Die zentralen Ideen und Ziele des Optionszeitenmodells


Frauen übernehmen in Deutschland immer noch den Großteil der unbezahlten Arbeit zu Hause, egal ob und in welchem Umfang sie erwerbstätig sind: erst bei der Kindererziehung, dann bei der Pflege von Angehörigen. Mit dem Ziel, eine gerechtere Aufteilung der Fürsorgearbeit unter den Geschlechtern zu erreichen, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und der Universität Bremen in einem Forschungsprojekt ein neues sozialpolitisches Modell entwickelt.

Atmende Lebensläufe statt durchgängige Vollzeitarbeit

Das „Optionszeitenmodell“ sieht vor, dass grundsätzlich allen Menschen in ihrem Erwerbsverlauf ein Zeitbudget von etwa neun Jahren zur Verfügung steht, das es ihnen ermöglichen soll, ihre Erwerbsarbeit zugunsten gesellschaftlich relevanter Tätigkeiten zu unterbrechen bzw. zu reduzieren und gleichzeitig während dieser Zeit finanziell abgesichert zu sein. „Das Optionszeitenmodell bedeutet den Abschied von der Norm der männlichen Erwerbsbiografie mit durchgängiger Vollzeitarbeit, die Unterbrechungen und Teilzeit als Abweichung kennzeichnet“, erklärt Dr. Karin Jurczyk, die das Forschungsprojekt „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“ am DJI und bis Ende 2019 auch die DJI-Familienabteilung leitete. „Demgegenüber sollen atmende Lebensläufe, also flexible und selbstbestimmte Berufsbiografien, ermöglicht werden.“

Mehr Zeit für Sorgearbeit in einer alternden Gesellschaft

Im Kern steht die Sorgearbeit, d.h. die Fürsorge für Kinder, Alte und Kranke, wobei diese nicht verwandt sein müssen. Anders als bei der Elternzeit soll es sich um ein an die Sorge leistende Person gebundenes Recht handeln. Denn durch den demografischen Wandel erhöht sich die Nachfrage nach Pflege, während sich das Potenzial an Pflegepersonen – beruflich und privat – verringert.

Geschlechtergerechte Aufteilung der Sorgearbeit

Das Optionszeitenmodell soll zudem eine verstärkte Teilhabe von Männern an der Sorgearbeit fördern: „Wird die Norm verändert, verändert sich auch das Verhalten – das hat die Einführung der Partnermonate bei der Elternzeit gezeigt“, sagt Dr. Shih-cheng Lien, Projektmitarbeiterin und wissenschaftliche Referentin am DJI. Ohne Aufwertung von Sorgearbeit, etwa durch eine bessere Bezahlung, wird dies aber kaum gelingen, ergänzt Dr. Martina Heitkötter, Projektmitarbeiterin und Grundsatzreferentin in der Fachgruppe Familienpolitik und Familienförderung am DJI. Für eine verlässliche Sorgestruktur müsse darüber hinaus die Infrastruktur im Bereich der Kindertagesbetreuung und Altenpflege ausgebaut werden.

Kontinuierliche Fortbilden in einer digitalisierten Arbeitswelt

Die Optionszeiten sollen Erwerbstätige über sogenannte Ziehungsrechte flexibel nach Bedarf nehmen können, sowohl durch Unterbrechungen als auch durch eine befristete Arbeitszeitverkürzung, die wiederum automatisch den Anspruchszeitraum verlängert. „Entsprechend müssen Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht angepasst werden, die derzeit auf den drei Phasen Bildung, Erwerb, Rente aufbauen“, betont der Jurist und Politikwissenschaftler Prof. em. Dr. Ulrich Mückenberger, Leiter des Forschungsprojekts an der Universität Bremen und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik (DGfZP). „Diese passen nicht mehr zur digitalisierten Arbeitswelt, die kontinuierliches Fortbilden erfordere“, kritisiert Mückenberger. Auch Weiterbildung bezieht das Optionszeitenmodell ein und berücksichtigt darüber hinaus die Selbstsorge als Grundlage für die Erwerbs- und Sorgefähigkeit und persönliche Entfaltung des Einzelnen.

Ein Recht auf etwa neun Jahre Optionszeiten für alle Menschen

Auf Basis von Auswertungen des Statistischen Bundesamtes zu Zeitverwendungen und -bedarfen für einzelne Tätigkeiten schlagen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor, jedem Menschen ein Recht auf insgesamt etwa neun Jahre Optionszeiten zu gewähren. Diese setzen sich zusammen aus circa sechs Jahren für Care, zwei Jahren für Weiterbildungen und einem Jahr für Selbstsorge. Das Zeitvolumen für Care wurde errechnet aus drei Jahren für Kinderbetreuung, ein bis zwei Jahren für Pflege sowie einem halben bis einem Jahr für Ehrenamt. Die Aufteilung zwischen diesen Sorgetätigkeiten hängt jedoch vom konkreten Bedarf ab.

Die Kosten trägt, wer am meisten profitiert

Auch für die Finanzierung hat das interdisziplinäre Team aus Rechts- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern eine Idee entwickelt: Die Kosten für die Optionszeiten, in denen die Arbeitszeit reduziert bzw. ausgesetzt wird, trägt die Stelle, die am meisten davon profitiert. Das bedeutet, dass Freistellungen für Sorgetätigkeiten sowie Ehrenämter, die der Gesellschaft und ihrer Reproduktion nützen, über öffentliche Gelder, sprich Steuern zu finanzieren sind. Auszeiten für Weiterbildung hingegen, die primär der beruflichen Qualifikation und damit den Unternehmen dienen, ist von diesen über Finanzierungspools zu tragen. Die Kosten für Zeiten der Selbstsorge solle entsprechend von den Individuen selbst übernommen werden. Für Geringverdiener bedarf es einer sozialen Sockelung in Form eines sogenannten situativen Grundeinkommens.

Rechte und Optionen könnte ein zentrales System verwalten

Bei der Frage, wie die Optionszeiten jedes Menschen über verschiedene berufliche Stationen hinweg verwaltet und wie verbrauchte und verfügbare Zeiten transparent gemacht werden können, denkt das Projektteam an das französische Konzept eines „persönlichen Aktivitätskontos“ (Compte Personnel d’Activité, kurz CPA). Dieses System zeigt, dass eine vom Parlament kontrollierte Instanz ein auf Transparenz und Portabilität angelegtes System von Rechten und Optionen aller arbeitenden Menschen administrieren kann. Etliche Aspekte sind noch zu klären, bevor das Optionszeitenmodell für die praktische Umsetzung bereit ist, etwa die Verträglichkeit mit betrieblichen Kriterien, die Kosten, die Einrichtung eines Fonds, oder die Effekte auf das Erwerbspotenzial.

Von der Idee bis zum Forschungsprojekt

Erstmals in eine breitere Öffentlichkeit gebracht wurde das Konzept des Optionszeitenmodells mit dem siebten Familienbericht, der im Jahr 2006 unter dem Titel „Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit“ veröffentlicht wurde. Karin Jurczyk hat das Konzept dort stark gemacht. Sie war Mitglied der Sachverständigenkommission, die mit dem Verfassen des Berichts vom Bundesfamilienministerium beauftragt worden war. Später entwickelte Jurczyk gemeinsam mit Ulrich Mückenberger das Konzept weiter. Zentral dabei war eine Veranstaltung der „Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik“, deren Mitbegründer Mückenberger ist, im Jahr 2016. Danach arbeiteten die beiden Wissenschaftler das Konzept konkret im Rahmen des Forschungsprojekts „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“ aus. Dieses wurde von April 2017 bis Oktober 2018 im Rahmen des "Fördernetzwerks interdisziplinäre Sozialpolitikforschung" (FIS) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert.

Der Abschlussbericht ist unter dem Titel „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“ erschienen und kann im PDF-Format kostenlos heruntergeladen werden.

Kontakt

Dr. Shih-cheng Lien
Abteilung Familie und Familienpolitik, DJI
lien@dji.de

Dr. Martina Heitkötter
Abteilung Familie und Familienpolitik, DJI
heitkoetter@dji.de

Uta Hofele
Abteilung Medien und Kommunikation, DJI
hofele@dji.de