Wie Gerichte sich an der Kinderperspektive orientieren


Von Isabell Götz

Ein familiengerichtliches Verfahren ist, speziell in Sorgerechts- und Umgangsstreitigkeiten, häufig geprägt durch ein hohes Konfliktniveau der Beteiligten und einen sehr konträren und konfrontativ vorgetragenen Sachvortrag. Anders als in anderen gerichtlichen Verfahren muss das Familiengericht nicht nur den Streit der Erwachsenen lösen, sondern auch und vor allem dem Wohl der betroffenen Kinder, die die Eltern nicht selten aus dem Blick verlieren, zur Geltung verhelfen.

Kinder können zu einer guten gerichtlichen Entscheidung beitragen

Dem dient – neben dem zum Beispiel für das Kind zu bestellenden Verfahrensbeistand und der Anhörung des Jugendamts – insbesondere die in § 159 des „Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG) geregelte Pflicht des Familiengerichts, das Kind altersunabhängig anzuhören oder sich zumindest einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen (zur historischen Entwicklung Carl/Clauss/Karle 2015, Rn. 45 ff.) Diese Anhörung des Kindes trägt nicht nur zur Ermittlung des Willens und der Bindungen des Kindes bei, sondern auch zu einer gründlichen Sachverhaltsermittlung, die schon deshalb unabdingbar ist, weil Entscheidungen zum Sorgeund Umgangsrecht das Kind unmittelbar betreffen und damit ganz maßgeblichen Einfluss auf sein Leben nehmen.

Die Orientierung an der Perspektive des Kindes ist ohne seine persönliche Anhörung kaum denkbar, und daher ist sie es auch, die nicht selten – wenngleich manchmal eher zufällig – zum zutreffenden Ergebnis führt. Dies belegen zahlreiche Beispiele aus meiner Praxis als Familienrichterin. Wer mit Familienrecht befasst ist, kennt das Problem der Einflussnahme der Eltern auf das Kind, die oft wechselseitig behauptet und häufig schwer nachzuweisen ist. Es sei denn, das Kind selbst klärt auf: So geschehen in einem Verfahren vor dem Familiengericht, in dem ein zunächst redseliger Sechsjähriger bei der Anhörung plötzlich verstummte und auf Nachfrage einräumte, er habe jetzt vergessen, was er sagen solle. Dazu aufgefordert, doch einfach zu sagen, was er selbst sich in Sachen Umgang so vorstelle, wurde der Junge schnell wieder gesprächig und äußerte erstaunlich klare Vorstellungen. Es war keine große richterliche Kunst, auf dieser Basis anschließend eine Vereinbarung der Eltern zu erwirken.

Familiengerichte dürfen nur in Ausnahmen von der Kindesanhörung absehen

Von der verpflichtenden Kindesanhörung darf das Familiengericht nur in eng gefassten Ausnahmefällen absehen (vgl. § 159 Abs. 2 FamFG). Doch selbst wenn ein schwerwiegender Grund im Sinne von § 159 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG das Absehen von der Anhörung zuließe, kann es dazu kommen: In einem Kindesschutzverfahren bestand ein todkranker 17-Jähriger, dessen Eltern die elterliche Sorge teilweise entzogen worden war, auf seiner Anhörung. Die Ursache der Krankheit war unbekannt, fest stand nur, dass er in absehbarer Zeit sterben wird.

Im Gespräch schilderte der junge Mann bestimmt, dass er beschlossen habe, kein Krankenhaus mehr aufzusuchen, er wolle zu Hause sterben. Er fühle sich dort bestens versorgt, freue sich an seinen Geschwistern und seinen Freunden. Auch bei seinem letzten Krankenhausaufenthalt seien es abwechselnd seine Eltern und seine Geschwister gewesen, die ihn gewaschen, gewickelt und gepflegt hätten. Die Krankenschwester habe ihn hingegen, als Freunde mit Pizza und Cola vorbeikamen, darauf hingewiesen, dass beides ungesund sei. Der Jugendliche musste bei der Schilderung dieser absurden Situation so lachen, dass die Anhörung kurz unterbrochen werden musste, bis er wieder zu Atem gekommen war. Nach der Anhörung stand rasch fest, dass den Wünschen des Jugendlichen in der gerichtlichen Entscheidung Rechnung getragen wird.

Das Kind soll möglichst unbefangen seinen Willen mitteilen

§ 159 Abs. 4 Satz 4 FamFG überlässt die Ausgestaltung der persönlichen Anhörung – neben einigen Vorgaben in Satz 1 bis 3 – weitgehend dem Ermessen des Familiengerichts (Thomas/Putzo 2024, § 159 Rn. 20). Im Rahmen dieses Ermessens entscheidet das Familiengericht auch über die Anoder Abwesenheit weiterer Personen. In der Regel wird das Kind ohne seine Eltern angehört, damit es möglichst unbefangen seinen Willen mitteilen kann. Aber auch insoweit können Ausnahmen hilfreich für die gerichtliche Entscheidung sein: Ein 70-jähriger Mann schwängerte die Tochter seiner Lebensgefährtin. Die 25-jährige Frau war aufgrund eines Sauerstoffmangels bei ihrer Geburt auf dem Stand eines dreijährigen Kindes. Der Vater kämpfte um das Sorgerecht für seinen Sohn und darum, dass Mutter, Kind und er als Familie zusammenleben dürfen.

Der Senat hat die Mutter in der Einrichtung, in der sie lebt, besucht. An dem Tag fand auch der monatliche Besuch der Pflegemutter mit dem inzwischen knapp dreijährigen Kind statt. Es wurde deutlich, dass Mutter und Sohn sich kennen. Beide haben gleichermaßen gespannt zugehört, als die Pflegemutter ein Bilderbuch vorgelesen hat. Ein Betreuer der Einrichtung teilte mit, dass die Mutter sich nur die Zähne selbstständig putzen könne, mehr nicht. Die Frage eines Zusammenlebens der Familie und der Versorgung des Kindes durch die Mutter war damit geklärt.

Die Kindesperspektive kann auch in Vollstreckungsverfahren hilfreich sein

Die Anhörung des Kindes erfolgt grundsätzlich im Hauptsacheverfahren und im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 51 Abs. 2 Satz 1 FamFG). Ob eine Anhörungspflicht im Vollstreckungsverfahren besteht, wird uneinheitlich beurteilt (Zusammenstellung des Meinungsstreits bei Dutta/Jacoby/Schwab 2022, § 159 Rn. 6). Allerdings kann sie im Einzelfall auch dort sehr sinnvoll sein: Auf der Basis eines schon älteren Umgangstitels wurden zahlreiche Ordnungsgeldverfahren geführt. Im Rahmen derer wandte die Mutter stets ein, die bei ihr lebenden, schon älteren Kinder würden sich weigern, den Umgang wahrzunehmen.

In einem der Vollstreckungsverfahren wurden die Kinder sodann angehört und schilderten äußerst plastisch das für sie schon viele Jahre immer wieder enttäuschende und zum Teil auch verletzende Verhalten des unzuverlässigen Umgangsberechtigten. Die Verweigerung jeden Umgangs war damit nachvollziehbar und führte außerdem zum Ende weiterer Vollstreckungsversuche, nachdem dem Umgangsberechtigten das Ergebnis der familiengerichtlichen Anhörung mitgeteilt worden war.

Für Anhörungen von Kindern sind spezielle Kompetenzen nötig – aber nicht garantiert

Natürlich verläuft nicht jede Kindesanhörung erfolgreich. Manches Kind mag gar nichts sagen, andere geben mehr oder weniger auswendig den Akteninhalt wieder. Gleichwohl bleibt sie unverzichtbar für die Orientierung an der Perspektive des Kindes, vielleicht sogar gerade dann. Nicht unerwähnt bleiben soll aber auch, dass die Kompetenzen der Richter bei Ausgestaltung der Anhörung durchaus voneinander abweichen. Zwar schreibt § 23b Abs. 3 GVG (inzwischen) bestimmte Kenntnisse vor, etwa betreffend die Entwicklungspsychologie des Kindes und die Kommunikation mit Kindern, die Familienrichter haben sollen. Eine Garantie, dass sie darüber verfügen, ist das allerdings nicht.

Carl, Eberhard / Clauss, Marianne / Karle, Michael (2015): Kindesanhörung im Familienrecht, Rechtliche und psychologische Grundlagen sowie praktische Durchführung. München

Thomas, Heinz / Putzo, Hans (2024): Zivilprozessordnung: ZPO, Kommentar, 45. Auflage. München


Dutta, Anatol / Jacoby, Florian / Schwab, Dieter (2022): FamFG, Kommentar, 4. Auflage. Bielefeld

 


Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 3+4/2024 von DJI Impulse „Elternkonflikte meistern: Wie Kinder gstärkt aus Familienkrisen hervorgehen“ (Download PDF).

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