Aufwachsen in Migrationsfamilien

Bildung gilt als Schlüssel für Integration und Teilhabe. Dabei spielen auch die Lebenssituationen und Erziehungsstile von Eingewanderten eine bedeutende Rolle.

Von Alexandra Jähnert und Eveline Reisenauer

Rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland weist einen direkten oder indirekten Migrationshintergrund auf. Daher erlangt die Frage, inwiefern junge Menschen von Migrations- und Integrationsprozessen betroffen sind, zunehmend Aufmerksamkeit. Das Interesse richtet sich im öffentlichen Diskurs bisher vorrangig auf deren Bildungsbeteiligung. Doch auch der eigenen oder familialen Migrationserfahrung, der Sozialisation innerhalb der Familie und der allgemeinen Lebenswelt kommt eine zentrale Bedeutung für die Teilhabe und Integration dieser jungen Menschen in Deutschland zu.

Die Migrationserfahrungen junger Menschen sind vielfältig

Kindheit und Jugend im Migrationskontext stellt ein äußerst heterogenes Phänomen dar (Betz u.a. 2015). Während zahlreiche junge Menschen nur aufgrund der Einwanderung ihrer Eltern oder Großeltern über einen Migrationshintergrund verfügen, sind andere zusammen mit erwachsenen Angehörigen nach Deutschland gekommen. Außerdem sind seit dem Jahr 2015 zunehmend unbegleitete minderjährige Schutz- und Asylsuchende nach Deutschland gekommen. Mit diesen unterschiedlichen Migrationserfahrungen gehen auch vielfältige räumliche Familienkonstellationen einher. Einige junge Menschen leben gemeinsam mit ihrer gesamten Familie im Einwanderungsland – bei anderen findet das Familienleben zwischen zwei Ländern, also in einem transnationalen Kontext statt (Reisenauer 2017). Die jeweiligen Umstände bringen auch jeweils eigene Integrationsbedingungen und -verläufe im Einwanderungsland mit sich. Insgesamt kann damit nicht von einer homogenen Gruppe junger Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland die Rede sein. Auch wenn im Folgenden nicht die gesamte Bandbreite von Kindheit und Jugend im Migrationskontext abgebildet werden kann, sollen einige Facetten der Familien- und Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen unter Bedingungen der Migration analysiert werden.

Der familiale Zusammenhalt hat hohen Stellenwert

Die Familie als primärer Bildungsort nimmt eine zentrale Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und die Bildungschancen von Kindern ein. Der Themenkomplex Migration und Familie hat allerdings lange Zeit wenig Aufmerksamkeit erfahren – eine Ausnahme bilden die Arbeiten des Soziologen Bernhard Nauck (Nauck 1985). Erst im letzten Jahrzehnt sind entsprechende Fragestellungen zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt (Geisen u.a. 2013, Fischer/Springer 2011). Bisherige Studien verweisen auf die Auswirkungen von Migration auf das Familienleben und die Erziehung. Kinder mit Migrationshintergrund wachsen häufiger bei verheirateten Eltern und in Mehrkindfamilien auf (Jähnert 2020). Dabei sind Generationenbeziehungen in den Familien im Allgemeinen durch einen hohen Stellenwert des familialen Zusammenhalts gekennzeichnet. Das spiegelt sich auch in der größeren Wichtigkeit von Eltern und Geschwistern für junge Menschen mit Migrationshintergrund wider (Spieß u.a. 2016).

Wenngleich sich keine allgemeingültigen und damit auf alle Migrantinnen und Migranten übertragbaren Aussagen bezüglich der Erziehung treffen lassen, bringen sowohl herkunfts- als auch migrationsbezogene Aspekte Besonderheiten in der Erziehung mit sich. Empirische Befunde deuten darauf hin, dass sich unter anderem in Hinblick auf die Ausprägung von kindlicher Autonomie und Verbundenheit Unterschiede zwischen Familien mit und ohne Migrationshintergrund zeigen. Für Migrantinnen und Migranten haben Gehorsam und Konformität einen zentralen Stellenwert, die kindliche Autonomie hat hingegen eine geringere Bedeutung (Citlak u.a. 2008, Herwartz-Emden/Westphal 2000).

Meist weisen junge Menschen mit Migrationshintergrund eine schlechtere sozioökonomische Situation auf

Eine migrationssensible Perspektive auf Erziehung wird gegenwärtig auch in dem Forschungsprojekt "Diversität und Wandel der Erziehung in Migrantenfamilien" (DIWAN) eingenommen. Der Alltag von Kindern und Jugendlichen gestaltet sich abhängig von ihren Lebensbedingungen sehr vielfältig. Neben der nationalen Herkunft und der Aufenthaltsdauer in Deutschland beeinflussen Familienstruktur und -beziehungen die Lebenswelten der jungen Menschen. Meist weisen junge Menschen mit Migrationshintergrund auch eine schlechtere sozioökonomische familiale Situation auf. Unter anderem steht ihnen oft weit weniger Wohnraum zur Verfügung, da sie mit mehr Geschwistern als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund aufwachsen. Zudem leben vor allem junge Menschen mit beidseitigem Migrationshintergrund deutlich häufiger in Großstädten und großen Wohngebäuden, in denen sie seltener als deutsche Kinder ein eigenes Zimmer haben, was zu Benachteiligungen führt (Jähnert 2020).

Interethnische Freundschaften sind eher selten

Über die Familie hinaus haben Freundschaften einen wichtigen Stellenwert in der Lebenswelt von jungen Menschen. Freundschaften fördern die Unabhängigkeit von den Eltern, unterstützen den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung und schaffen neue Bildungsräume (Rauschenbach u.a. 2004). Die Größe des Freundeskreises mit Personen, die nicht zur eigenen Familie gehören, gilt als Indikator der sozialen Einbettung (Haug 2004). Kinder, die selbst zugewandert oder deren Eltern beide im Ausland geboren sind, geben im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund dreimal so oft an, dass ihre Freunde aus derselben Familie beziehungsweise aus der Verwandtschaft stammen (Jähnert 2020).

Außerdem beeinflussen Eltern mit Migrationshintergrund häufiger die Wahl der Freundinnen und Freunde ihrer Kinder und beschränken somit eher das Entstehen interethnischer Freundschaften zu Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund (Smith u.a. 2015). Der Stellenwert der Familie wird auch in der Freizeitgestaltung der Heranwachsenden mit Migrationshintergrund nochmals deutlich. Vereinssport, der Besuch von Jugendgruppen oder die Teilnahme an Tanz- und Theatergruppen wird von jungen Menschen mit Migrationshintergrund abhängig von ihrer Aufenthaltsdauer und ihrem Geschlecht in geringerem Maße verfolgt. Dadurch haben diese Kinder und Jugendlichen weniger Möglichkeiten, Freundschaften außerhalb der Familie zu knüpfen.

Potenziale und Kompetenzen der Transnationalität stärker beachten

In öffentlichen Diskursen wird oft pauschal von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gesprochen, wobei ein defizitorientiertes Bild vorherrscht. Auch wenn mögliche Risikokonstellationen in Verbindung mit Migration im Blick behalten werden müssen, um strukturellen Benachteiligungen im Kindes- und Jugendalter entgegenzuwirken und somit einen Bildungs- und Arbeitsmarkterfolg von jungen Menschen mit Migrationshintergrund zu befördern, erscheinen weitere Differenzierungen erforderlich. Abhängig von der familialen sozialen Lage, der Migrationsgeneration sowie der kulturellen und nationalen Herkunft ergeben sich unterschiedliche Herausforderungen. Zudem steht der Migrationshintergrund von jungen Menschen nicht ausschließlich in Zusammenhang mit Benachteiligungen. Vielmehr birgt das Aufwachsen in Migrationskontexten für Kinder und Jugendliche auch spezifische Chancen (Diehl u.a. 2016).

Kinder und Enkelkinder von Migrantinnen und Migranten wachsen häufig in einem interkulturellen oder transnationalen Setting auf; sie haben unter Umständen bereits selbst in einem anderen Land gelebt und unterhalten Kontakte zu Familienmitgliedern und  Freunden im Ausland. Damit einhergehend bilden sie Potenziale und Kompetenzen der Transnationalität aus, wie etwa Mobilitätskompetenzen, Mehrsprachigkeit, interkulturelles Wissen oder Sozialkapital im Ausland (Reisenauer 2020). Diese Potenziale und Kompetenzen sind in unterschiedlichen lokalen und multikulturellen Kontexten einsetzbar und können Kindern und Jugendlichen als wertvolle Ressource zur Gestaltung ihrer (transnationalen) Lebenswelt dienen. Dementsprechend verweist die Forschung durchaus auch auf positive Zusammenhänge zwischen Migration, Transnationalität und Bildung (Apitzsch/Siouti 2008, Fürstenau 2008). Das Aufwachsen in Migrationskontexten ist demnach nicht nur mit Herausforderungen verbunden, sondern ebenso als Chance für Kinder und Jugendliche zu begreifen.

Apitzsch, Ursula / Siouti, Irini (2008): Transnationale Biographien. In: Homfeldt, Hans Günther/Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (Hrsg.): Soziale Arbeit und Transnationalität. Herausforderungen eines spannungsreichen Bezugs. Weinheim, S. 97–111

Betz, Tanja / Prein, Gerald / Rauschenbach, Thomas (2015): Aufwachsen in der Einwanderungsgesellschaft. In: Otyakmaz, Berrin Özlem/Karakaşoǧlu-Aydın, Yasemin (Hrsg.): Frühe Kindheit in der Migrationsgesellschaft. Erziehung, Bildung und Entwicklung in Familie und Kindertagesbetreuung. Wiesbaden, S. 3–28

Citlak, Banu / Leyendecker, Birgit / Schölmerich, Alex / Driessen, Ricarda / Harwood, Robin L. (2008): Socialization Goals among First- and Second-Generation Migrant Turkish and German Mothers. In: International Journal of Behavioral Development, 32. Jg., H. 1, S. 56–65

Diehl, Claudia / Gerlach, Irene / Leyendecker, Birgit (2016): Einleitung. In: Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen (Hrsg.): Migration und Familie. Kindheit mit Zuwanderungshintergrund. Wiesbaden, S. 3–8

Fischer, Veronika / Springer, Monika (Hrsg.) (2011): Handbuch Migration und Familie. Grundlagen für die Soziale Arbeit mit Familien. Schwalbach am Taunus

Fürstenau, Sara (2008): Transnationalität und Bildung. In: Homfeldt, Hans Günther/Schröer, Wolfgang/Schweppe, Cornelia (Hrsg.): Soziale Arbeit und Transnationalität. Herausforderungen eines spannungsreichen Bezugs. Weinheim, S. 203–218

Geisen, Thomas / Studer, Tobias / Yildiz, Erol (Hrsg.) (2013): Migration, Familie und soziale Lage. Beiträge zu Bildung, Gender und Care. Wiesbaden

Haug, Sonja (2004): Soziale Integration durch soziale Einbettung in Familie, Verwandtschafts- und Freundesnetzwerke. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 29. Jg., H. 2, S. 163–191

Herwartz-Emden, Leonie / Wextphal, Manuela (2000): Konzepte mütterlicher Erziehung. In: Herwartz-Emden, Leonie (Hrsg.): Einwandererfamilien. Geschlechterverhältnisse, Erziehung und Akkulturation. Osnabrück, S. 99–120

Jähnert, Alexandra (2020): Lebenswelten von jungen Menschen mit Migrationshintergrund: Familialer Alltag und Freizeitgestaltung. In: Lochner, Susanne/Jähnert, Alexandra (Hrsg.): DJI-Kinder- und Jugendmigrationsreport 2020. Datenanalyse zur Situation junger Menschen in Deutschland. Bielefeld, S. 47–88

Nauck, Bernhard (1985): Arbeitsmigration und Familienstruktur. Eine Analyse der mikrosozialen Folgen von Migrationsprozessen. Frankfurt am Main

Rauschenbach, Thomas u.a. (Hrsg.) (2004): Konzeptionelle Grundlagen für einen nationalen Bildungsbericht – Non-formale und informelle Bildung im Kindes- und Jugendalter. In: Bildungsreform, Band 6. Bonn

Reisenauer, Eveline (2017): Transnationale persönliche Beziehungen in der Migration. Soziale Nähe bei physischer Distanz. Wiesbaden

Reisenauer, Eveline (2020): Transnationale Identitätskonstruktionen im Migrationskontext. In: Genkova, Petia/Riecken, Andrea (Hrsg.): Handbuch Migration und Erfolg. Psychologische und sozialwissenschaftliche Aspekte. Wiesbaden, S. 139–152

Smith, Sanne / Maas, Ineke / Van Tubergen, Frank (2015): Parental Influence on Friendships Between Native and Immigrant Adolescents. In: Journal of Research on Adolescence, 25. Jg., H. 3, S. 580–591

Spieß, Katharina C. / Walper, Sabine / Diewald, Martin (2016): Ausgewählte Analysen zum Zusammenhang von Migration und Teilhabe. In: Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen (Hrsg.): Migration und Familie. Kindheit mit Zuwanderungshintergrund. Wiesbaden, S. 129–180

Weitere Analysen gibt es in Ausgabe 1/2020 des Forschungsmagazins DJI Impulse mit dem Titel „Ungleiche Kindheit und Jugend – Wie junge Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland aufwachsen“ (Download PDF).

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