Die Interessen des Kindes im Familien- und Familienverfahrensrecht stärken

Die Perspektive von Kindern und Jugendlichen wird im deutschen Recht nicht genügend berücksichtigt. Ursache ist ein rückständiges Kindheitsbild. Die aktuellen Reformpläne sind ein Schritt in die richtige Richtung. Doch es sind weitere Schritte nötig, um Grundrechte des Kindes noch besser zu verwirklichen.

Von Eva Schumann

Nach Art. 3 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) von 1989 sind bei familiengerichtlichen Entscheidungen die Interessen des Kindes vorrangig zu berücksichtigen („In all actions concerning children, […] undertaken by […] courts of law […], the best interests of the child shall be a primary consideration.“). Das Kindschaftsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) ist hingegen traditionell vom Kindeswohlbegriff geprägt. Von „Interessen“ des Kindes ist in den Regelungen zum Eltern-Kind-Verhältnis nicht die Rede und der die subjektiven Kindesinteressen dokumentierende Kindeswille wird ebenfalls nicht erwähnt. Auch im „Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG) ist das Kindeswohl Orientierungspunkt gerichtlicher Entscheidungen, allerdings stehen bei den Aufgaben der Verfahrensbeistandschaft die Kindesinteressen und bei der Kindesanhörung der Kindeswille im Mittelpunkt. Das Verhältnis der (Rechts-)Begriffe „Kindeswohl“, „Kindeswille“ und „Kindesinteresse“ zueinander ist jedoch nicht klar geregelt und daher in der Rechtsanwendung umstritten.

Im Folgenden wird zunächst die Bedeutung der drei Begriffe sowie deren Verhältnis zueinander im Normgefüge von BGB und FamFG untersucht (I.). Dabei geht es auch um die Frage, welches Kindheitsbild dem deutschen Recht zugrunde liegt. Ausgehend von der Annahme, dass den subjektiven Interessen des Kindes im Gegensatz zum (objektiv von Erwachsenen bestimmten) Kindeswohl bislang zu wenig Rechnung getragen wird, werden anschließend verfassungs- und völkerrechtlich problematische Leerstellen im BGB und FamFG aufgezeigt sowie Reformvorschläge zur Stärkung der Interessen und Rechte des Kindes zur Diskussion gestellt (II.).

Neuer Referentenentwurf zur Reform des Kindschaftsrechts

Mitte Oktober 2024 wurde der neue Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) zum Kindschaftsrecht – „Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts – Modernisierung von Sorgerecht, Umgangsrecht und Adoptionsrecht (Kindschaftsrechtsmodernisierungsgesetz – KiMoG)“ – vorgelegt, der die Rechtsstellung von Minderjährigen ab 14 Jahren durch die Einführung neuer Mitsprache-, Entscheidungs- und Antragsrechte stärken soll (BMJ Referentenentwurf KiMoG 2024, S. 2). Da der Entwurf kurz nach Drucklegung der kürzeren Printversion dieses Beitrags veröffentlicht wurde, wird auf diesen nur in der digitalen Langfassung Bezug genommen.

I. Kindeswohl – Kindeswille – Kindesinteresse

Die Fokussierung des BGB-Kindschaftsrechts auf das Kindeswohl zeigt sich exemplarisch in den gesetz­lichen Regelungen zum Umgang des Kindes, die anlässlich der Kindschaftsrechtsreform 1998 neu konzi­piert wurden (BT-Drs. 13/4899, S. 1 f., 68 f., 93). Obwohl das Umgangsrecht (als Teil des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) ein Recht der Eltern im Interesse des Kindes ist (BVerfGE 121, 69, 95) und daher dem berechtigten Interesse des Kindes am Umgang mit jedem Eltern­teil bei gerichtlichen Ent­scheidungen ein entsprechendes Gewicht zukommen muss, hat der Gesetz­geber von einer klaren an den Kindes­interessen orientierten Formu­lierung abgesehen und stattdessen wenig aussage­kräftig darauf hin­gewiesen, dass der Umgang mit beiden Eltern­teilen in der Regel „zum Wohl des Kindes“ gehört (§ 1626 Abs. 3 Satz 1 BGB), sowie in § 1684 Abs. 1 Hs. 1 BGB ein letztlich nicht durchsetz­bares Recht des Kindes auf Umgang mit jedem Elternteil verankert (BVerfGE 121, 69, 98 ff.).

Aber auch in anderen zentralen Regelungen zum Eltern-Kind-Verhältnis werden die Interessen oder der Wille des Kindes nicht explizit genannt. Allerdings lässt sich § 1626 Abs. 2 Satz 1 BGB mit dem Appell an die Eltern, bei Erziehungs­entscheidungen „die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungs­bewusstem Handeln“ zu berücksichtigen, dahingehend interpretieren, dass die Eltern mit zunehmender Entwicklung des Kindes zu einer eigen­verantwortlichen Persönlichkeit dessen Wünsche und Vorstellungen auch (entsprechend) zunehmend respektieren müssen, selbst wenn diese von den elterlichen Erziehungs­vorstellungen abweichen. Das Bundes­verfassungsgericht (BVerfG) hat hierfür das Bild vom abschmelzenden Eltern­recht gezeichnet und geht von einer abnehmen­den Pflege- und Erziehungs­bedürftigkeit des Kindes bei zunehmender Selbst­bestimmungs­­fähigkeit aus (BVerfGE 59, 360, 382). Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies: Das verfassungs­rechtlich garantierte Eltern­recht und die daraus abgeleiteten einfach­gesetzlichen Rechtsbefugnisse der Eltern müssen dem grundgesetzlich geschützten Interesse des Kindes auf möglichst ungehinderte Entfaltung seiner eigenen Persönlichkeit weichen, sobald das Kind eigen­verantwortlich handeln kann und für die konkrete Ent­scheidung nicht mehr auf den Schutz beziehungs­weise die Hilfe der Eltern angewiesen ist (Veit 2023, S. 18f.).

Dass junge Menschen bereits vor Erreichen der Voll­jährigkeit in vielen Bereichen ihre Interessen eigen­verantwortlich wahrnehmen können, ist unbestritten. Das einfache Recht sieht im Wesentlichen zwei Instrumente zur Gewähr­leistung der eigenen Interessen­­wahrnehmung durch Minderjährige vor: Das eine ist die sogenannte Teil­mündigkeit des Kindes (etwa die 1921 eingeführte Religions­mündigkeit ab 14 Jahren nach § 5 RKErzG); solche „Teilmündigkeiten“ sind jedoch bislang nur für wenige Bereiche vorgesehen (kritisch Veit 2023, S. 18). Das andere Instrument ist die gerichtliche Konflikt­lösung, die aber voraussetzt, dass ein Verfahren angestrengt wird. Das Kind selbst kann jedoch nur bei Verdacht einer Kindeswohl­gefährdung eine Anregung zur Durchführung eines Kinderschutz­verfahrens geben, während diese Möglichkeit bei einem Eltern-Kind-Konflikt unterhalb der Kindeswohlgefährdungs­schwelle grundsätzlich nicht besteht (kritisch Röthel 2018, S. 102 ff. sowie mit Blick auf internationale Vorgaben Masing 2015, S. 19). Lediglich in Sonderfällen, etwa bei einem Eltern-Kind-Konflikt über die Änderung des Geschlechts­eintrags im Personen­register und des Vornamens, ist eine Entscheidung des Konflikts durch das Familien­gericht gesetzlich vorgesehen (§ 3 Abs. 1 Satz 2 SBGG seit 1. November 2024; BT-Drs. 20/9049, S. 37). Im Übrigen können die Interessen des Kindes nur dann vor das Familien­gericht gebracht werden, wenn sich ein Eltern­teil die Position des Kindes zu eigen macht und es dadurch zu einem Konflikt zwischen den Eltern kommt (so etwa OLG Frankfurt a.M. NZFam 2021, S. 872 ff. zur Corona-Schutzimpfung eines fast 16-jährigen Kindes).

Das deutsche Kindschaftsrecht ist allein auf das „Wohl des Kindes“ fixiert

Aber auch in Elternkonfliktverfahren stellt sich die Frage, ob die Interessen des Kindes beim Streit um Angelegen­heiten der Sorge, der Betreuung oder des Umgangs tatsächlich im Vorder­grund stehen. In diesen Verfahren gilt nämlich das Kindeswohl­prinzip nach § 1697a Abs. 1 BGB: Danach ist die­jenige Entscheidung zu treffen, die unter Berücksichtigung der Interessen der Eltern dem Wohl des Kindes am besten entspricht (BT-Drs. 13/4899, S. 110 f.). Die mit der Kind­schaftsrechts­reform 1998 eingeführte Norm scheint Art. 3 Abs. 1 UN-KRK (ähnlich inzwischen auch Art. 24 Abs. 2 EU-Grundrechte­charta von 2009) nachgebildet zu sein. Nach Art. 3 Abs. 1 UN-KRK haben Gerichte unter Berück­sichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und der Interessen der Eltern diejenige Entscheidung zu treffen, mit der die Interessen des Kindes bestmöglich verwirklicht werden können (Krappmann 2013, S. 2 ff.; weiterführend Wapler 2015, S. 235 ff., 241 ff., 244 ff.). 2013 hat der UN-Kinderrechts­ausschuss klargestellt, dass Art. 3 Abs. 1 UN-KRK nicht nur ein allgemeines Prinzip enthält, sondern ein (völker­rechtlich garantiertes) Recht des Kindes, und dass seinen Interessen bei staatlichen Entscheidungen vorrangig Rechnung zu tragen ist (Committee on the Rights of the Child 2013). Seit 2014 haben Kinder zudem ein Individual­beschwerderecht, mit dem sie vor dem UN-Kinderrechts­ausschuss Rechts­verletzungen geltend machen können (dazu insgesamt Masing 2015, S. 18ff.).

Die Fixierung des deutschen Kindschaftsrechts auf das „Wohl des Kindes“ hat dazu geführt, dass „best interests of the child“ in Art. 3 Abs. 1 UN-KRK in der offiziellen deutschen Übersetzung mit „Kindeswohl“ wiedergegeben wird, während in anderen Vertrags­sprachen der Interessen­begriff übernommen wurde (dazu und zum Interessenbegriff des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK: Krappmann 2013, S. 7 ff.; Liebel 2018, S. 206 ff.; Masing 2015, S. 23 f.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 2018, S. 7 f.). Dabei handelt es sich nicht nur um eine ungenaue Übersetzung, vielmehr liegt dem deutschen Kindes­wohl­begriffein Kindheits­bild zugrunde, das historisch dem Fürsorge­recht zuzuordnen ist (Masing 2015, S. 23 f.): Das BGB von 1900 kannte den Begriff nur im Zusammen­hang mit der Kindeswohl­gefährdung (Scheiwe 2013, S.219); das traditionell paternalistisch geprägte Kindheits­bild wirkte zudem lange nach und scheint noch nicht völlig überwunden.

Es ist ein Gemeinplatz, dass die Interpretation von Rechts­begriffen dem Wandel unterliegt und dem­zufolge heute unter „Kindeswohl“ etwas anderes verstanden wird als im Jahr 1900. Allerdings stellt sich die Frage, warum der Gesetzgeber noch fast hundert Jahre nach Inkrafttreten des BGB bei der Formu­lierung des Kindeswohl­prinzips in § 1697a Abs. 1 BGB den „berechtigten Interessen“ der Eltern „nur“ das „Wohl des Kindes“ gegenüber­gestellt und sich nicht mit den Unterschieden zwischen dem tradierten Kindeswohl­begriff des BGB und dem damals neuen Interessen­begriff des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK auseinander­gesetzt hat. Stattdessen wird versucht, mit dem Kindeswohl­begriff „die ganze Bandbreite unterschiedlicher Kindheits­bilder vom paternalistischen bis hin zum kinderrechts­basierten“ abzudecken (Masing 2015, S. 24). Dies gilt auch für den neuen Referenten­entwurf des BMJ.

Kindesinteressen haben eine objektive und subjektive Seite

Dass es einen Unterschied macht, ob von „Kindeswohl“ oder von „Kindesinteresse“ im Gesetzestext die Rede ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Zwar kann hier nicht auf die in der Forschung vertretenen Begriffsverständnisse eingegangen werden (ausführlich Wapler 2015, S. 313ff.), allerdings hat sich der Gesetzgeber selbst anlässlich der Reform des familiengerichtlichen Verfahrens 2008 zum Verhältnis von „Kindesinteresse“, „Kindeswohl“ und „Kindeswille“ geäußert: Im Zusammenhang mit der Ermittlung und Wahrung der Kindesinteressen durch den Verfahrensbeistand (§ 158 Abs. 1 FamFG) heißt es nämlich, dass mit Interesse des Kindes in erster Linie der Wille des Kindes gemeint sei. Im Hinblick auf die Wertungen des Kindschaftsrechts des BGB habe der Verfahrensbeistand jedoch in seiner Stellungnahme „sowohl das subjektive Interesse des Kindes (Wille des Kindes) als auch das objektive Interesse des Kindes (Kindeswohl) einzubeziehen“ (BT-Drs. 16/6308, S. 239). Mit dieser Konzeption, nach der sich das Kindesinteresse aus dem (subjektiv vom Kind erklärten) Kindeswillen sowie dem (objektiv von Erwachsenen zu bestimmenden) Kindeswohl zusammensetzt – und der zufolge Kindeswohl und Kindesinteresse nicht identisch sind –, soll im Folgenden gearbeitet werden.

Doch zunächst noch einmal kurz zurück zum Institut der Verfahrens­beistandschaft: Dieses verwirklicht die Vorgaben von Art. 12 Abs. 2 UN-KRK und Art. 9 Abs. 1 Europäisches Überein­kommen über die Ausübung von Kinder­rechten (EÜAK). Daher finden sich im Ausland ähnliche Institute, etwa in Österreich der sogenannte Kinder­beistand, der Kinder durch das gerichtliche Verfahren begleiten und diesen helfen soll, ihren Willen und ihre Wünsche im Verfahren zu äußern. Der Kinder­beistand ist allerdings nach § 104a Abs. 1 Satz 1 Außerstreit­gesetz (AußStrG) grundsätzlich nur für Minderjährige unter 14 Jahren zu bestellen. Der österreichische Gesetzgeber hält somit in der Regel Minder­jährige ab 14 Jahren für fähig, ihre Interessen vor Gericht selbst wahrzunehmen (§ 104 Abs. 1 Satz 1 AußStrG). Aber auch der für jüngere Kinder bestellte Kinder­beistand fungiert nur als „Sprachrohr“ des Kindes. Erst das Gericht ist für die „‚objektive‘ Bestimmung des Kindes­wohls“ zuständig, hat demzufolge die durch den Kinder­beistand vermittelte Darstellung des Willens des Kindes „in dessen Lebens­zusammenhang einzuordnen“ und „vor diesem Hintergrund […] die objektiven Interessen zu bewerten“ (Parlament Österreich 2009, S. 5).

Im Gegensatz zum österreichischen Verfahrensrecht, das in der Regelung zum Kinder­beistand den Willen des Kindes (beziehungsweise „dessen Meinung“) in den Vordergrund stellt (§ 104a Abs. 2 Satz 3 AußStrG), sah sich der deutsche Gesetzgeber bei der Neu­konzeption der Verfahrens­beistandschaft „der Wertung des materiellen Rechts, das vom Zentral­begriff des Kindes­wohls geprägt ist (vergleiche § 1697a BGB)“, verpflichtet (BT-Drs. 16/6308, S. 239). Spätestens hier stellt sich die Frage, welche Bedeutung den Kindes­interessen beziehungsweise dem Kindeswillen im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung zukommen soll, wenn die Entscheidungs­grundlagen des BGB-Kindschafts­rechts explizit weder an die Interessen noch an den Willen des Kindes anknüpfen?

Da klare Vorgaben im Gesetz fehlen, behelfen sich die Familien­gerichte regelmäßig damit, dass sie zur Ermittlung des Kindes­wohls im konkreten Einzelfall den Kindeswillen als eines von mehreren relevanten Kriterien heranziehen (BGH NJW 2016, S. 2497, Rn. 20, 44). Dies hat zur Folge, dass der Kindes­wille im Kindes­wohl aufgeht und bei einem Konflikt zwischen Wille und Wohl unter Rückgriff auf die Rechts­prechung des BVerfG die Formel „Kindeswohl geht vor Kindeswillen“ stark gemacht wird (BVerfG NJOZ 2007, S. 2411, 2414: „Der Wille des Kindes ist zu berücksichtigen, soweit das mit seinem Wohl vereinbar ist.“). Letztlich bedeutet dies, dass der Kindeswille nur dann als beachtlich eingeordnet wird, wenn er als vernünftig gilt, das heißt dem objektiv (aus Erwachsenen­perspektive) bestimmten Wohl des Kindes entspricht, und damit regelmäßig hinter dem „wohl verstandenen“ Interesse, das heißt dem Kindes­wohl, zurücktreten muss (Schumann 2023, S. 93f.).

Kindeswohl und Kindeswille ins Verhältnis setzen

Werden hingegen Kindeswohl und Kindeswille als eigenständige Kategorien begriffen und erst im Rahmen der als Ober­begriff fungierenden „Kindes­interessen“ zusammen­gebracht (siehe oben), dann ließen sich der geäußerte Wille des Kindes und das aus Erwachsenen­perspektive objektiv bestimmte Wohl ganz anders als bislang ins Verhältnis setzen – insbesondere unter Heran­ziehung des vom BVerfG aufgestellten Grund­satzes, dass der geäußerte Wille, das heißt das vom Kind selbst definierte Interesse, mit zunehmen­dem Alter des Kindes immer stärker zu berück­sichtigen ist: Denn das Kind macht „mit der Kundgabe seines Willens von seinem Recht zur Selbst­bestimmung Gebrauch“ und seinem Willen kommt „mit zunehmendem Alter vermehrt Bedeutung“ zu (BVerfG BeckRS 2016, 52361 Rn. 20). Im Rahmen der gerichtlichen Bewertung der Kindes­interessen wäre dann – bei fehlendem Gleichlauf von objektiver und subjektiver Seite (Wille-Wohl-Konflikt) – in Abhängigkeit vom Alter und Entwicklungs­stand des Kindes sowie von den jeweiligen Umständen des Einzel­falls mal das Kindes­wohl und mal der Kindes­wille entscheidend (Schumann 2023, S. 87ff.).

Auch wenn sich Kindes­wohl und Kindes­wille in den meisten Fällen in Ein­klang bringen lassen, kann die Anknüpfung an die Kindes­interessen mit einer objektiven und einer subjektiven Seite dazu beitragen, dass der im Einzel­fall vorliegende Widerspruch zwischen Kindes­wohl und Kindes­wille dem Gericht abverlangt, sich mit den Gründen hierfür auseinander­zusetzen und bei der Lösung des Wille-Wohl-Konflikts die Folgen einer unterschied­lichen Gewichtung der beiden Kriterien herauszuarbeiten (Schumann 2023, S. 87ff.). Im Ergebnis kann dann auch der Wille des Kindes das ausschlag­gebende Kriterium für eine den Kindes­interessen entsprechende Entscheidung sein, beispielsweise wenn ein Kind den (objektiv betrachtet kindeswohl­dienlichen) Umgang mit einem Eltern­teil entschieden ablehnt. In der Praxis lässt sich diese Entwicklung in Umgangs­sachen bereits erkennen: Hier wird von Seiten der Rechtsprechung zunehmend der Kindes­wille eigenständig gewürdigt und im Einzel­fall auch vorrangig vor dem Kindes­wohl berücksichtigt (Schmidt 2020, S. 250ff., 329; Schäder 2019, S. 1124f.; vergleiche weiter Röthel 2018, S. 96ff. zu Sorge- und Umgangsentscheidungen).

II. Lücken im geltenden Recht und Vorschläge zur Stärkung der Kindesinteressen

Dass dem deutschen Recht teilweise ein rückständiges Kindheits­bild zugrunde liegt und daher Grund­rechte des Kindes sowie die skizzierten völker- und europa­rechtlichen Vorgaben im BGB und FamFG noch nicht hinreichend gewährleistet sind, wurde bereits angesprochen und wird inzwischen auch vermehrt kritisiert (Masing 2015; Röthel 2018; Veit 2023). Allerdings fehlt derzeit noch – im Gegensatz zur Debatte um die Aufnahme von Kinder­rechten ins Grundgesetz – ein breit geführter Reform­diskurs. Um diesen in Gang zu bringen, sollen im Folgenden drei Reform­vorschläge zur Diskussion gestellt werden: (1) die Verwirklichung der Interessen des Kindes im höchst­persönlichen Bereich durch eine neue Regelung zur „Teilmündigkeit“ (als stärkste Form der sog. Eigen­zuständigkeit des Kindes), (2) die Einführung eines eigenen Antrags­rechts des Kindes zur Einleitung eines familien­gerichtlichen Verfahrens im Falle eines Eltern-Kind-Konflikts sowie (3) die stärkere Berücksichtigung des Kindeswillens bei familien­gerichtlichen Entscheidungen, die die Person des Kindes betreffen. Während es bei (1) und (2) vor allem um ältere Minder­jährige geht, sind bei (3) auch jüngere Kinder in den Blick zu nehmen.

1. „Teilmündigkeit“ für Entscheidungen im höchstpersönlichen Bereich

Im österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetz­buch (ABGB) wird für „mündige“ Minder­jährige zwischen 14 und 18 Jahren (§ 21 Abs. 2 Hs. 2 ABGB) vermutet, dass diese entscheidungs­fähig sind und daher allein in eine medizinische Behand­lung einwilligen können (§ 173 Abs. 1 Satz 1 ABGB). Die Vermu­tung kann im Einzel­fall widerlegt werden; bei medizinischen Eingriffen mit schwer­­wiegenden Folgen ist zusätzlich die Zustimmung der Eltern erforderlich (sog. Co-Konsens bezüglich der Ein­willigung, § 173 Abs. 2 ABGB). Entsprechend klare Regelungen zur Eigen­­zuständigkeit Minderjähriger für Entscheidungen im höchstpersönlichen Bereich kennt das BGB nicht. Gerade bei medizinischen Eingriffen ist in Deutschland höchst umstritten, in welchen Fällen Minderjährige allein (das heißt ohne Zustimmung der Eltern) in eine medizinische Behandlung einwilligen können (zur Problematik etwa Röthel 2018, S. 94 f.; Veit 2023, S. 15, 18). Die komplexe Debatte kann hier nicht nachgezeichnet werden, es sei nur darauf hingewiesen, dass der Gesetz­geber anlässlich der Einführung des Patienten­rechtegesetzes 2013 für die medizinische Behandlung eines Kindes bewusst offengelassen hat, ob die „Eltern als gesetzliche Vertreter, gegebenen­falls der Minderjährige allein oder auch der Minder­jährige und seine Eltern gemeinsam einwilligen müssen“ (BT-Drs. 17/10488, S. 23). Daher fehlt eine klare Regelung zur Einwilligung Minder­jähriger in § 630d Abs. 1 BGB.

Zur Umsetzung der Rechtsprechung des BVerfG zum abschmelzenden Elternrecht (siehe oben Ziffer I.) erscheint es sinnvoll, eine (zentrale) Regelung im Kindschafts­recht zu schaffen, die es einsichtsfähigen Minder­jährigen gestattet, ihre höchstpersönlichen Rechte selbst auszuüben. Höchst­­persönlich sind (neben der bereits gesetzlich geregelten Eigenzu­ständigkeit in Bezug auf das religiöse Bekenntnis) insbesondere die Entscheidung über eine medizinische Behandlung, über eine bestimmte Schulform oder Ausbildung, über die geschlechtliche Identität sowie über den Umgang mit beziehungs­weise den Aufenthalt bei Dritten (vergleiche aber auch die Differenzierung bei Röthel 2018, S. 111 ff.). Ist die Selbstbestimmungs­fähigkeit des Kindes gegeben, dann stellt die gesetzliche Zuweisung der Eigenzuständigkeit („Teil­mündigkeit“) auch keinen Eingriff in das Eltern­recht dar (BVerfGE 59, 360, 382; Röthel 2018, S. 92f.).


Ergänzend zu einer solchen generellen Eigenzuständigkeit im höchstpersönlichen Bereich könnte eine widerlegbare Vermutungsregel vorgesehen werden, wonach Minderjährige ab 14 Jahren bezüglich der genannten Entscheidungen in der Regel als einsichtsfähig gelten. Eine solche Vermutung ermöglicht im Einzelfall Abweichungen vom gesetzlich festgelegten Kindesalter nach oben oder unten. Um Kindeswohlgefährdungen auszuschließen, könnte gegebenenfalls zusätzlich für bestimmte gesetzlich definierte Fälle (etwa bei medizinischen Eingriffen mit schwerwiegenden Folgen) die Zustimmung der Eltern als gesetzliche Vertreter des Kindes vorgesehen werden.

Dieser Vor­schlag mag auf den ersten Blick noch etwas holzschnitt­artig wirken, Detail­fragen sollten jedoch Gegen­stand einer breiten Reform­­diskussion sein. Hier geht es zunächst darum, die Umsetzung der verfassungs­rechtlich vorgegebenen Eigenzu­ständigkeit einsichts- und urteilsfähiger Minder­jähriger im höchstpersönlichen Bereich für das Kindschafts­recht anzuerkennen und die notwendige Diskussion über die konkrete Ausgestaltung voranzubringen, zumal der neue Referenten­entwurf des BMJ das Selbst­bestimmungsrecht Minder­jähriger nur partiell stärkt: Dort sind zwar Mitwirkungs­rechte des mindestens 14 Jahre alten Kindes bei Verein­barungen zum Umgang und der elterlichen Sorge vorgesehen (§§ 1628 Abs. 4, 1640 Abs. 2, 1642 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, 1677 Abs. 2, 1685 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BGB-Entwurf), darüber hinaus wird aber die Eigen­zuständigkeit des Kindes nicht anerkannt.

2. Antragsrecht des Minderjährigen im Eltern-Kind-Konflikt

Um die genannten höchstpersönlichen Rechte des Kindes durchzusetzen oder um eine bereits vorliegende gerichtliche Entscheidung zu Einzelfragen der elterlichen Sorge, zur Betreuung, zum Umgang oder Aufenthalt des Kindes abändern zu lassen, sollte Minderjährigen zudem ein Recht auf Einleitung eines familiengerichtlichen Verfahrens eingeräumt werden (Röthel 2018, S. 103 f.). Auch hier zeigt ein Blick in die Rechtsordnung Österreichs, dass sich Antragsrechte Minderjähriger zur Lösung eines konkreten Eltern-Kind-Konflikts mit Hilfe einer familiengerichtlichen Entscheidung gesetzlich verankern lassen. So kann in Österreich jedes Kind bei Gericht einen Antrag auf Regelung des Umgangs mit einem Elternteil sowie mit einem hierzu bereiten Dritten (zum Beispiel den Großeltern) stellen (§§ 187 Abs. 1 Satz 3, 188 Abs. 2 ABGB). Ein entscheidungsfähiges Kind, das seine Meinung über seine Ausbildung den Eltern erfolglos vorgetragen hat, kann ebenfalls das Gericht anrufen. Dieses hat dann nach sorgfältiger Abwägung der von den Eltern und dem Kind angeführten Gründe die zum Wohl des Kindes angemessenen Verfügungen zu treffen (§ 172 ABGB), wobei dem Kindeswillen (entsprechend der Regelung des § 160 Abs. 3 ABGB) besondere Bedeutung zukommt.

Bei Einführung eines eigenen Antragsrechts Minderjähriger in Deutschland bietet sich eine feste Altersgrenze von 12 (oder 14) Jahren an, um einen niedrigschwelligen Zugang zum gerichtlichen Verfahren ohne Vorabprüfung der Einsichtsfähigkeit des antragstellenden Kindes zu ermöglichen. Das Antragsrecht des Kindes sollte zudem auf Meinungsverschiedenheiten mit den Eltern (beziehungsweise dem gesetzlichen Vertreter) über höchstpersönliche Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung beschränkt sein. Zu denken ist insbesondere an Fragen des Aufenthalts, der Betreuung, des Umgangs, der medizinischen Behandlung, der Ausbildung und der geschlechtlichen Identität. Ist ein familien­gerichtliches Verfahren eingeleitet, kann auf bewährte Instrumente des FamFG, zum Beispiel auf ein Hinwirken auf Einvernehmen (in diesem Fall zwischen Eltern und Kind), zurückgegriffen werden. Ist eine gerichtliche Entscheidung nötig, dann sollte das Recht des Kindes auf Selbstbestimmung (unter Berück­sichtigung der Gegebenheiten des Einzelfalles und der berechtigten Interessen der Eltern) so weit wie möglich verwirklicht werden (Schumann 2018, B 86 ff.; zustimmend Veit 2023, S. 20).

Zum Antragsrecht Minderjähriger gibt es bereits konkrete Vorschläge (Schumann 2018, B 89). Zudem wurde in den Reformdebatten zum Kindschaftsrecht vor gut fünf Jahren ein Antragsrecht des Kindes breit gefordert. So wurde auf dem 72. Deutschen Juristentag (DJT) 2018 beschlossen, dass „Kindern ab 14 Jahren […] in sie persönlich betreffenden Angelegenheiten ein eigenes Antragsrecht einzuräumen“ ist (Abteilung Familienrecht 2018, Ziff. 13b). Die vom BMJ eingerichtete Arbeitsgruppe „Sorge- und Umgangs­recht, insbesondere bei gemeinsamer Betreuung nach Trennung und Scheidung“ hat 2019 empfohlen, dass Kindern ein eigenes Antragsrecht zur Entscheidung „in höchstpersönlichen Angelegenheiten“, die „für das Kind von besonderer Bedeutung sind (insbesondere in Fragen des Aufenthalts, der Betreuung, des Umgangs, der medizinischen Behandlung und der Ausbildung)“, zustehen sollte (Thesenpapier 2019, S. 1987, Thesen 35, 37, 38b). Schließlich wurde auf dem 23. Deutschen Familiengerichtstags 2019 im Arbeits­kreis 6 einstimmig beschlossen, dass bei einer „Verletzung eigener subjektiver Rechte“ die „Rechte des Kindes […] im Verfahren durch ein eigenes Antragsrecht gestärkt“ und entsprechende Anpassungen des Kindschaftsrechts vorgesehen werden sollten (Arbeitskreis 6 2019, S. 109, Ziff. 4).


Der neue Referentenentwurf des BMJ erkennt zwar einen Reformbedarf in Bezug auf ein eigenes Antragsrecht des Kindes „bei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Kind und seinen Eltern für Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung […], insbesondere in Fragen des Aufenthalts, der Betreuung, des Umgangs, der medizinischen Behandlung und der Ausbildung“ grundsätzlich an (BMJ Referentenentwurf KiMoG 2024, S. 55ff. unter Bezugnahme auf Schumann, 2018, B 86 ff. sowie These 37 der Arbeitsgruppe „Sorge- und Umgangsrecht“, Thesenpapier 2019, S. 1987), allerdings sollen Minderjährigen ab 14 Jahren Antragsrechte nur bezüglich einer Änderung der elterlichen Sorge (§§ 1632 Abs. 3, 1633 Abs. 3, 1635 Abs. 2 BGB-Entwurf), nicht aber in anderen Eltern-Kind-Konflikten über Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung eingeräumt werden.

3. Stärkere Berücksichtigung des Kindeswillens bei familiengerichtlichen Entscheidungen

Seit der Reform des § 159 FamFG im Jahr 2021 sind Kinder in familiengerichtlichen Verfahren, die ihre Person betreffen, grundsätzlich altersunabhängig anzuhören, damit „der Rechts- und Subjektstellung des Kindes im Verfahren besser Rechnung getragen“ werden kann (BT-Drs. 19/23707, S. 25; Schumann im Erscheinen, Rn. 4, 10, 12). Allerdings hat der Gesetzgeber bei der Reform (erneut) die Chance vertan, eine Regelung zur Berücksichtigung des Kindeswillens bei der Entscheidungsfindung zu schaffen. Trotz dieser Leerstelle besteht weitgehende Einigkeit, dass der Kindeswille als wichtiges Kriterium zur Bestimmung des Kindeswohls heranzuziehen ist, insbesondere wenn dieser Ausdruck der Bindungen und Neigungen des Kindes ist (BVerfG BeckRS 2008, 39043 Rn. 33).

Schwieriger sind Konstellationen, in denen der geäußerte Kindeswille in erster Linie Ausdruck der Selbstbestimmung des Kindes ist (BVerfG BeckRS 2008, 39043 Rn. 31 f.) und (vermeintlich) im Widerspruch zum Kindeswohl steht. In solchen Fällen ist zu verlangen, dass das Gericht den Gründen für das Auseinanderfallen von Wohl und Wille nachgeht (BVerfG BeckRS 2016, 52361 Rn. 22) und darüber hinaus die Folgen einer Beachtung des Kindeswillens denen einer Nichtbeachtung gegenüberstellt. In der Begründung der Entscheidung sollte zudem dargelegt werden, warum das Kindeswohl einem entgegen­stehenden Kindeswillen beziehungsweise umgekehrt der Kindeswille dem entgegen­stehenden Kindes­wohl vorgehen soll (Schumann im Erscheinen, Rn. 51). Eine solche „jeweils zugrunde gelegte Gewichtung von Wohl und Wille“ in die Entscheidungs­gründe aufzunehmen, empfiehlt sich schon deshalb, damit der Kindeswille „nicht ‚irgendwie‘ im Wohl aufgehen kann“ (Röthel 2018, S. 116).

Zusätzlich sollte in § 1697a Abs. 1 BGB als zentraler Norm für familiengerichtliche Konfliktlösungen die Formulierung „dem Wohl des Kindes am besten entspricht“ zu „die Kindesinteressen bestmöglich verwirklicht“ geändert und mit der (Rechtssicherheit erzeugenden) Klarstellung verbunden werden, dass bei Ermittlung der Kindesinteressen Kindeswohl und Kindeswille zu berücksichtigen sind (ähnlich Röthel 2018, S. 115 ff.; Veit 2023, S. 20). Zudem sollte die Rechtsprechung des BVerfG aufgegriffen und in der Norm zum Ausdruck gebracht werden, dass in persönlichen Angelegenheiten des Kindes der (geäußerte) Wille gegenüber dem Wohl mit zunehmendem Alter und wachsender Reife des Kindes stärker zu gewichten ist (BVerfG BeckRS 2016, 52361 Rn. 20; Schumann 2023, S. 87 ff.). Ein entsprechender Vorschlag zur Stärkung des Kindeswillens wurde bereits auf dem 72. DJT mit ganz überwiegender Mehrheit angenommen (Abteilung Familienrecht 2018, Ziff. 13a). Die vom BMJ eingerichtete Arbeitsgruppe zum „Sorge- und Umgangs­recht“ hat 2019 ebenfalls vorgeschlagen, dass bei höchstpersönlichen Angelegen­heiten des Kindes „der Wille des Kindes bei entsprechender Reife in der Regel vorrangig berücksichtigt werden“ sollte (Thesenpapier 2019, S. 1987, These 35). Schließlich könnte klargestellt werden, dass dem Kindes­willen Geltung zu verschaffen ist, wenn dessen Missachtung einen erheblichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Kindes darstellen würde. So kann beispielsweise im nieder­ländischen Recht der Umgang mit einem Elternteil ausgeschlossen werden, wenn das mindestens 12-jährige Kind ernsthafte Einwände gegen den Umgang geäußert hat (Art. 1:377a Abs. 3c Burgerlijk Wetboek). Auch das BVerfG geht davon aus, dass ein gegen den ernsthaften Widerstand eines Kindes erzwungenes Verhalten durch die Erfahrung der Missachtung der eigenen Persönlichkeit mehr schadet als nützt und daher mit dem Persönlichkeits­recht des Kindes unvereinbar ist (BVerfG BeckRS 2016, 52361 Rn. 20). Dies gilt grund­sätzlich auch für jüngere Kinder (Schäder 2019, S. 1121, 1124 f.; Schumann 2023, S. 93ff.).

Der neue Referentenentwurf des BMJ hält weiterhin am „Kindeswohl“ als Bezugspunkt für familien­gerichtliche Entscheidungen fest. Allerdings soll ein (nicht abschließender) Katalog von relevanten Bedürfnissen des Kindes ins BGB aufgenommen werden, mit dessen Hilfe das Kindes­wohl zu ermitteln ist (der Katalog umfasst elf Ziffern, die jeweils mehrere Aspekte enthalten). Zu diesen gehört auch das „Bedürfnis des Kindes nach […] Berücksichtigung seines Willens unter Beachtung seines Alters [sowie] seiner Fähigkeit zu Einsicht und Selbst­bestimmung“ (§ 1626 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 BGB-Entwurf). Damit bleibt aber der Kindes­wille weiterhin nur ein Aspekt unter vielen zur Bestimmung des Kindes­wohls. Ihm kommt somit gerade nicht die hier geforderte Bedeutung zu, wenngleich die Neuregelung in der familien­gerichtlichen Praxis zu einem höheren Begründungs­aufwand führen dürfte und dies zu einer etwas stärkeren Berück­sichtigung des Kindes­willens beitragen könnte.

III. Fazit: Notwendig ist ein kinderrechtsbasiertes Kindheitsbild

Im Zentrum aktueller familienrechtlicher Debatten steht nicht die Forderung nach einem kinderrechts­basierten Kindheits­bild im BGB und FamFG verbunden mit einer Stärkung der Kindes­interessen (insbesondere des Kindeswillens), sondern die Frage, ob und wie spezifische Kinder­rechte im Grundgesetzverankert werden können (Veit 2023; Röthel 2020). Da der allgemeine Grundrechts­schutz für Kinder (Röthel 2018, S. 91 ff.) sowie der verfassungsrechtliche Gestaltungsauftrag zum Eltern-Kind-Verhältnis (BVerfGE 121, 69, 94; Schumann 2018, B 14 f.) jedoch unabhängig von dieser Frage bestehen, wurde diese Diskussion hier ausgeklammert, wenngleich die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz für die vorgeschlagenen Reformforderungen durchaus verstärkend wirken dürfte (Veit 2023, S. 17 ff.). Auch der neue Referentenentwurf des BMJ sieht den bestehenden Reformbedarf, geht allerdings nur erste Schritte in die hier vorgezeichnete Richtung.

Unabhängig davon kann und sollte die Debatte um eine Stärkung der Interessen des Kindes im BGB und FamFG geführt werden: Hierzu gehört erstens die Forderung nach einer besseren Verwirklichung der Eigen­zuständigkeit vor allem älterer Minderjähriger im höchstpersönlichen Bereich (siehe Ziffer II.1), zweitens die Einführung eines Rechts älterer Minderjähriger, bei Meinungs­verschieden­heiten mit den Eltern über eine höchstpersönliche Angelegenheit von erheblicher Bedeutung ein familien­gerichtliches Verfahren beantragen zu können (siehe Ziffer II.2) sowie drittens eine Weiter­entwicklung des Kindes­wohlprinzips in § 1697a Abs. 1 BGB im Sinne des Kindheits­bildes des Art. 3 Abs. 1 UN-KRK, idealerweise durch Einführung des Begriffs der Kindes­interessen, damit eine eigenständige Bewertung und Gewichtung des Kindes­willens im Verhältnis zum Kindeswohl unter diesem Ober­begriff vorgenommen werden kann und der Kindes­wille nicht mehr irgendwie im Kindes­wohl aufgeht (siehe Ziffer II.3). Ungeachtet der hier vorgelegten konkreten Vorschläge geht es vor allem darum, diese Debatte voranzubringen, um Lücken im Grundrechts­schutz Minder­jähriger zu schließen und das deutsche Kindschafts­recht an internationale Entwicklungen anschlussfähig zu machen.

Abteilung Familienrecht (2018): Beschlüsse. In: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.): Verhandlungen des 72. Deutschen Juristentages Leipzig 2018, Bd. II/2: Sitzungsberichte – Diskussion und Beschlussfassung. München, L 63-73

Arbeitskreis 6 „Die Rollen der Beteiligten im Verfahren – Sein und Sollen“ (2019). In: Deutscher Familiengerichtstag e.V. (Hrsg.): 23. Deutscher Familiengerichtstag vom 18. – 21. September 2019 in Brühl. Ansprachen und Referate, Berichte und Ergebnisse der Arbeitskreise. Bielefeld, S. 109

Bundesministerium der Justiz (2024): Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts – Modernisierung von Sorgerecht, Umgangsrecht und Adoptionsrecht (Kindschafts­rechtsmodernisierungs­gesetz – KiMoG)

Committee on the rights of the child (2013): General comment No. 14 (2013) on the right of the child to have his or her best interests taken as a primary consideration (art. 3 para. 1), CRC/C/GC/14

Krappmann, Lothar (2013): Kindeswohl im Spiegel der UN-Kinderrechtskonvention. In: EthikJournal, 1. Jg., H. 2, S. 1–17


Liebel, Manfred (2018): In the children’s best interests? Kinderinteressen und Kinderrechte. In: Kleeberg-Niepage, Andrea/Rademacher, Sandra (Hrsg.): Kindheits- und Jugendforschung in der Kritik. (Inter-)Disziplinäre Perspektiven auf zentrale Begriffe und Konzepte. Wiesbaden, S. 195–224 

Masing, Vanessa (2015): Das Konzept des besten Interesses des Kindes neu überdacht. Anmerkungen zum General Comment Nr. 14: Vorrangstellung des Kindeswohls. In: Deutsches Kinderhilfswerk e.V. (Hrsg.): Kinderreport Deutschland 2015. Rechte von Kindern in Deutschland, S. 18–30

Parlament Österreich (2009): Materialien zur Regierungsvorlage Kinderbeistand-Gesetz. 486 der Beilagen XXIV

Röthel, Anne (2020): Emanzipationsdebatten. Beobachtungen aus Anlass der Kinderrechte-Debatte. In: Juristenzeitung (JZ), 75. Jg., H. 13, S. 645–652

Röthel, Anne (2018): Das Recht des Kindes auf Eigenzuständigkeit. Zum dogmatischen Potential der Verdeutlichung von Kinderrechten. In: Röthel, Anne/Heiderhoff, Bettina (Hrsg.): Mehr Kinderrechte? Nutzen und Nachteil. Frankfurt a. M., S. 89–117

Schäder, Birgit (2019): Kindeswille und Umgangsvereitelung – Die Bedeutung des Kindeswillens für umgangsrechtliche Maßnahmen bei Umgangsvereitelung durch den betreuenden Elternteil­. In: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ), H. 14, S. 1120–1125

Scheiwe, Kerstin (2013): Das Kindeswohl als Grenzobjekt – die wechselhafte Karriere eines unbestimmten Rechtsbegriffs. In: Hörster, Reinhard et. al. (Hrsg.): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden, S. 209–231

Schmidt, Jan-Robert (2020): Will das Kind sein Wohl? Eine Untersuchung über Kindeswille und Kindeswohl im Sorge- und Umgangsrecht nach Scheidungen von 1946 bis 2016. Tübingen

Schumann, Eva (im Erscheinen): § 159 FamFG. In: Rauscher, Thomas (Hrsg.): Münchener Kommentar zum FamFG, Bd. 1: §§ 1-270, 4. Auflage. München

Schumann, Eva (2023): Berücksichtigung des Kindeswillens im Kinderschutzverfahren. In: Fegert, Jörg M. et. al. (Hrsg.): Gute Kinderschutzverfahren. Tatsachenwissenschaftliche Grundlagen, rechtlicher Rahmen und Kooperation im familiengerichtlichen Verfahren. Berlin, S. 85–101

Schumann, Eva
(2018): Gemeinsam getragene Elternverantwortung nach Trennung und Scheidung – Reformbedarf im Sorge-, Umgangs- und Unterhaltsrecht? Gutachten B zum 72. Deutschen Juristentag. München 

Thesenpapier der Arbeitsgruppe „Sorge- und Umgangsrecht, insbesondere bei gemeinsamer Betreuung nach Trennung und Scheidung“ im Bundesjustizministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vom 29.10.2019 (2019). In: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ), H. 24, S. 1986–1988

Veit, Barbara (2023): Kinderrechte im Grundgesetz. In: Juristenzeitung (JZ), 78. Jg., H. 1, S. 11-21

Wapler, Friederike (2015): Kinderrechte und Kindeswohl. Eine Untersuchung zum Status des Kindes im Öffentlichen Recht. Tübingen 

Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (2018): Zum Kindeswohl in Artikel 3 Absatz 1 UN-Kinderrechtskonvention (WD 9 – 30000 – 068/17), S. 1–11

Eine Kurzfassung des Beitrags erschien in Ausgabe 3+4/2024 von DJI Impulse „Elternkonflikte meistern: Wie Kinder gstärkt aus Familienkrisen hervorgehen“ mit weitere Analysen zum Thema (Download PDF).

Bestellung und Abonnement von DJI Impulse