Ungenutztes Homeoffice-Potenzial

Eine aktuelle Studie zeigt, dass 56 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland von zuhause aus arbeiten könnten.

 

Die Frage, wie viele Erwerbstätige in Deutschland grundsätzlich von zuhause aus arbeiten können, hat mit der COVID-19 Krise eine ökonomisch und politisch zentrale Relevanz erhalten. Die Möglichkeit, den Arbeitsplatz nach Hause zu verlegen, ist entscheidend, um die wirtschaftliche Aktivität aufrecht zu erhalten und gleichzeitig gesundheitliche Risiken während der Pandemie zu vermeiden. Doch wie viele der Beschäftigten in Deutschland können, zumindest teilweise, im Homeoffice arbeiten?

Die nun vorgelegte Studie zu Deutschlands Potenzial für Homeoffice von Jean-Victor Alipour, Oliver Falck und Simone Schüller zeigt auf, dass insgesamt 56 Prozent der Erwerbstätigen zumindest teilweise oder zeitweise ihre beruflichen Tätigkeiten von zuhause erledigen können. Weniger als die Hälfte von ihnen hatte bereits vor der COVID-19 Krise Erfahrung mit Homeoffice. Bei mehr als der Hälfte des Homeoffice Potenzials in Deutschland handelt es sich somit um bisher ungenutzte Kapazität.
 

Homeoffice Potenzial

Bisher hatte die Machbarkeit von Homeoffice in der Forschung kaum Relevanz. Vor der Pandemie war es in der Arbeitswelt kaum vorstellbar, dass ein hypothetisches Homeoffice-Potenzial in Deutschland genutzt werden könnte. Bei weitem nicht jeder Arbeitgeber genehmigte es den Mitarbeitenden zuhause zu arbeiten und nicht jeder Arbeitnehmende nutzte diese Angebote. Deutschland lag deshalb bis vor Kurzem noch deutlich unter dem Europäischen Durchschnitt der Homeoffice-Nutzung, während beispielsweise in Schweden oder den Niederlanden schon mindestens jeder Dritte Erfahrung mit dem Arbeiten zuhause hatte. Vermutlich beruht diese Diskrepanz nicht allein auf dem in Deutschland relativ höheren Anteil des produzierenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung, sondern ist auch auf kulturelle Besonderheiten, beispielsweise einer ausgeprägten Präsenzkultur in deutschen Unternehmen zurückzuführen.

Aufgrund der COVID-19 Krise und dem Gebot der sozialen Distanzierung sei anzunehmen, dass kulturelle Widerstände gegen das Arbeiten im Homeoffice, sowohl von Arbeitgeber- als auch von Arbeitnehmerseite, zunächst in den Hintergrund getreten sind, sagt Simone Schüller, wissenschaftliche Referentin der Abteilung „Familie und Familienpolitik“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Auch technische Hürden, wie eine unzureichende betriebliche IT-Infrastruktur, würden im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten abgebaut.
 


Die neuartige Berechnungsmethode

In ihrer Studie stellen Jean-Victor Alipour (Doktorand der Munich Graduate School of Economics am ifo Institut), Oliver Falck (Professor für Volkswirtschaftslehre, insbs. Empirische Innovationsökonomik, an der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem ifo Institut) sowie Simone Schüller (wissenschaftliche Referentin am DJI) ein neues Maß für die Obergrenze des Homeoffice-Potenzials in Deutschland vor. „Bisherige Studien vertrauen in der Frage, ob bestimmte berufliche Tätigkeiten im Homeoffice ausgeführt werden können oder nicht auf Annahmen von Experten. Wir setzen nun auf die Bewertung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst, die ihren Job am besten kennen. Insgesamt ergibt sich nach der Selbsteinschätzung der Beschäftigten ein größeres Homeoffice Potenzial,“ erläutert die Wissenschaftlerin das Alleinstellungsmerkmal der Untersuchung.

Ein Beispiel hierfür sind Berufstätige in der Land-, Tier- und Forstwirtschaft, die einen Großteil ihrer Arbeitszeit im Freien verbringen. Erstaunlicherweise waren hier bereits vor der Corona-Krise 15 Prozent zumindest gelegentlich im Homeoffice tätig. Die Forscherin erklärt: „Nach unseren Berechnungen könnten maximal 30 Prozent prinzipiell zuhause arbeiten. Anhand der Experten-Methode käme man jedoch nur auf 5 Prozent. Wir nehmen an, dass unser Ansatz eher an die reale Arbeitssituation der Beschäftigten herankommt.“

Die in der Studie berechnete Obergrenze des Homeoffice Potenzials gibt Aufschluss darüber, wie viele Beschäftigte in Deutschland während der Krise keine ihrer Kerntätigkeiten, auch nicht zeitweise, von zuhause tätigen können. „Wir nehmen an, dass diese Erwerbstätigen am stärksten von den wirtschaftlichen Konsequenzen der aktuellen Einschränkungen betroffen sind und sein werden,“ ergänzt Simone Schüller. In der Tat zeigt sich, dass in Regionen mit relativ hohem berechneten Homeoffice Potenzial bisher systematisch weniger Kurzarbeit registriert wurde.
 

Datenbasis für die Berechnungen

Für die Berechnung der Homeoffice-Kapazität für Gesamtdeutschland nutzten die Autoren der Studie Umfragedaten von über 17.000 Erwerbstätigen der Erwerbstätigenbefragung 2018 des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). In Kombination mit Beschäftigungszahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) aus dem Jahr 2019 kann darauf basierend das Potenzial für Heimarbeit deutschlandweit und für die verschiedenen Branchen und Regionen bestimmt werden.

Diese Daten erlauben es, Kapazitäten auf regionaler sowie auf Branchen-Ebene zu berechnen. Hier zeigt sich ein deutliches West-Ost sowie Stadt-Land Gefälle. Die Kapazitäten für Homeoffice können zudem nach Bildungsniveau, Einkommen, Geschlecht und Familienstand von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern berechnet werden. Hier wird deutlich, dass hauptsächlich Hochverdiener mit akademischem Bildungsabschluss von zuhause arbeiten können. Frauen weisen insgesamt eine deutlich höhere Homeoffice-Kapazität auf als Männer, wobei sich dieser Unterschied hauptsächlich aus bisher ungenutztem Homeoffice-Potenzial speist. In der tatsächlichen Homeoffice Nutzung vor der COVID-19 Krise unterscheiden sich Männer und Frauen kaum. “Frauen, und insbesondere Mütter von Kindern im betreuungsbedürftigen Alter, haben ein etwas höheres Homeoffice Potenzial als Männer. Mütter sind somit zwar etwas stärker vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise geschützt, riskieren aber gleichzeitig eine nicht unerhebliche Doppelbelastung zwischen Beruf und Familienarbeit solange Kitas und Schulen nicht zum Regelbetrieb zurückkehren,” erklärt die Expertin.

Familien spielen in der derzeitigen Diskussion um Homeoffice-Fähigkeit eine besondere Rolle, da die Maßnahmen zur Ausbreitungs-Bekämpfung von COVID-19 auch die Schließung von Betreuungseinrichtungen und Schulen umfassen. Auf den ersten Blick scheinen Erwerbstätige mit betreuungsbedürftigen Kindern eine höhere Homeoffice-Kapazität als Erwerbstätige ohne junge Kinder aufzuweisen. Dieses Ergebnis relativiert sich etwas, sobald die intra-familiäre Situation dieser Erwerbstätigen berücksichtigt wird. Inwiefern Erwerbstätige mit jungen Kindern ihre Tätigkeit im Homeoffice ausüben können, hängt vor allem auch von der Betreuungskapazität des Partners ab. Alleinerziehende ohne Partner haben große Schwierigkeiten zuhause zu arbeiten.

Die Bestimmung der Obergrenze des Homeoffice-Potenzials nutzt auch der Vorbereitung auf künftige Pandemien. Das Arbeiten zuhause wird auch in Zukunft ein wichtiger Bestandteil sozialer Distanzierung sein. Daher ist auch aus diesem Grund im Nachgang der akuten COVID-19 Krise zu analysieren, in welchen Branchen Nachbesserungsbedarf bestehen könnte, beispielsweise im Bereich der betrieblichen IT Infrastruktur, um bisher ungenutztes Potenzial für Homeoffice künftig effektiver auszunutzen.

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Kernaussagen der Studie „Germany’s Capacities to Work from Home“

  • Maximal 56 Prozent der abhängig Beschäftigten in Deutschland könnten berufliche Tätigkeiten zu Hause ausführen.
  • Dieses Homeoffice Potenzial wurde bis zur Corona-Krise nur etwa zur Häfte ausgeschöpft.
  • Das Homeoffice Potenzial fällt stark zwischen städtischen und ländlichen Gebieten sowie zwischen West- und Ostdeutschen Landkreisen ab.
  • Hauptsächlich Hochverdiener und -verdienerinnen mit akademischem Bildungsabschluss können von Zuhause arbeiten; Niedrigverdiener und -verdienerinnen sowie Frauen verzeichnen verhältnismäßig ein höheres unausgeschöpftes Potenzial
  • In Regionen mit relativ hohem berechneten Homeoffice Potenzial wurde bisher systematisch wenigerKurzarbeit registriert.

Kontakt

Dr. Simone Schüller
Wissenschaftliche Referentin, Abteilung „Familie und Familienpolitik“
Tel. +49 89 62306-24
schueller@dji.de

Marion Horn
Abteilung Medien und Kommunikation
Tel. +49 89 62306-311
horn@dji.de