): Moralentwicklung und moralische Sozialisation. In: Horster, Detlef
(Hrsg.): Moralentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Wiesbaden, S. 17–50
Olk, Thomas/Roth, Roland (Hrsg.) (2010): Mehr Partizipation wagen. Argumente für eine verstärkte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Gütersloh
Richter, Elisabeth/Lehmann, Teresa / Sturzenhecker, Benedikt (Hrsg.) (2017): So machen Kitas Demokratiebildung. Empirische Erkenntnisse zur Umsetzung des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“. Weinheim/Basel
Schubarth, Wilfried/Tegeler, Julia (2016): Anregungen und Empfehlungen für eine offensive Wertebildung. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Werte lernen und leben. Theorie und Praxis der Wertebildung in Deutschland. Gütersloh
Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2021 von DJI Impulse „Politische Bildung von Anfang an: Wie Kinder und Jugendliche Demokratie lernen und erfahren können“ (Download PDF).