„Familienpolitik muss Frauen dabei unterstützen, frühzeitig wirtschaftlich unabhängig zu werden“


Das Armutsrisiko von Alleinerziehenden ist etwa dreimal so hoch wie jenes von Elternteilen in Paarbeziehungen. Warum Familienforscherin Christina Boll bisherige politische Gegenstrategien nicht für ausreichend hält, welche Reformen nötig sind und wie die geteilte elterliche Betreuung von Kindern besser gelingen könnte. 

DJI Redaktion: Das Familienministerium rückte im Zehnten Familienbericht explizit die „Unterstützung allein- und getrennterziehender Eltern und ihrer Kinder“ in den Fokus. Welche Gründe gibt es dafür?

PD Dr. Christina Boll: In Deutschland ist jede fünfte Familie mit minderjährigen Kindern eine Alleinerziehendenfamilie. 17 Prozent aller Kinder leben in einem Haushalt mit nur einem Elternteil zusammen. Der andere, extern lebende Elternteil ist in unterschiedlichem Umfang in die Betreuung und Erziehung der Kinder involviert. Ob allein- oder getrennterziehend –geteilte Betreuung ist eine Realität für sehr viele Eltern und ihre Kinder, und es ist eine herausfordernde Realität. Familien müssen ihren Alltag nach Trennung, Scheidung oder dem Verlust eines Elternteils neu organisieren. Mitunter belastende Erfahrungen müssen verarbeitet und Familienbeziehungen neu gestaltet werden. In vielen Fällen kommen Auseinandersetzungen der Eltern, zum Beispiel zu Umgangsfragen und Unterhaltszahlungen, hinzu. Viele getrennte Eltern finden sich zudem in einer ökonomisch prekären Situation wieder. All das ist belastend und herausfordernd – nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Kinder. Sie müssen sich mit den Veränderungen in ihrer Lebenswelt, die sie sich nicht ausgesucht haben, arrangieren und neue Entwicklungsaufgaben meistern. Damit dies gelingt, brauchen diese Kinder und ihre Eltern Unterstützung. 

PD Dr. habil. Christina Boll  leitet die Abteilung „Familie und Familienpolitik“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI) und ist kooptiertes Mitglied der Kommission zur Erstellung des Zehnten Familienberichts. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an den Schnittstellen von Familie und Arbeitsmarkt im Lebensverlauf. Die promovierte Volkswirtin und habilitierte Soziologin ist zudem Gastprofessorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA).

Eine zentrale Forderung der Kommission ist es, Trennungsfamilien finanziell besser zu unterstützen. Warum ist das nötig? 

Aus unterschiedlichen Gründen erzielen alleinerziehende Eltern besonders häufig kein existenzsicherndes Einkommen und sind folglich oft auf Grundsicherungsleistungen angewiesen. Das monetäre Armutsrisiko von Alleinlebenden mit Kindern ist etwa dreimal so hoch wie jenes von Elternteilen in Paarbeziehungen. Besonders hoch ist das Risiko für alleinerziehende Mütter – und hier insbesondere für die, die über keinen beruflichen Abschluss verfügen. Das Armutsrisiko ist auch besonders erhöht, wenn das jüngste Kind im Haushalt unter drei Jahre alt ist. Die Möglichkeiten der Einkommenserzielung sind oft begrenzt, weil Qualifikationen fehlen oder/und die Familienaufgaben eine umfassendere Erwerbstätigkeit nicht ermöglichen. Zugleich geht geteilte Betreuung oft mit höheren Kosten einher: Zwei Wohnungen und das Pendeln von Eltern und Kindern zwischen zwei Haushalten müssen finanziert werden, Haushaltsgegenstände doppelt angeschafft werden, auch ein zweites Auto kann nötig werden. Gewohnte Freizeitaktivitäten und die Pflege von Freundschaften, die die soziale Teilhabe der Kinder sichern und die gerade in diesen Umbruchsituationen besonders wichtig sind, kosten ebenfalls Geld. All dies übersteigt in Summe oftmals die finanziellen Mittel der Eltern. 

Die Kommission des Zehnten Familienberichts fordert eine Neubestimmung des Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen.

Was schlagen Sie vor? 

In diesen Situationen muss der Staat existenzsichernde Sozialleistungen gewähren. Daher ist es richtig, die Leistungsbeantragung zu vereinfachen und dabei die Inanspruchnahme des Kinderzuschlags zu erhöhen. Das ist aber nicht genug. Die Sachverständigen-Kommission des neu erschienenen Zehnten Familienberichts fordert eine Neubestimmung des Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen, das in einem transparenten Verfahren realitätsgerecht ermittelt wird, an dem Kinder und Jugendliche angemessen zu beteiligen sind. Desweiteren sieht die Kommission Änderungen beim Unterhaltsvorschuss und beim steuerlichen Entlastungsbetrag für Alleinerziehende als notwendig an und spricht sich für eine bessere Abstimmung von Wohngeld und Kinderzuschlag aus. Ein weiterer Vorschlag ist, das Konzept der temporären Bedarfsgemeinschaft im Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) durch einen neu zu schaffenden pauschalierten Mehrbedarf für Kinder in temporären Bedarfsgemeinschaften getrenntlebender Eltern zu ersetzen, damit Kinder in beiden Haushalten angemessen versorgt werden können. 

Unbezahlte Sorgearbeit muss schon vor einer Trennung möglichst gerecht zwischen den Partnern aufgeteilt werden.

Die schwierige ökonomische Situation vieler Mütter nach Trennung hängt oft auch mit bereits vor der Trennung bestehenden finanziellen Problemen und deren Ursachen zusammen. Was schlägt die Kommission vor, um gegenzusteuern?

Oberstes Primat einer nachhaltigen Familienpolitik muss es sein, allen Familien Wege in die ökonomische Eigenständigkeit und damit aus dem Transferbezug zu bahnen. Die Kommission fordert, familienpolitische Regelungen lebenslaufkonsistent zu gestalten. Das bedeutet erstens, dass die Ressourcen von Eltern so gestärkt werden müssen, dass sie am Arbeitsmarkt einer existenzsichernden Beschäftigung nachgehen können. Das bedeutet zweitens, dass eine verlässliche, qualitativ hochwertige und bedarfsgerechte Betreuungsinfrastruktur diese Erwerbstätigkeit auch ermöglichen muss und drittens, dass Familienpolitik auf eine familiengerechte Arbeitswelt hinwirken sollte. Viertens bedeutet die Förderung ökonomischer Eigenständigkeit von Eltern, dass der Staat Fehlanreize abbauen muss, die einer egalitären Aufteilung der Sorgearbeit zwischen Müttern und Vätern derzeit im Wege stehen. Unbezahlte Sorgearbeit muss schon vor Trennung und Scheidung zwischen den Partnern möglichst gerecht aufgeteilt werden, damit Armutsrisiken durch eine Trennung oder im Todesfall rechtzeitig vorgebeugt wird. 

Welche konkreten Maßnahmen empfiehlt die Kommission?

Um die Elternressourcen zu stärken müssen familientaugliche Erst- und Weiterqualifikationsmöglichkeiten für Eltern geschaffen werden. Modelle wie Teilzeitausbildungen bieten etwa jungen Eltern ohne beruflichen Abschluss die Chance, ihre Erwerbs- und Einkommensperspektiven zu verbessern und sollten daher bekannter gemacht und breiter genutzt werden. Jobcentern kommt eine Schlüsselrolle bei Qualifikation und Arbeitsförderung zu. Die Kommission empfiehlt, dass Jobcenter proaktiv auch Eltern mit Kleinkindern Beratungsangebote zu Möglichkeiten der Erst- oder Weiterqualifikation sowie zur Erwerbstätigkeit unterbreiten müssen. 

Auch der weitere Betreuungsausbau ist ein Schlüsselfaktor für elterliche ökonomische Eigenständigkeit und Armutsvermeidung: Die Kommission empfiehlt, für alle Eltern mit Kindern ab dem Alter von einem Jahr bis zum Ende der Grundschule einen Rechtsanspruch auf acht Stunden institutioneller Betreuung in einer Kindertageseinrichtung, Tagespflege oder Ganztagsschule an allen fünf Werktagen einzuführen. Ein quantitativer Ausbau an Plätzen darf dabei nicht zu Lasten der Qualität gehen. 

Für eine familiengerechtere Arbeitswelt macht die Kommission ebenfalls Vorschläge. So spricht sie sich etwa dafür aus, dass das Arbeitsrecht eine stärkere familienzeitpolitische Gestaltungsfunktion erhält. Und die Kommission nennt konkrete Beispiele dafür, wie Fehlanreize abgebaut werden können: Das Ehegattensplitting oder die unentgeltliche Mitversicherung der nicht oder nur marginal erwerbstätigen Ehepartnerin beziehungsweise des Ehepartners in der gesetzlichen Krankenversicherung gehören auf den Prüfstand. Zudem sollten solche Leistungen weniger an die Ehe, sondern stärker an die Übernahme von Sorgearbeit geknüpft werden. 

Die Betreuung und Erziehung von Kindern ist die Aufgabe beider Eltern – vor wie nach einer Trennung. Es kann also nicht darum gehen, etwas, das selbstverständlich sein sollte, als besondere Leistung zu würdigen.

In immer mehr Familien in Deutschland kümmern sich auch nach der Trennung beide Elternteile intensiv um die Betreuung der Kinder. Wie lässt sich die stärkere Beteiligung der Väter politisch würdigen und fördern?

Zunächst einmal ist die Betreuung und Erziehung von Kindern die Aufgabe beider Eltern – vor wie nach einer Trennung. Es kann also nicht darum gehen, etwas, was selbstverständlich sein sollte, als besondere Leistung zu würdigen. Vielmehr muss Politik die Rahmenbedingungen so gestalten, dass eine intensive Einbindung beider Eltern in die Erziehungsaufgaben im Alltag auch tatsächlich machbar ist. Denn das ist der Wille sehr vieler Eltern, auch vieler Väter.

Hier sind mehrere Dinge gefragt. Zum einen gilt es, gesellschaftliche Vorbehalte abzubauen. „Normal“ muss sein, dass sich Väter nach Trennung weiter engagieren und nicht, dass sie sich zurückziehen. Auf soziale Normen, das Selbstverständnis von Müttern und Vätern in ihrer Elternrolle, hat Politik einen wirkmächtigen Hebel, wie beispielsweise die Forschung zum Elterngeld eindrücklich gezeigt hat. Dieser kann und sollte stärker genutzt werden, etwa durch aktive Aufklärungsarbeit in Geburtsvorbereitungskursen. 

Damit Familien diese neuen Modelle geteilter Betreuung auch wirklich leben können, müssen die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen angepasst werden. Die Kommission empfiehlt eine durchgreifende Reform des Familienrechts, durch die das Recht an neue Realitäten angepasst und die geteilte Betreuung systematisch geregelt wird. Darüber hinaus sollte der Gesetzgeber geteilte elterliche Betreuung über alle Rechtsgebiete – Melde-, Arbeits-, Sozial-, Steuer- und Familienrecht – hinweg verstärkt unterstützen und die Stimme der Kinder in familiengerichtlichen Verfahren stärker einbinden. 

Eltern trennen sich, weil sie sich nichts mehr zu sagen haben oder weil sie den ständigen Streit nicht mehr ertragen. In dieser Situation gemeinsam das passende Betreuungsmodell auszuhandeln, ist nicht einfach. In vielen Fällen wird weiter gestritten, was Kinder stark belastet. Erhalten Trennungsfamilien heute genug Unterstützung?

Wenn der gemeinsame Weg nicht mehr weiterführt, ist es besser, sich zu trennen als im Dauerstreit zu verharren. Eine Trennung sollte jedenfalls nicht ausschließlich deshalb vermieden werden, weil Eltern nicht wissen, wo sie Unterstützung und Antworten auf ihre Fragen erhalten. Digitale Beratungsangebote liefern heutzutage eine sinnvolle Ergänzung zu persönlichen Fachberatungsstellen vor Ort. So bietet beispielsweise die Plattform STARK Eltern in der Krise sowie getrennten Eltern umfassende Informationen zu rechtlichen und ökonomischen Themen, Rat und Hilfestellungen bei anstehenden Entscheidungen etwa zum Betreuungsmodell, zur Kommunikation mit den Kindern oder zum Umgang mit Konflikten, bis hin zu Online-Trainings für Elternpaare in Beziehungskrisen. Denn Eltern bleibt man ja ein Leben lang – es gilt, die Beziehung zum Ex-Partner beziehungsweise zur Ex-Partnerin in der Verantwortung für die gemeinsamen Kinder neu zu gestalten. Nicht zuletzt erfahren Eltern auf der Plattform auch, wohin sie sich vor Ort wenden können. Auch für Fachkräfte und Kinder gibt es auf der Plattform spezifische Angebote.

Politik muss auf Vulnerabilitäten Rücksicht nehmen und darf Eltern nicht im Stich lassen.

Neben Informationsdefiziten sind auch ökonomische Abhängigkeiten manchmal ein Grund, sich nicht zu trennen – insbesondere für Frauen, die sich zugunsten der Fokussierung auf Sorgearbeit über Jahre aus dem Erwerbsleben zurückgezogen hatten. Frauen müssen sich deshalb frühzeitig selbst um ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit kümmern. Und es ist wichtig, dass Familienpolitik sie dabei unterstützt. Politik muss auf Vulnerabilitäten Rücksicht nehmen und darf Eltern nicht im Stich lassen. Daher sind die genannten Reformen wichtig. Aber ebenso wichtig ist es, von vornherein trennungsbedingten materiellen Verwerfungen vorzubeugen – durch eine Politik, die aktive Elternschaft und Sorgearbeit von Müttern und Vätern schon in der Familiengründungsphase fördert. Reformen beim Elterngeld, wie die Kommission sie empfiehlt, könnten hier weitere wichtige Stimuli setzen, insbesondere für Väter. Wichtig ist aber auch, dass Politik für Familien „aus einem Guss“ ist – und alle Ressorts und föderalen Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – umfasst.


Im Februar steht die Bundestagswahl an. Haben Sie Sorge, dass die Empfehlungen der Familienberichtskommission in der aktuellen Situation untergehen und was erhoffen Sie sich von der neuen Regierung?

Da alle demokratischen Lager die Wichtigkeit empirisch fundierter Politik betonen, setze ich zuallererst darauf, dass die neue Regierung tatkräftig dazu beitragen wird, die von der Kommission beschriebenen erheblichen Datendefizite zur Erfassung der Vielfalt und der Bedarfe von Trennungsfamilien und zur Maßnahmenevaluation zu überwinden. Denn gerade in Zeiten knapper Kassen muss das Geld der Steuerzahlerinnen und -zahler ja mit Bedacht ausgegeben werden.


Vielen Dank für das Gespräch!

Interview: Birgit Lindner und Uta Hofele