„Unsere Kinder sind stark, wenn sie unsere Schule verlassen“

Brennpunktschule? Von wegen! Wie es trotz heterogener Schülerschaft und schwieriger sozialer Rahmenbedingungen gelang, die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm zu einer Vorzeigebildungseinrichtung zu machen, ausgezeichnet mit dem Deutschen Schulpreis – Rektor Frank Wagner im Interview.

DJI: Herr Wagner, 57 Prozent der Kinder an Ihrer Grundschule haben einen Migrationshintergrund. Viele kommen aus armen Familien, etliche sprechen zu Hause kein Deutsch. Wie erleichtern Sie Kindern und Eltern den Einstieg ins deutsche Schulsystem?
Frank Wagner: Uns ist es wichtig, früh mit den Familien ins Gespräch zu kommen – am besten schon lange vor der Einschulung. Deshalb haben wir ein Programm entwickelt, bei dem sich einige Kinder aus unserer Schule auf den Weg in die Kindertagesstätten machen, um einen ersten Kontakt zu den Vorschulkindern herzustellen. Das passiert ganz spielerisch, zum Beispiel mithilfe einer Handpuppe.

Außerdem bieten Sie regelmäßige Informationsabende an.
Ja, und wir ermutigen die Eltern, uns jederzeit zu schreiben oder anzurufen. Diese Lockerheit ist mir sehr wichtig. Eltern sollen sich trauen, Fragen zu stellen. Der Kontakt mit den Kindergärten ermöglicht es uns außerdem, schon im Vorfeld mit Erzieherinnen und Erziehern zu sprechen. Wenn einzelne Kinder größere Schwierigkeiten haben, kann man gemeinsam überlegen, welche Hilfestellungen wir als Schule geben können.

Die Kinder kommen mit sehr unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzen zu Ihnen. Wie verhindern Sie, dass die einen sich im Unterricht langweilen, während die anderen überfordert sind?
Darauf haben wir unser gesamtes Schulkonzept ausgerichtet. In unserem sogenannten Lernkaleidoskop arbeiten die Kinder von Anfang an nach eigenem Tempo und mit eigenen Lernplänen. Wir sehen das auch gar nicht als Nachteil, dass die Schülerschaft so inhomogen ist. Bei uns gilt: Menschen sind alle unterschiedlich – und wir versuchen, uns gegenseitig anzunehmen. Wenn man diesen Satz einfach mal an den Anfang stellt, entspannt das das Miteinander ungemein. Mir persönlich ist diese Grundhaltung sehr wichtig. Denn Kinder, die es ohnehin schwer haben im Leben, sollen nicht auch noch in der Schule entmutigt und demoralisiert werden. Das würde mir in der Seele wehtun.

Wir sind keine Schule, an der die Kolleginnen und Kollegen jeden Tag bis acht Uhr abends arbeiten müssen. Wir sind einfach sehr, sehr gut organisiert.

Bekannt geworden ist Ihre Schule unter anderem wegen der Lobbriefe, die regelmäßig an die Kinder verteilt werden. Ist Wertschätzung auch deshalb so wichtig, weil an Ihrer Schule viele Kulturen und soziale Schichten aufeinandertreffen?
Ich wehre mich ein bisschen dagegen, mit dem Thema Wertschätzung in Richtung Kuschelpädagogik für Brennpunktschulen gedrängt zu werden. Denn so reagieren manche weiterführenden Schulen. Da heißt es dann etwas abschätzig: Ja, ja, Loben ist natürlich schön, aber bei uns geht es um Leistung! Das ist eine weitverbreitete Einstellung. Dabei brauchen wir Menschen alle die Anerkennung unserer Umgebung. Und es ärgert mich, wenn Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen keine Wertschätzung mehr erleben. Für das Lernen ist das fatal! Denn Kompetenzen sind immer emotional durchtränkt, das wissen wir aus der Forschung. Und auch an unserer Schule steht der Leistungsgedanke im Mittelpunkt, das spiegelt sich sogar ganz wörtlich in unserem Schulmotto: „Lachen – Leisten – Lesen“.

Spielt der Migrationshintergrund der Kinder im Schulalltag eine Rolle?
Dass die Kinder verschieden sind und auch verschiedene kulturelle Hintergründe mitbringen, ist für uns ganz normal. So wie ein Mensch braune und ein anderer blonde Haare hat, so kommt die Großmutter eines Kindes eben aus der Türkei und die Eltern eines anderen Kindes aus Syrien. Es ist eine Gratwanderung: Einerseits versuchen wir, das nicht ständig in den Vordergrund zu rücken. Andererseits feiern wir bewusst internationale Feste, bei denen die Familien zeigen können, wie sie leben. Wir haben auch einen internationalen Schulgarten mit Tieren, Pflanzen und einer Grillecke mit mehreren Grills. Der Garten ist für gemeinsame Treffen gedacht, da sitzen auch mal Eltern, Kinder, Lehrerinnen und Lehrer zusammen und gucken Fußball.

Wie viel aktive Elternarbeit machen Sie, und wie viele Eltern erreichen Sie damit?
Es gibt unter anderem ein Eltern-Café, regelmäßige Eltern-Frühstücke, eine Eltern-Walking-Gruppe und eine Eltern-Fußballmannschaft. Wir versuchen, viele Möglichkeiten und Anknüpfungspunkte zu schaffen. Das wird gut angenommen, gerade von Eltern mit Migrationshintergrund. Dennoch erreichen wir längst nicht alle – das wäre auch utopisch. Es gibt immer Familien, die hinten runterfallen.

Die Gebrüder-Grimm-Schule ist eine normale staatliche Grundschule, sie verfügt nicht über zusätzliche Budgets oder Stellen. Wie können Sie dennoch die vielen Projekte und Angebote für Kinder und Eltern stemmen? Überspitzt formuliert: Basiert das alles auf der Selbstausbeutung des pädagogischen Teams?
Es basiert auf Begeisterung – aber auch auf Struktur. Wir sind keine Schule, an der die Kolleginnen und Kollegen jeden Tag bis acht Uhr abends arbeiten müssen. Wir stehen auch nicht alle kurz vor dem Burn-out. Wir sind einfach sehr, sehr gut organisiert. Wir verfügen über ein detailliert ausgearbeitetes Schulprogramm, das funktioniert wie unser externes Gehirn. Beispielsweise müssen wir nicht jedes Jahr den Flohmarkt oder die Einschulungsfeier neu vorbereiten, weil die Abläufe und die Aufgabenverteilung im Schulprogramm genau niedergelegt sind. So vertrödeln wir auch weniger Zeit in Konferenzen.

Wir erfüllen natürlich den Lehrplan, aber wir setzen eigene Schwerpunkte. Das dürfen Schulen übrigens!

Für die Schülerinnen und Schüler ist die Struktur ebenfalls spürbar, denn die Schultage sind stark durchrhythmisiert. Ist das gerade für Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen wichtig?
Absolut! Es mag sich widersprüchlich anhören, aber je mehr Strukturen wir vorgeben, umso freier, offener und leistungsfähiger können die Kinder lernen. Strukturen geben Sicherheit. Wir versuchen aufzufangen, was den Kindern zu Hause teilweise fehlt. Das fängt schon bei der Einrichtung der Klassenräume an, auch da ist vieles festgelegt. Auch sonst ist nicht alles freiwillig, nach dem Motto: Jeder macht den ganzen Tag, was er will. Wir geben immer einen Rahmen vor, den wir dann schrittweise öffnen. Das funktioniert richtig gut! Wir können es zwar bisher nicht wissenschaftlich belegen, weil es sich schwer evaluieren lässt, aber wir sind überzeugt davon, dass diese vielschichtigen Strukturen für unsere Kinder immens wichtig sind. Sie führen auch zu ganz viel Ruhe innerhalb der Schule.

Bildungschancen hängen in Deutschland maßgeblich vom Elternhaus ab. Kinder mit Migrationshintergrund starten daher oft schlechter ins Leben. Wie könnte aus Ihrer Sicht ein politischer Lösungsansatz für dieses jahrzehntealte Problem aussehen?
Ich würde gar nicht zuallererst nach der Politik rufen. Schulen in Deutschland haben sehr viele Freiheiten, nur nutzen sie sie nicht. Oft fehlt der Mut, eigene Wege zu gehen. Würden wir die Potenziale ausschöpfen, die die Politik uns zur Verfügung stellt, hätten wir schon viele Bildungsungerechtigkeiten beseitigt. Als Vater erlebe ich häufig, dass ich meinen Kindern bei den Hausaufgaben helfen muss. Meiner Meinung nach ruhen sich viele Schulen darauf aus, dass zu Hause jemand unterstützt und erklärt. Wir setzen das an unserer Schule nicht voraus; das können wir bei vielen Familien auch gar nicht. Deshalb mussten wir uns ein anderes System überlegen. Dabei sind wir zu dem Schluss gekommen, dass wir Inhalte reduzieren und den Unterricht zukunftsorientierter gestalten wollen. Wir hetzen nicht mehr durch das Schuljahr, nur um die Kapitel der Schulbücher abzuarbeiten. Denn davon bleibt bei den Kindern ohnehin nicht viel hängen.

Was machen Sie stattdessen?
Wir haben Basiskompetenzen definiert, die jedes Kind erwerben muss. Dazu gehören eine lesbare Handschrift, schnelles und sinnentnehmendes Lesen sowie die grundlegenden Rechenarten. Diese Dinge trainieren wir mit den Kindern unentwegt, vom ersten bis zum vierten Schuljahr. Und wir legen viel Wert auf die Stärkung der emotionalen Intelligenz und auf kreative Problemlösungen. Das ist es doch, was man braucht, um im 21. Jahrhundert erfolgreich zu sein. Wenn andere Themen dabei weniger vorkommen, dann ist das so. Dann schreiben wir eben keine Klassenarbeit über die richtige Verwendung der wörtlichen Rede – um es mal plakativ auszudrücken. Wir erfüllen natürlich den Lehrplan, aber wir setzen eigene Schwerpunkte. Das dürfen Schulen übrigens!

Was ist für Sie persönlich Erfolg – wenn die Kinder nach der vierten Klasse eine Gymnasialempfehlung bekommen?
Ich würde sagen: Wir haben es gut gemacht, wenn wir die Kinder begeistern konnten. Für ihre Umgebung, für die Natur, die Stadt, für andere Menschen, für die Welt – und für das Lernen. Das hat für mich nichts mit einer Gymnasialempfehlung zu tun. Wir haben unser Ziel erreicht, wenn die Kinder in den vier Jahren Grundschule über sich hinauswachsen, wenn sie sich beispielsweise trauen, auf einer Bühne zu stehen, wenn sie fröhlich und selbstbewusst sind. Unsere Kinder sind stark, wenn sie unsere Schule verlassen. Sie stehen mit beiden Füßen auf dem Boden; sie wissen, wer sie sind und was sie können.

Interview: Astrid Herbold

Weitere Analysen gibt es in der Ausgabe 1/2020 des Forschungsmagazins DJI Impulse „Ungleiche Kindheit und Jugend – Wie junge Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland aufwachsen“ (Download PDF).

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